KAPITEL ACHT

Cheem

Das Herz der Welt war ruhig an diesem Morgen und so blau und leer wie der Himmel, der sich gleich einem gewaltigen Gewölbe aus spiegelndem Saphir über ihm spannte und es auf allen Seiten mit schwach erahnbaren Horizonten begrenzte – außer im Westen, wo sich die Berge bis in die Wolkenmassen erhoben. Das Sonnenlicht fiel auf die stille Oberfläche des Meeres und prallte in Hitzewellen wieder von ihr ab. Vögel kreisten geisterhaft und hell. Aus Süden blies eine schwache Brise über die Wasseroberfläche und setzte hier und da dem matten Wogen eine weiße Kappe auf.

Die Mannschaft der Falke nannte das einen Chohpra. Einen vollkommenen Tag.

Die Falke flog tief über den friedlichen Wassern des Midèrē̄s wie ein Vogel, der flüchtig die Wellen berührt – wenn auch wie ein Vogel, der zu lange den Elementen ausgesetzt war und sich auf das Ende seiner Reise freute. Das Luftschiff mochte zwar mitgenommen aussehen, aber es war schnell vorangekommen, auch wenn es jetzt, als es sich seiner Zielinsel und dem Hafen von Cheem näherte, immer langsamer wurde.

Möwen folgten ihnen und fingen Kischbrocken auf, die von dem dunkelhäutigen Mann am Bug des Schiffes in die Luft geworfen wurden. Asch zog dadurch die Aufmerksamkeit einiger bandagierter Mitglieder der Mannschaft auf sich, die nur den Kopf schüttelten, während sie ihm zusahen und im Flüsterton über ihn spotteten. Für sie waren Möwen die Ratten des Meeres. Warum fütterte der alte Narr sie bloß?

Der alte Narr schien ihren Hohn nicht zu bemerken, genauso wenig wie Nico, der neben ihm stand. Er beobachtete die angespannte Belustigung auf Aschs Gesicht, als er mit den niederstoßenden Vögeln spielte, und warf dabei auch immer wieder einen Blick auf den näher kommenden Hafen und die vielen Schiffe, die dort vor Anker lagen. Dahinter erstreckte sich die ausgedehnte Stadt bis ins Vorgebirge, das wiederum von schwarzen, schneebekränzten Bergen überragt wurde, so weit das Auge reichte.

Dies war die einzige Stadt und der einzige Hochseehafen auf der gesamten bergigen Insel Cheem. Der Hafen war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie der von Bar-Khos. Außerdem hatte er einen überaus schlechten Ruf, und dieser Ruf entsprach ausnahmsweise einmal der Wirklichkeit.

Wie alle mercischen Kinder war Nico mit Geschichten über die Plünderer von Cheem aufgewachsen. In den Freien Häfen drohten die Eltern ihren ungebärdigen Kindern oft damit, dass sie als Sklaven von den Plünderern entführt würden. Die Eltern zeichneten sie als Ungeheuer und erfanden blumige Geschichten wie zum Beispiel die, dass die Plünderer immer ein Spielzeugschiff neben dem Bett des Kindes zurückließen, das sie zu entführen gedachten. Wenn es erwachte und das Schiff sah, war es entsetzt. Nur die Ungezogensten blieben von einer solchen Drohung unbeeindruckt.

Diese Ängste wurden nur noch schlimmer, wenn das Kind allmählich erwachsen wurde und erfahren musste, dass die Plünderer nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene entführten und zu ihren Sklaven machten.

Das war der Grund dafür, dass Nicos Erleichterung über die gelungene Meeresüberquerung rasch einer neuen Angst wich. Überall wäre er lieber gelandet als ausgerechnet hier.

Heute blies eine warme Brise, die schwer von allen scharfen Düften der See war, und wenn sie abflaute und Atem holte, stieg ein durchdringender Geruch nach schmelzendem Teer vom Deck auf. Der Wind war günstig, dennoch brannten die Antriebsröhren heiß, als sie sich dem Hafen näherten. Sie flogen über die Außenmauer und sahen den schmalen Kanal, der sie durchschnitt. Er wurde von glitschigen Steinwänden flankiert, die gedrungene Befestigungsanlagen in der neuen, abgerundeten Bauweise trugen, die angeblich Kanonenschüsse ablenken konnte. Nico warf einen Blick nach unten und sah, dass aus den Festungen Kanonenrohre hervorlugten, und altertümlichere Wurfmaschinen waren auf den flachen Dächern positioniert, während sich Soldaten in blassen Umhängen auf ihre Speere stützten und das Luftschiff beobachteten, dass über ihren Köpfen dahinschwebte und die grünen Flaggen der Neutralität hinter sich herzog.

