KAPITEL DREI
Besuche
Er hatte nie zuvor ein Gefängnis von innen gesehen und erst recht keine Nacht darin verbracht.
Es stellte sich als eine recht freizügige Angelegenheit heraus, denn die meisten Insassen durften ungehindert innerhalb der Mauern herumspazieren. Es gab sogar so etwas wie eine Taverne für diejenigen, die das nötige Geld besaßen, und eine Kantine, die besseres Essen als den Haferschleim verkaufte, der draußen im Hof ausgeteilt wurde. Im Großen und Ganzen hielten sich die Wächter – die in der Mehrzahl selbst Gefangene waren – zurück und überließen die übrigen Insassen sich selbst.
Nico suchte sich in einer der Zellen, von denen es viele in dem Labyrinth unter dem Haupthof gab, eine freie Ecke. Er saß auf einer Lage fauligem, von Läusen heimgesuchtem Stroh, und eine einzelne Öllampe über der Tür spendete Licht. Das Stroh stank nach altem Urin, und er sah, wie Kakerlaken darin umherhuschten.
Diese Zelle beherbergte noch andere Diebe und Schuldner, von denen einige so jung wie Nico oder sogar jünger waren. Seine Mitgefangenen schenkten ihm kaum Aufmerksamkeit; sie kamen und gingen und blieben selten lange im Raum. Dafür war Nico dankbar, der in seiner Ecke hockte und sich um seinen schmerzenden Körper kümmerte. Dabei kreisten seine Gedanken wie dunkle flatternde Vögel, die darauf aus waren, ihn zu quälen. Auch wenn er sich dagegen wehrte, musste er doch immer wieder an sein Zuhause und an seine Mutter denken.
Sie wäre entsetzt, wenn sie je erfahren sollte, was aus ihm geworden war: ein gewöhnlicher Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Sie würde unsagbar wütend auf ihn sein.
Doch seine Mutter war auch nicht gerade unschuldig. Wenn er sich überlegte, wie er in diese missliche Lage geraten war, kam er zu dem Schluss, dass sie dafür ebenfalls verantwortlich war. Sie hatte ihr leeres Leben unbedingt mit einer ganzen Reihe von unpassenden Liebhabern anfüllen müssen. Sie hatte die Feindseligkeiten zwischen Loos und ihrem Sohn absichtlich nicht beachtet, Nico somit aus dem Haus getrieben und letztendlich in die gegenwärtige Situation gebracht.
Loos war nur ein weiterer in der langen Reihe von Mutters schlecht gewählten Liebhabern gewesen. Eines Nachts hatte sie ihn aus der Taverne an der Wegkreuzung mitgebracht. Er hatte in feiner Kleidung gesteckt, die viel zu groß für ihn war – es handelte sich eindeutig um Diebesgut – und das Innere der Hütte betrachtet, als würde er den Wert jedes einzelnen Gegenstandes einschätzen. Es war offensichtlich, dass er sich an jenem Abend an sie herangemacht hatte. Das Paar hatte es so laut im Schlafzimmer getrieben, dass Nico gezwungen gewesen war, sein Bettzeug hinaus in den Stall zu tragen und bei ihrem alten Pferd Glückel zu schlafen.
Er hasste sie für diese Schwäche, die sie gegenüber Männern zeigte. Er wusste, dass sie ihre Gründe dafür hatte und er sie eigentlich nicht für das verantwortlich machen durfte, was aus Mutter und Sohn geworden war. Aber so war es nun einmal, und er konnte nichts dagegen tun.
Das war der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen, und der Rest ging im Schock der Benommenheit unter. Mit dem Einsetzen der Nacht, das in diesem Gefängnis nicht durch das abnehmende Tageslicht, sondern durch das Löschen der Lampen und das Zuschlagen ferner schwerer Türen eingeleitet wurde, nahm der hier herrschende Gestank an Heftigkeit zu; es war ein erstickender Pesthauch, der den Geruch von Menschentieren mitbrachte, die bereits zu lange in ihrem eigenen Schmutz lagen. Es wurde so schlimm, dass sich Nico sein Halstuch um Mund und Nase band. Das half ein wenig, und gelegentlich lehnte er sich zur Seite und hob es leicht an, damit er den fauligen Geschmack ausspucken konnte, der sich immer wieder auf seiner Zunge ansammelte.