Als Asch der Vorrat an Kisch ausging, kreischten die Möwen protestierend auf. Das Schiff wendete; die Mannschaft beeilte sich, die Lenksegel neu einzurichten, und nun nahmen sie Kurs auf einen Strand am Südende des Hafens, wo ein Windsack auf einem hohen, auf die Felsen gebauten Turm flatterte. Masten zum Festmachen waren entlang des Ufers aufgerichtet, und ein verrottendes Luftschiff lag ohne Ballon auf dem Sand.

»Bleib in meiner Nähe«, befahl Asch Nico. »Wir werden nur ein paar Stunden in der Stadt haltmachen, aber die Geschichten, die du bestimmt über diesen Ort gehört hast, entbehren nicht jeglicher Wahrheit. Cheemhafen ist eine Schlangengrube. Am Tag sind wir dort ziemlich sicher, aber du solltest dich trotzdem nicht zu weit von mir entfernen.«

»Und wie lange wird unsere Reise in die Berge danach noch dauern?«

»Lange genug, aber es ist ein angenehmes und friedliches Land, wenn man die Wege kennt. Im Inneren leben nur wenige Menschen, wenn man von den geistlichen Orden und ihren Klöstern absieht.«

»Und den Mörderschulen?«

Asch versteifte sich neben ihm. »Wir sind nicht nur Mörder, Junge.«

Graue Rauchwolken stiegen aus der rechten Seite des Schiffes auf. Anker wurden geworfen, schleiften zuerst durch das Wasser, dann über den Strand, und Klumpen von Seegras hatten sich in ihnen verfangen. Sie zogen Rillen in den Sand, bis einige Männer dort unten sie ergriffen und zu den Anlegemasten brachten. Die Falke stieg langsam und zitternd in den duftenden Brisen ab.

Graber näherte sich, als seine Männer über Bord sprangen und die Leinen sicherten. Der Kerido hing an seinem Hals.

»Ich hab dich nach Hause gebracht«, sagte er zu Asch.

»Ja. Danke.«

Graber schüttelte zuerst Asch und dann Nico die Hand. Der Kerido auf seiner Schulter schnatterte seinen eigenen Abschiedsgruß. Berl war leider nicht da, um Lebewohl zu sagen. Der Junge lag schwitzend und fiebernd in seiner Koje. Er hatte im Kampf einen Fuß verloren.

Nico zuckte zusammen, als das Schiff mit dem flachen Boden auf dem Sand aufsetzte. Er warf sich sein Gepäck über die Schulter. Seltsam. Jetzt, wo die Falke an Land lag, tat es ihm beinahe leid, sie zu verlassen.

»Komm«, sagte Asch und schritt die schwankende Planke hinunter.

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Nach all den Warnungen war der Cheemhafen am Ende doch so etwas wie eine Enttäuschung.

Asch schritt mit einer solchen Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit aus, dass es für Nico schwer war, viel von der Stadt in sich aufzunehmen. Sie blieben nur so lange dort, bis sie ausreichenden Proviant sowie zwei Maulesel gekauft hatten, die sie auf ihrer Reise in den Süden der Insel tragen sollten.

Es war der Gestank dieses Ortes, der Nico zunächst am meisten entsetzte. Die Straßen waren nach einem kürzlich erfolgten Regenfall aufgeweicht und schlammig, und Abwässer flossen an den Seiten und in der Mitte durch übelriechende Gräben. Das alles wurde noch schlimmer gemacht durch die Leichname von Hunden und Katzen und – an einer Stelle – einer jungen Frau, der alle Kleider vom Körper gerissen worden waren.

Vor einem Laden half Nico dabei, die neu gekauften Vorräte an die Seiten der Maultiere zu binden. Gerade als er damit fertig war, wurde er gezwungen, den Stadt-wachen aus dem Weg zu springen. Es war eine Brigade aus dunkelhäutigen Alhazii-Söldnern in Rüstungen, die sich rasch die Straße entlangbewegten und dabei etwas Fremdes und Beängstigendes sangen. Kurze Zeit später kamen er und Asch an denselben Wachen vorbei, die soeben eine Wirtshausschlägerei auflösten. Es war ein heftiges Handgemenge: Vor der Taverne lagen Männer brüllend im Schlamm, während im Inneren Stahl durch den Lärm zahlreicher erhobener Stimmen dröhnte.