Es schien, dass der Waffenstillstand, der tagsüber zwischen den Insassen zu herrschen schien, während der langen Stunden in Schwärze verschwand. In einer anderen Zelle brach ein Kampf aus, Schreie und Buhrufe waren zu hören und danach das lange, klagende Geheul eines Mannes in großen Schmerzen, das schließlich zu einem Schluchzen wurde und am Ende ganz erstarb. Eine Zeit lang ertönte ein dumpfes Klopfen an der Steinwand hinter ihm, als ob jemand auf der anderen Seite andauernd den Kopf gegen die Wand schlug, während er bei jedem Aufprall gedämpfte Worte rief, die vielleicht lasst mich raus, lasst mich raus bedeuteten.
An einem solchen Ort konnte Nico nicht schlafen. Aber er war müde, erschöpft von den Ereignissen des Tages und dem Gedanken an das, was noch vor ihm lag. Also lag er wach da und lauschte dem Schnarchen seiner Zellengenossen, wischte hin und wieder eine Kakerlake von seinem Körper und verfluchte sich, weil er mit Kumpel in diese Stadt gekommen war und sich auf Lena und ihre dummen Ideen eingelassen hatte.
Er hatte gewusst, dass er ihr nicht vertrauen konnte, denn sie hatte sich in seiner Gegenwart ziemlich gewissenlos benommen. Er fragte sich, was sie wohl gerade tat. Machte es ihr etwas aus, dass er von den Wachen ergriffen und ins städtische Gefängnis geworfen worden war, wo er auf seine Bestrafung wartete? Er bezweifelte es.
Nico starrte in die Finsternis. Er wusste nur zu gut, wie man in dieser Stadt mit Dieben verfuhr und bemühte sich vor allem, nicht an sein Schicksal zu denken. Beim letzten Erntefest hatte er gesehen, wie ein Dieb für sein Verbrechen ausgepeitscht und gebrandmarkt worden war. Der junge Straftäter war nicht viel älter als Nico gewesen.
Nico wusste nicht, ob er eine solche Bestrafung durchstehen würde.
Später in der Nacht schreckte er aus einem benommenen Schlummer hoch und spürte, wie sich eine Hand gegen sein Bein drückte und ein Gesicht aus geringer Entfernung fauligen Atem in sein eigenes blies. Ruckartig setzte er sich auf, drückte das Gewicht des unsichtbaren Mannes von sich herunter und rief etwas, das eher ein Angstschrei als deutliche Worte war. Ein gemurmelter Fluch drang aus der Düsternis sowie das Rascheln von jemandem, der sich hastig zurückzog.
Er rieb sich das Gesicht, damit er wieder vollkommen wach war, und kauerte sich gegen die Wand.
Er musste unbedingt hier rauskommen. In diesem luftleeren Raum mit dem ekelhaften Gestank konnte er kaum atmen. Die Schwärze bedrückte ihn wie ein Laken aus schwerem Samt. Er fühlte sich gefangen und wusste, dass er bis zum Morgen nicht einfach aufstehen und herumgehen konnte und weder den Himmel sehen noch die frische Luft auf dem Gesicht spüren würde. Eine Erinnerung oder eher der Gedanke an ein tiefes Gefühl beschlich ihn. Während er einmal in den Bergen oberhalb der Hütte umhergewandert war, hatte er eine Falle gefunden – eine zugezogene Drahtschleife, in der sich das abgetrennte Bein eines wilden Hundes befunden hatte. Das Fleisch hatte noch in Fetzen am Beinknochen gehangen, der glatt durchgebissen worden war.
Das Geräusch schlurfender Füße in der Finsternis: Jemand näherte sich ihm wieder. Nico versteifte sich und war bereit loszuschlagen.
Ich werde dir das Fleisch mit den Zähnen von den Knochen reißen, wenn du mich anfasst, dachte er.
»Ganz ruhig«, ertönte eine Stimme. »Ich bin dein Freund.«
Ein Mann setzte sich neben ihn, und Nico hörte, wie er mit den Händen in seiner Kleidung herumsuchte.
Eine Flamme wurde in der Dunkelheit entzündet, und zuerst war sie so hell, dass Nico den Blick abwenden musste. Er blinzelte und schirmte sein Gesicht mit dem Handrücken ab. Einen Moment lang zischte und flackerte die Flamme, als das geschwärzte Ende eines Zigarillos in Brand gesetzt wurde und rot aufglühte. Dann blies der Mann das Streichholz aus und stürzte sie zurück in eine Finsternis, die noch tiefer als zuvor war.