Sie eilten weg von diesen Ereignissen und liefen südwärts durch die Stadt. Asch rief in der Handelssprache den schmutzigen Straßenjungen etwas zu, die den Weg frei machten, als er ihnen auch noch ein paar Münzen entgegenwarf. Die Kinder zupften an seinen Ärmeln, bettelten ihn um etwas zu essen an oder um kleine Münzen, Pechkraut und Schlack. Überall standen Prostituierte herum; alle waren nackt und von Kopf bis Fuß mit goldener Farbe bemalt. Sie streckten Nico ihre Brüste entgegen, weil er ihre hellen Nippel anstarrte, die als einzige Körperteile nicht bemalt waren.

Die Sklavenmärkte waren schwerer zu ertragen. Durch hölzerne Gatter erhaschte er Blicke auf Männer, Frauen und Kinder, die in Lumpen gekleidet waren und sich aneinanderdrängten, während sie wie Vieh versteigert wurden.

»Umarmet das Fleisch!«, rief ein Straßenprediger, der in der Nähe einer solchen Auktion hockte. »Umarmet das Fleisch, oder ihr alle werdet versklavt werden, so wie alle Schwachen gerechterweise versklavt werden!«

»Was predigt er da?«, fragte Nico.

Asch spuckte vor den Füßen des Predigers aus, als sie an ihm vorbeiritten.

»Die Lehren von Mhann«, antwortete er.

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Im Gegensatz zu Bar-Khos besaß Cheemhafen keine Mauern, und Nico war überrascht, als die Häuser zu beiden Seiten der Straße zu vereinzelten kleinen Hütten wurden, bis die Bebauung schließlich ganz aufhörte und sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatten. Er schaukelte rhythmisch auf dem Rücken seines Mulis und spürte, wie seine Anspannung nachließ.

Die Straße wand sich durch das Vorgebirge, das an die Küste grenzte, und gewährte von allen Stellen aus einen Blick auf das Meer und die Schiffe, die darauf festgeheftet zu sein schienen. Cheem war eine Insel, die fast nur aus Bergen bestand, und der größte Teil des fruchtbaren Landes lag entlang der Küste und in den vielen schmalen Tälern, die hoch zu den dicht bewaldeten Hügelspitzen führten. Fast den ganzen Tag folgten sie dieser einen Straße und kamen an einigen Dörfern und einzelnen Gehöften vorbei, aus denen die Bewohner sie misstrauisch und grußlos beäugten. Am späten Nachmittag wandten sie sich nach Westen in eines der Täler und ritten durch mageres Ackerland bergan, bis es Heide und Wildgras wich, das nur noch als Nahrung für Bergschafe dienen konnte. An den Hängen drängten sich zu beiden Seiten die Bäume und bildeten dunkle Kiefernwälder.

Eine Veränderung ging mit Asch vor, als sie in das Hochland einritten. Seine Stimmung wurde milder, und er zeigte nicht länger sein übliches regloses Gesicht. Sein Blick wurde sanft. Zufrieden schürzte er die Lippen, als er die frische, ruhige Luft einatmete.

»Ihr scheint Euch zu freuen, wieder hier zu sein«, bemerkte Nico.

Ein Grunzen war alles, was er für diese Anteilnahme erhielt. Der alte Mann ritt schweigend weiter, und Nico hatte schon geglaubt, seine Bemerkung sei überhört worden, als zehn oder fünfzehn Minuten später – während die untergehende Sonne vor ihnen die letzten Farben des Tages zum Leuchten brachte und die kühler werdende Abendluft schwer vom Duft des Harzes war – der alte Farlander endlich etwas sagte.

»Diese Berge … sind jetzt meine Heimat.«

Sie schlugen ihr Lager auf einer hochgelegenen Lichtung auf, die von alten Jupebäumen umstanden wurde, deren versilberte Blätter von der sinkenden Sonne rot und golden gefärbt wurden. Nicos Rücken war nach dem langen Ritt steif geworden, und sein Hintern schmerzte. Er beobachtete, wie Asch eines der grünen Blätter hervornahm, die er immer in seinem Beutel mit sich trug, und es sich in den Mund stopfte. Offenbar litt er wieder an Kopfschmerzen. Der alte Mann machte sich daran, Laken auszubreiten und einige andere Vorbereitungen für die Nacht zu treffen, dann rieb er die Maulesel mit Gras ab, während sie Wildbeeren von einem Busch pflückten. Nico schnitt ein wenig harzige Borke von einem in der Nähe stehenden Zikadobaum ab und sammelte dann abgestorbenes Holz, um ein Feuer zu entfachen.