»Weißt du, ich liege schon die ganze Nacht wach und frage mich, warum ich dein Gesicht zu kennen glaube.« Die rote Spitze des Zigarillos zog Schlieren durch die Dunkelheit und leuchtete stärker auf, als der Mann einen tiefen Zug nahm. Die Ränder seines Gesichts wurden erhellt, während die Höhlungen in Schatten getaucht waren.
»Dein Vater«, sagte er und stieß den Rauch aus. »Ich habe deinen Vater gekannt.«
Nico blinzelte; in seinen Augen schwammen noch immer etliche Farbtupfer. »Natürlich hast du das«, sagte er sarkastisch.
»Nenn mich nicht einen Lügner, Junge. Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Dein Vater war mit einer Rothaarigen namens Reese verheiratet. Eine gut aussehende Frau, wenn ich mich recht erinnere.«
Nico nahm die Hand vom Gesicht und verbarg seine Wut für den Augenblick. »Ja, das ist meine Mutter«, bestätigte er. »Du hast ihn wirklich gekannt?«
»So gut wie niemanden sonst. Ich habe mit ihm zwei Jahre lang unter den Mauern gekämpft.«
»Du warst in der Sondereinheit?«
»Aber sicher. Auch wenn das jetzt ein ganzes Leben her zu sein scheint, Dank sei dem Narren. Ich verdiene mein Geld – nicht viel allerdings – damit, Hastel zu spielen. Wenn ich meine Schulden nicht bezahlen kann, muss ich eine Weile hierbleiben.« Der Mann rieb sich mit der Hand über das Stoppelkinn. »Und was ist mit dir? Was hat dich in diese Lage gebracht?«
Nico verspürte nicht den Wunsch, diese ganze traurige Angelegenheit vor einem Fremden auszubreiten. »Mein Heiler hat gesagt, es wäre gut für meine Lunge, also komme ich von Zeit zu Zeit hier herunter.«
»Den Vater war ebenfalls ein Witzbold«, erwiderte die Stimme ohne eine Spur von Humor. »Das habe ich an ihm geschätzt.«
Nico nahm in diesen Worten eine gewisse Schärfe wahr und wartete darauf, dass der Mann weitersprach. Der Tabakrauch kräuselte sich um sein Gesicht; der Duft war angenehm an diesem Ort der Fäulnis. Er erinnerte Nico an Nächte beim Lagerfeuer in einem Park oder leeren Gebäude zusammen mit Lena und den anderen, die er in der Zeit seiner Obdachlosigkeit kennengelernt hatte. Nico hatte Witze gerissen und zugesehen, wie die Flaschen billigen Weins und die Zigaretten aus Teerkraut zwischen ihnen gekreist waren. Er hörte noch das raue Gelächter, während der warme Lichtkreis den schwierigen Tag, der unausweichlich vor ihnen lag, zurückdrängte. »Wir sind nicht immer einer Meinung gewesen«, fuhr der Mann in seiner langsamen, verbitterten Sprechweise fort. »Er hat mir einmal vorgeworfen, ich hätte beim Hastelspiel betrogen. Aber dabei konnte er’s natürlich nicht belassen. Musste mich unbedingt vor der ganzen Schwadron bloßstellen. Dein Vater hat mich ’ne Menge Geld gekostet. Hab’s dem Mann aber heimgezahlt. «
Es folgte ein Husten, das auch trockenes Gelächter hätte sein können.
»Um ehrlich zu dir zu sein, hat’s mich nicht sonderlich überrascht, als er sich aus dem Staub gemacht hat und desertiert ist. Als ich seinen ängstlichen Blick zum letzten Mal gesehen hab’, war mir klar, was er dachte. Ich hab’s so klar wie am helllichten Tag gesehen.«
Nico biss die Zähne zusammen. Seine Nasenflügel bebten. Er holte tief Luft und sagte kühl: »Mein Vater war kein Feigling.«
Wieder dieses Husten. »Das hab ich damit auch nicht gemeint. Jeder ist ein Feigling, wenn’s drauf ankommt, außer den Verrückten. Manche haben bloß mehr Angst als andere, das wollte ich sagen.«
Nicos Atmen war nun so laut, dass es über dem Schnarchen der anderen deutlich zu hören war.