Schließlich ließ sich Asch mit offensichtlicher Erleichterung nieder. Er betrachtete den dunkler werdenden Himmel und trank aus einer hölzernen Kalebasse, während sich Nico um das Feuer kümmerte. Der Junge benutzte einen Flint und ein Stück Stahl, um Funken in die Borke zu schlagen, die er bereits zerrieben hatte; dann blies er sanft dagegen, bis die Flammen hochzüngelten. Das feuchte Holz warf weißen Rauch in die Luft, der in einem starken Kontrast zu den schwarzen Berggipfeln in ihrer Umgebung stand.

»Es ist kalt geworden«, sagte Nico, rieb sich die Hände und hielt sie über die noch schwachen Flammen. Seit seiner Abreise aus Bar-Khos hatte er ein wenig zugenommen, aber er war noch immer so dünn, dass er die Kälte deutlich spürte.

Der alte Mann stieß ein bellendes Lachen aus. »Irgendwann werde ich dir etwas über richtige Kälte erzählen. «

»Meint Ihr damit Eure Vendetta, die Euch bis zum südlichen Eis geführt hat?«

Asch nickte, sagte aber nichts.

Er hatte genauso genickt, als Nico vor ihrer Abreise aus Bar-Khos dem alten Mann eine Frage nach der anderen über die Vendetta des alten Mannes gestellt und nur die allerkürzesten Antworten erhalten hatte. Enttäuscht hatte Nico die Zähne zusammengebissen, und nun tat er es wieder, denn er hätte so gern mehr über diese sagenhaften fernen Länder gehört, die er nur aus Geschichten und Liedern kannte.

»Stimmt es, dass sie sich gegenseitig auffressen?«, versuchte es Nico noch einmal.

»Nein, sie verspeisen nur ihre Feinde. Sie lassen sie nachts im Freien, damit sie einfrieren, und dann rupfen sie ihnen das Fleisch von den Knochen.«

Bei dieser Vorstellung knurrte seltsamerweise Nicos Magen. Der lange Ritt hatte ihn ungeheuer hungrig gemacht. Er warf einen neuen Zweig ins Feuer, dann noch einen.

»Ihr habt mir noch immer nicht verraten, wie Ihr es zurück zur Küste geschafft habt. Ihr habt gesagt, dass Ihr da bereits Eure Hunde verloren hattet.«

Asch stieß die Luft durch seine zusammengepressten Zähne aus. »Ein anderes Mal, Junge«, sagte er. »Jetzt wollen wir einfach nur hier sitzen und die Stille genießen. «

Nico seufzte und lehnte sich auf seinen Hacken zurück. Er sah den alten Mann nicht an.

»Hier«, sagte Asch und hielt ihm die hölzerne Kalebasse entgegen.

Nico beachtete sie zunächst nicht, sondern beobachtete, wie ein leichter Luftzug die Flammen anfachte, so dass sie hoch in die Nacht stiegen. »Ich trinke nicht gern«, verkündete er schließlich.

Asch dachte über diese Aussage nach. »Dein Vater … war er ein Trinker?«

Jetzt war es Nico, der nicht antworten wollte. Er rieb sich wieder die Hände und blies in sie. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Asch ihn beobachtete.

»Und das, was du an deinem Vater gefürchtet hast, fürchtest du nun an dir selbst.«

»Wenn er betrunken war, ist er oft wütend geworden«, gab Nico zu. »Ich will nicht genauso werden.«

»Das verstehe ich. Aber du bist nicht dein Vater, Junge, so wie er nicht du war. Hier, nimm einen Schluck. Alles sollte mit Mäßigung genommen werden, sogar die Mäßigung selbst. Außerdem macht es dich warm.«

Nico seufzte erneut auf, nahm die Kalebasse entgegen und betrachtete sie eine Weile.

»Sei vorsichtig. Es ist ein starkes Gebräu.«

Nico legte das Gefäß an seine Lippen und nahm einen winzigen Schluck. Er keuchte auf, als er das Brennen der brackigen Flüssigkeit in seiner Kehle spürte, und musste husten.

»Was ist das denn für ein Zeug?«, krächzte er und gab die Kalebasse zurück.