»Ganz ruhig. Ich will nur reden, und Reden ist keinen Streit wert. Hier, nimm ’nen Zug.«
Nico beachtete das brennende Ende des Zigarillos nicht, das der andere ihm vors Gesicht hielt.
Stattdessen dachte er an seinen Vater: an die große, aufrechte Gestalt aus seiner Erinnerung, mit langen Haaren und freundlichen Augen, und an seine sanften Worte. An denselben Mann, wie er wild lachte, einen Bierkrug in der Hand hielt und seine Mutter um die Hüfte packte, weil er mit ihr tanzen wollte, oder wie er seine Sitare nahm und ein schlecht komponiertes Lied darauf spielte. An den Ausflug, den sie beide in die einsamen Berge gemacht hatten. An einen sonnigen Narrentag, als er Nico mit an irgendeinen Strand genommen hatte, damit er selbst aufs Meer hinausschauen konnte, während Nico im Ufersand spielte.
Nico war zehn Jahre alt gewesen, als sich sein Vater bei der Sondereinheit verpflichtet hatte. Es hieß, der Feind bedränge die Stadt schlimmer denn je. Jeden Tag wurde irgendein neuer mhannischer Tunnel entdeckt, oder die Mhannier brachen in die unterirdischen Verteidigungsanlagen ein. Die Sondereinheiten hatten große Verluste erlitten und brauchten dringend Freiwillige.
Jeweils einen ganzen Monat lang war Nicos Vater in die Stadt gegangen und hatte unter den Mauern des Schildes gekämpft, danach war er immer als veränderter Mann heimgekommen. Bei jeder Rückkehr war er schweigsamer und weniger ansehnlich gewesen.
Einmal hatte er ein Ohr verloren, und nur eine Öffnung war auf dieser Seite seines Kopfes verblieben. Doch Reese hatte ihn trotzdem umarmt und so laut zärtliche Worte in sein verletztes Ohr gemurmelt, dass Nico es hören konnte. Sie hatte seinem Vater gesagt, wie erleichtert sie sei, dass er noch lebte. Ein anderes Mal hatte sein Vater mit einem Verband um den Kopf vor der Tür gestanden. Als er diesen einige Tage später abgenommen hatte, hatte es so ausgesehen, als ob ein Hund sein verbliebenes Ohr angebissen hätte. Mit der Zeit verblassten seine Augenbrauen, bis sie ganz verschwunden waren. Sein langes Haar wurde zu einem Stoppelfeld. Narben zogen sich kreuz und quer über Kopfhaut, Gesicht und Lippen. Er zog die einst so breiten Schultern hoch, als wäre ihm andauernd kalt.
Nicos Mutter versuchte ihr Entsetzen über diese Veränderungen an dem Mann, den sie liebte, zu verbergen, aber oft verriet sie ein unbedachter Gesichtsausdruck.
Als sein Vater schließlich zu seinem ersten langen Heimaturlaub vom Schild zurückgekehrt war, hatte Nico den Mann, der seinen Sohn wie einen Fremden beäugte, kaum mehr wiedererkannt. Er saß draußen im Regen, lächelte nie, sprach selten und trank viel. In der Hütte verbreitete sich bald eine furchtbare Atmosphäre. Nicos Vater brüllte bei den kleinsten Unannehmlichkeiten los, und Nico wurde immer angespannter und erwartete nichts anderes mehr als Ärger.
Er gewöhnte sich an, mit Kumpel draußen herumzustreifen. Die beiden durchwanderten den Wald und das Land um die Hütte herum. Wenn das Wetter schlecht war, blieb Nico in seinem Zimmer, hielt die Tür geschlossen und rief sich die Erzählungen, die er kannte, in Erinnerung oder die Aufführung von Die Geschichten des Fisches , die er manchmal bei seinen Besuchen in der Stadt gesehen hatte, und verbrachte so die Zeit mit müßigen Fantasien.
Eines Nachts trank sich sein Vater in eine so verzehrende Wut, dass er Nicos Mutter angriff und sie an den Haaren im Zimmer herumschleifte, während Nico schrie und ihn anbettelte, er möge aufhören. Er schlug Nico zu Boden. Dann hörte er plötzlich auf, schaute hinunter auf seinen Sohn, bemerkte dessen Entsetzen und stolperte hinaus in die Nacht.