»Gerstenwasser – und ein paar Tropfen Schweiß von den wilden Ibos. Sie nennen es Cheemfeuer.«

Der Klang dieses Wortes gefiel Nico gar nicht. Wärme durchpulste seinen Bauch, aber er wusste, dass es nur eine eingebildete Wärme war. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, dass es tödlich sein konnte, wenn man betrunken in der Kälte einschlief. »Glaubt Ihr, es ist klug, sich heute Nacht zu betrinken?«, fragte er.

Der alte Mann machte eine Handbewegung auf ihn zu, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Geh doch einmal aus dir heraus, Junge. Außerdem wird uns ein Kater bei dem helfen, was wir morgen zu tun haben.« Das ergab für Nico natürlich gar keinen Sinn, aber er sagte nichts mehr.

Sie nahmen ein Abendessen aus gepökeltem Schinken und einem frischen Kischlaib zu sich, den sie unter sich aufteilten und mit einigen Tassen Chee herunterspülten, den sie mit Wasser aus einem Fluss in der Nähe aufgesetzt hatten. Sie tranken noch mehr Cheemfeuer und wurden immer lustiger, als das Tageslicht verdämmerte und sich die Sterne über ihnen sammelten. Das Feuer knisterte und flackerte vor einer Finsternis, die durch das Licht der Flammen noch schwärzer wirkte. Sie wärmten sich die Füße daran und hatten die Stiefel ausgezogen.

»Ist es weit von hier entfernt?«, fragte Nico, nachdem er einige Zeit in die zischenden und lebendig tanzenden Flammen gestarrt und sich beinahe in seinen Gedanken verloren hatte.

»Was?«

»Das Kloster. Ist es noch weit bis dorthin?«

Der alte Mann zuckte die Schultern. Er hatte einen Stein aufgehoben und warf ihn nun mit der einen Hand in die Luft.

»Warum zuckt Ihr die Achseln?«

»Weil ich es nicht weiß.«

Er muss betrunken sein, dachte Nico. »Aber wenn Ihr dort lebt«, versuchte er es noch einmal, »wieso wisst Ihr dann nicht, wie weit wir noch reisen müssen?«

»Nico, vertrau mir, ja? Morgen früh wird alles für dich einen Sinn ergeben. Aber jetzt solltest du trinken und genießen. Wenn wir nach der heutigen Nacht endlich Sato erreicht haben werden, wartet viel harte Arbeit und Ausbildung auf dich.«

Widerstrebend setzte Nico noch einmal die Kalebasse an. Er nahm einen weiteren feurigen Schluck und gab sie zurück, dann legte er sich auf den Rücken, mit dem Ellbogen unter dem Kopf, und betrachtete die Sterne. Es wurde kälter.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Asch noch immer den Stein in der Hand hielt und das Siegel betrachtete, das er am Hals trug. Nico betrachtete ihn eingehender. Der alte Mann zeigte einen Ausdruck düsterer Selbstbesinnung.

Ich hätte es wissen sollen, dachte Nico. Er ist ein weinerlicher Saufbold, genau wie mein Vater.

Asch hob den Blick vom Siegel und bemerkte, dass Nico ihn anstarrte. Er grunzte und steckte es wieder unter seine Robe. »Was ist?«, fragte er.

»Nichts, Asch … Meister Asch. Ich habe eine Frage.«

Der alte Farlander seufzte. »Dann stelle sie.«

»Ihr habt gesagt, dass das Siegel, das Ihr um den Hals tragt, tot ist. Aber es hat einmal einem Auftraggeber gehört. «

»Ja.«

»Wenn Ihr die Siegel als Abschreckungsmittel benutzt, warum tragt Ihr dann nicht Euer eigenes? Warum schützt Ihr Euch nicht mit der Drohung der Vendetta?«

Aschs Zähne blitzten im Feuerschein auf. »Endlich eine Frage, die des Redens wert ist«, sagte er und warf den Stein erneut hoch. Er drehte sich in der Luft, und Asch fing ihn wieder auf.