Am nächsten Morgen kam sein Vater zurück, packte seine persönlichen Habseligkeiten und ging wieder, während Nico und seine Mutter noch aneinanderge-schmiegt in dem kleinen Kinderbett schliefen. Nico fühlte sich, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre. Seine Mutter hatte noch lange danach geweint.
Nun ballte Nico die Fäuste in der Finsternis der Zelle und seufzte. »Er hatte seine Gründe, uns zu verlassen«, sagte er zu dem unsichtbaren Mann.
Der Zigarillo glühte an der Spitze auf, qualmte, verschwand.
»Ob Angst oder nicht, du weißt es besser als jeder andere, darauf könnte ich wetten.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass das Blut des Vaters auch durch den Sohn fließt. Was für ihn gilt, gilt auch für dich.«
Nico spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Er wandte sich von dem Fremden ab, wollte nichts mehr von ihm sehen oder hören.
Rufe hallten aus einer anderen Zelle herbei; die Worte waren kaum verständlich. Ein Wahnsinniger schrie, die Mhannier kämen übers Meer und würden sie alle bei lebendigem Leibe verbrennen.
Das Glühen des Zigarillos verschwand rasch, als der Besucher ihn auf seiner Handfläche ausdrückte. Mit einem Grunzen erhob er sich, blieb reglos stehen und murmelte etwas in sich hinein. Als er sich wieder Nico zuwandte, suchte seine schwere Hand die Schulter des Jungen und klopfte darauf.
»Du bist in Ordnung, Junge«, sagte der Mann. »Du kannst jetzt schlafen.«
Er ging, und der Duft des Rauchs kräuselte sich noch ein wenig dort, wo er gesessen hatte.
Danach wurde Nico von niemandem mehr belästigt.
Seine Mutter kam am Morgen, ganz in Schwarz gekleidet, als ob sie zu einer Beerdigung gehen würde. Ihre Augen waren verweint, und das fest um den Kopf gelegte rote Haar verlieh ihren Zügen etwas Verhärmtes, Verbissenes. Es war das erste Mal seit mehr als einem Jahr, dass Nico sie sah.
Loos war bei ihr. Er steckte in seinen besten Kleidern und gab vor, rechtschaffen entsetzt über das zu sein, was der kleine Nico getan hatte. Es war Loos, der als Erster sprach, als sie sich durch die Gitterstäbe ansahen, die die Gefangenen von den Angehörigen in dem schwach erhellten, kalten Besuchsgewölbe trennten.
»Du siehst schrecklich aus«, sagte er.
Nico fehlten die Worte. Seine Mutter und Loos waren die letzten Menschen, die er hier zu sehen erwartet hatte.
»Wie habt ihr es erfahren?«, fragte er seine Mutter mit leiser Stimme.
Sie näherte sich ihm und schien die Hand nach ihm ausstrecken zu wollen, doch daran wurde sie durch die Gitterstäbe gehindert, und plötzlich flackerte Wut in ihren Augen auf.
Mit kalter Stimme erwiderte sie: »Der alte Jaimena hat gesehen, wie du von den Wachen durch die Stadt geschleift wurdest, und er war so freundlich, zu mir hinaus zu reiten und es mir zu sagen.«
»Oh«, meinte Nico.
»Oh? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
Ihr Zorn war wie ein Lufthauch, der gegen sein Gesicht blies; er fachte erneut die Glut an, die seit dem Tag, an dem Nico die Hütte verlassen hatte, in ihm geschmort hatte.
»Ich habe dich nicht gebeten, herzukommen«, fuhr er sie an. »Und ihn auch nicht.«
Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, und Loos trat an ihre Seite, während er Nico einen harten Blick schenkte.
Nico erwiderte diesen Blick. Er wollte verdammt sein, wenn er als Erster wegsah.
Seine Mutter wollte etwas sagen, doch sie zögerte. Plötzlich sackten ihre Schultern herab, und ihre Rüstung zerbrach. Eine Hand wurde zwischen die Gitterstäbe gestreckt. Nico spürte sie an seinem Nacken; die Finger packten ihn und zogen seinen Kopf nach vorn in eine Umarmung, zwischen der das kühle Metall stand.
»Mein Sohn«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »was hast du getan? Ich habe dich nie für einen Dieb gehalten.«
Er war überrascht, als er Tränen in seinen Augen spürte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich war verzweifelt und stand kurz vor dem Verhungern.«
Sie machte ein besänftigendes Geräusch und streichelte sein Gesicht. »Ich habe mir so große Sorgen um dich gemacht. Immer wenn wir in der Stadt waren, habe ich nach dir Ausschau gehalten, aber alles, was ich gesehen habe, waren hungernde Menschen. Ich habe mich gefragt, wie es dir gelingen sollte, hier zu überleben.«
Zitternd holte er Luft. »Kumpel …«, brachte er heraus. »Kumpel ist tot.«
Ihr Griff um seinen Hals wurde fester. Sie weinte. Er weinte mit ihr. Nun war seine Benommenheit verschwunden, und angesichts dieser geteilten Schmerzen ließ er seinen Gefühlen freien Lauf.
Die Tür zum Besucherbereich wurde geöffnet, und eine Gestalt trat ein. Nico hob den Blick, wischte sich die Tränen aus den Augen – und ihm fiel der Unterkiefer herunter.
Es war der Farlander, der alte Mann, dem er am vergangenen Nachmittag das Geld gestohlen hatte.
Der Neuankömmling stand auf der Schwelle, hielt den Kopf schräg, und in seiner Hand befand sich ein Lederbecher mit dampfendem Chee. Er war kleiner, als er im Bett gewirkt hatte. Mit dem geschorenen Kopf und der schwarzen Robe wirkte er wie ein Mönch – allerdings wie ein sehr seltsamer Mönch, denn in der anderen Hand trug er ein Schwert in der Scheide. Nicos Mutter machte sich von ihm los und sah den Fremden ebenfalls an.
Der Mann bewegte sich geschmeidig über den Steinboden und blieb vor Nico und seinen Besuchern mit einer Bewegung stehen, die der schaukelnden Oberfläche des Chee in seinem Becher nicht unähnlich war: aufgewühlt und gelassen zugleich.
Aus der Nähe hatten die Augen des Farlanders die Farbe von toter Asche, auch wenn ihr Blick sehr eindringend war. Fast hätte Nico einen Schritt nach hinten gemacht. Nichts war mehr zu sehen von dem verwirrten alten Mann, der aus seinen Träumen aufgewacht war und sich umgeschaut hatte, als wäre er blind.
»Ist das der Dieb?«, wollte er von Nicos Mutter wissen.
Sie wischte sich die Augen trocken und richtete sich auf. »Das ist mein Sohn«, verkündete sie, »und er ist eher ein Narr als ein Dieb.«
Einige Sekunden lang betrachtete der Mann Nico kühl, als würde er einen Hund mustern, den er zu kaufen gedachte. Er nickte. »Dann will ich ein Wort mit dir reden.«
Er ging zu einem der Schemel, die in der Mitte des Gewölbes standen, und setzte sich. Den Rücken hielt er dabei ganz gerade, und das Schwert lag quer auf seinem Schoß. »Ich bin Asch«, verkündete er. »Egal ob er ein Narr ist oder nicht, dein Junge hat mein Geld gestohlen.«
Nicos Mutter schien zu spüren, dass nun so etwas wie der geschäftliche Teil kam, und sie wurde wieder so ruhig und gelassen wie üblich. Sie setzte sich vor den Farlander auf einen weiteren Schemel. »Reese Calvone«, stellte sie sich ihm vor.
Loos trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er war offensichtlich angespannt. Sie schob die Hand beiseite, und er zog sich zur gegenüberliegenden Wand zurück – so nahe bei der Tür, wie es ihm möglich war. Er beobachtete die beiden still aus den Augenwinkeln heraus.
»Dein Sohn wird ausgepeitscht und gebrandmarkt werden«, fuhr der alte Mann fort, »so wie es hier bei euch üblich ist. Ich habe gehört, dass auf einfachen Diebstahl fünfzig Peitschenhiebe stehen.«
Reese nickte, als ob es eine Frage an sie gewesen wäre.
»Das ist eine harte Sache.«
Ihre grünen Augen verengten sich, und sie warf einen raschen Blick auf Nico, bevor sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder auf den Fremden vor ihr richtete.
»Du nimmst es gelassen auf«, bemerkte er.
»Bist du hergekommen, um dich diebisch darüber zu freuen, alter Mann?«
»Wohl kaum. Um den Sohn kennenzulernen, wollte ich zuerst die Mutter kennenlernen. Das könnte deinem Jungen helfen.«
Reese schaute herunter auf ihre Hände, und Nico folgte ihrem Blick. Es waren schwielige Arbeiterinnenhände, bedeckt mit den Narben und Brandwunden vieler Jahre. Sie sahen älter aus als ihr Gesicht, das selbst jetzt, trotz all der Tränen und Sorgen, noch immer hübsch war. Sie atmete tief ein, bevor sie sagte: »Er ist mein Sohn, und ich kenne sein Herz. Ich weiß, dass er es aushalten wird.«
Nico wandte den Blick von seiner Mutter ab und richtete ihn auf den alten Mann, dessen kantiges Gesicht undeutbar war.
»Was wäre, wenn es einen anderen Weg gäbe?«
Sie blinzelte. »Was willst du damit sagen?«
»Was wäre, wenn er die Peitsche nicht auf seinem Rücken und das Brandmal nicht auf seiner Hand spüren müsste?«
Sie schaute wieder kurz ihren Sohn an, aber Nico sah nur die Gestalt in der schwarzen Robe. An diesem alten Mann war etwas … Nico spürte, dass er ihm vertrauen konnte. Vielleicht war es seine ungezwungene Autorität – nicht die Autorität von jemandem, dem sie verliehen wurde und der gelernt hatte, sie für sich nutzbar zu machen, sondern eher etwas völlig Natürliches, das Ergebnis einer großen Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit des Geistes.
»Was ich dir zu sagen habe, muss in diesem Zimmer bleiben. Dein … Mann muss gehen, dann werde ich es dir erklären.«
Loos schnaubte verächtlich. Er hatte offenbar nicht vor, den Raum zu verlassen.
»Bitte«, sagte Reese, während sie sich zu ihm umdrehte. Loos setzte einen gespielten Blick des verletzten Stolzes auf. »Geh«, beharrte sie.
Loos zögerte noch immer; er sah zuerst den alten Mann, dann Nico und schließlich wieder Reese an.
»Ich warte draußen«, verkündete er schließlich.
»Ja.«
Loos schlich aus dem Raum und warf dem alten Mann einen letzten finsteren Blick zu, bevor er die Tür hinter sich schloss. Der Farlander redete bereits weiter, als noch der Lärm der zugeschlagenen Tür von den Wänden widerhallte.
»Reese Calvone, meine Zeit hier ist knapp bemessen, also will ich sofort zum entscheidenden Punkt kommen. « Aber dann verstummte er, und Nico sah, wie er mit dem Daumen über das Leder seiner Schwertscheide fuhr.
»Ich werde alt«, meinte er, »wie deutlich zu sehen ist.« War das ein Lächeln, das da in seinen Augen lag? »Es gab eine Zeit, in der jemand wie dein Junge es niemals durch mein Fenster geschafft hätte, ohne dass ich aufgewacht wäre. Ich hätte ihm die Hand in dem Moment abgeschlagen, in dem er sie nach der Geldbörse ausstreckte. Aber jetzt habe ich geschlafen, war ganz erschöpft von der Nachmittagshitze, ich alter Mann, der ich nun einmal bin.« Er senkte den Blick zu Boden. »Meine Gesundheit … ist nicht mehr das, was sie einmal war. Ich weiß nicht, wie lange ich meine Arbeit noch fortführen kann. Wenn ich es einfach und in der Tradition meines Ordens ausdrücke, so muss ich sagen, dass für mich die Zeit gekommen ist, einen Lehrling auszubilden. «
»Ich halte es für wahrscheinlicher, dass du einsam bist und gern einen hübschen Jungen in deiner Nähe hättest«, erwiderte Nicos Mutter scharf.
Er schüttelte nur den Kopf. Nein.
»Was machst du denn so? Du bist wie ein Mönch gekleidet, aber ich sehe ein Schwert in deiner Hand.«
»Reese Calvone« – er breitete die Hände weit aus, als ob er auf etwas Offensichtliches hindeuten wollte – »ich bin ein Rō̄schun.«
Unwillkürlich musste Nico auflachen. Es klang ein wenig hysterisch, und als er das Echo von der gewölbten Decke hörte, verstummte er sofort.
Beide Gesichter hatten sich auf ihn gerichtet.
»Du willst, dass ich zum Rō̄schun ausgebildet werde? «, gelang es Nico zu fragen. »Bist du verrückt?«
»Hör mir zu«, sagte der Farlander zu ihm. »Wenn du deine Zustimmung gibst, werde ich noch heute mit dem Richter sprechen. Ich werde ihn darum bitten, dass er die Anklage fallenlässt, und ich werde ihm eine bestimmte Geldsumme für seine Mühen und die der Gefängniswächter zahlen. Das wird dich vor deiner Strafe retten.«
»Aber das, worum du bittest …«, warf seine Mutter ein. »Dann werde ich meinen Sohn nie wiedersehen. Bei einer solchen Tätigkeit würde er sein Leben aufs Spiel setzen.«
»Wir sind hier in Bar-Khos. Wenn er in dieser Stadt bleibt, wird er früher oder später sein Leben an den Mauern riskieren müssen. Ja, meine Arbeit ist gefährlich, aber ich werde ihn gut darauf vorbereiten, und wenn ich ihn mit ins Feld nehme, wird er nur als Beobachter dabei sein. Sobald seine Lehrlingszeit beendet ist, kann er sich entscheiden, ob er sich dieser Tätigkeit widmen oder lieber etwas anderes tun und weggehen will. Dann wird er Geld besitzen und sich viele nützliche Fähigkeiten erworben haben. Vielleicht wird er sogar hierher nach Bar-Khos zurückkehren, falls die Stadt noch steht.«
Er beobachtete Nicos Mutter, wie sie darüber nachdachte, dann fuhr er fort: »Gegenwärtig wartet ein Luftschiff am städtischen Lufthafen auf mich. In ein paar Tagen werden alle notwendigen Reparaturen daran durchgeführt sein, und wir werden zur Heimat meines Ordens reisen. Dort wird er auf unsere Weise eingeführt werden, und ich versichere dir, Reese Calvone, dass ich das Leben deines Sohnes jederzeit über mein eigenes stellen werde. Das ist mein feierlicher Eid, den ich dir gebe.«
»Aber warum? Warum ausgerechnet mein Sohn?«
Den alten Farlander schien diese Frage zu verwirren. Er fuhr sich mit der Hand über den rasierten Schädel und verursachte dabei ein Geräusch wie von feinem Sandpapier, das über Stein reibt.
»Er hat bei dem, was er getan hat, Geschick und einen gewissen Mut bewiesen. Es sind solche Eigenschaften, die ich suche.«
»Aber das ist doch bestimmt nicht alles?«
Der alte Mann starrte sie immer länger an. »Nein«, gestand er schließlich, »das ist nicht alles.« Er schaukelte auf seinem Schemel vor und zurück, senkte den Blick wieder auf den Boden und den Raum zwischen sich und Reese. »Ich habe in der letzten Zeit bestimmte Träume gehabt, aber das ist für dich nicht von Bedeutung. Allerdings lenken sie mich in gewisser Weise, und ich fühle, dass sie mir das Richtige sagen.«
Nicos Mutter kniff die Augen zusammen und sah ihn noch immer ohne große Überzeugung an.
»Ich werde mitgehen«, verkündete Nico plötzlich von der anderen Seite des Gewölbes. Beide Köpfe drehten sich ihm zu, und er lächelte und fühlte sich närrisch. Seine Mutter runzelte die Stirn.
»Ich werde mitgehen«, wiederholte er; diesmal klang es nachdrücklicher.
»Das wirst du nicht«, verkündete sie.
Nico nickte ein wenig traurig. Er wusste, wer die Rō̄schun waren – das wusste jeder. Sie töteten Menschen, ermordeten sie im Schlaf als Gegenleistung für das Geld, das ihnen für diese Vendetta bezahlt wurde. Er glaubte nicht, dass er das konnte, nicht um alles in der Welt, aber er konnte ja weggehen, sobald seine Lehrzeit vorbei war, und besäße dann zumindest neue Fähigkeiten und Erfahrungen. Vielleicht war das die Gelegenheit, etwas aus sich zu machen. Vielleicht hatte der Große Narr Recht gehabt, und in den schlimmsten Tagen wurden wirklich die Saaten für bessere Zeiten gesät.
Doch vielleicht tauschte er dadurch seine drohende Bestrafung nur gegen eine viel schlimmere ein.
Er wusste es nicht. Aber er würde es nie wissen, wenn er sich nicht darauf einließ.
»Ja, Mutter«, sagte er mit großer Entschiedenheit. »Ich werde es tun.«