Er beugte sich vor, als ob er Nico eine höchst vertrauliche Mitteilung machen wollte. »Ich will dir etwas sagen, Nico, und du musst dich immer daran erinnern.« Sein Atem war heiß und roch würzig. »Rache, mein Junge … Rache ist ein Kreislauf, der kein Ende hat. Ihr Anfang ist Gewalt, und ihr Ergebnis ist Gewalt. Und dazwischen liegt nichts als Schmerz. Deswegen tragen wir Rōschun keine Siegel als Schutz. In Wahrheit hoffen wir immer, abschreckend genug zu wirken. Denn wir wissen besser als die meisten, dass Rache in dieser Welt keinen wirklichen Nutzen besitzt. Sie ist lediglich der Beruf, zu dem uns unser Lebensweg geführt hat.«

»Das klingt so, als wäre das, was Ihr tut, falsch.«

»Wir denken nicht in Kategorien wie Falsch oder Richtig. Unsere Arbeit ist moralisch neutral, und das musst du unbedingt begreifen, denn es ist die Grundlage des Rō̄schun-Glaubens. Sieh es einmal so: Wir sind wie Felsen an einem Hang, die durch die Bewegung anderer Felsen in Bewegung gebracht werden. Wir folgen nur dem natürlichen Lauf der Dinge.«

Er hielt einen Gedanken lang inne. »Aber wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Arbeit persönlich wird, denn dann sind wir nicht mehr nur eine einfache Naturgewalt. Dann werden wir selbst zu einem Teil des Kreislaufs. Falls ich in einer Vendetta getötet werden sollte, nimmt ein anderer Rō̄schun meinen Platz ein, und dann wieder ein anderer, und noch einer, bis die Vendetta für den Auftraggeber abgeschlossen ist und wir unsere Verpflichtung erfüllt haben. Und dann ist die Sache erledigt. Wir tragen kein Siegel und wollen keine Rache für uns selbst. Auf diese Weise durchbrechen wir den Kreis.«

Der alte Mann verstummte und nahm einen tiefen Schluck aus der Kalebasse. Er wischte sich über die Lippen und versetzte Nico einen leichten Stoß. »Verstanden? «

Nico brummte der Kopf, was nicht nur vom Trinken kam. Seine Gedanken verwirrten sich. Die Khosier verstanden das Wesen der Vendetta; sie war tief in ihnen verwurzelt, und sie spürten den Drang zur Rache, wie ein Fisch spürt, dass er schwimmen muss. Ihre Legenden waren voll von blutigen Mordtaten und Racheakten, und die Rächer waren stets die Helden.

Er nickte, auch wenn er sich noch ziemlich unsicher war.

»Gut. Dann hast du bereits die wichtigste Lektion von allen gelernt.«

Ein brennendes Holzscheit knackte und löste sich vom Feuer. Nico zuckte zusammen. Er beobachtete das Scheit, während es zwischen seinen nackten Füßen im Gras glühte und allmählich grau wurde. Er nahm einen weiteren Schluck aus der Kalebasse. Das Gefühl der Wärme in seinem Inneren war angenehm, ob es nun eingebildet war oder nicht. Er vermutete, dass er bereits ein wenig betrunken war, und fand das gar nicht so schlimm. Er war sogar fröhlich; es war, als bedrückten ihn seine vielen Bürden nicht mehr so stark. Er legte sich wieder zurück und betrachtete den Nachthimmel.

Hier in den Bergen leuchteten die Sterne hell; die hellsten schienen beinahe zu funkeln. Wenn Nico den Kopf von ganz links nach ganz rechts bewegte, konnte er dem milchigen Zug des Großen Rades durch den Himmel folgen; wenn er vom Rad aus abwärts schaute, sah er rechts vom Feuer seine beiden Lieblingsstern-bilder durch die Finsternis glühen: Die Herrin, deren Sterne eine Hand bildeten, die ihren zerbrochenen, aus weiteren Sternen bestehenden Spiegel hielt; und neben und über ihr der Große Narr, der Weltweise, mit seinem treuen Erdmännchen zu seinen Füßen, das aus vier kleinen Schimmern in einer ungeraden Linie bestand – sein einziger Gefährte am Ende, als er den himmlischen Thron aufgegeben hatte, um die Welt zu durchwandern und ihr die Lehren des Dao zu bringen.

Ein Meteor streifte durch den Himmel, fast sofort gefolgt von einem zweiten. Im Osten zeichnete ein Komet einen Lichtfinger in die Schwärze. Nico nahm das alles tief in sich auf und empfand Frieden.

Dieser Friede aber wurde von Asch unterbrochen, der im Glanz des Feuers plötzlich loskicherte.

Nico beachtete ihn nicht, denn er hielt den alten Mann inzwischen für sinnlos betrunken. Doch er kicherte weiter.

»Was findet Ihr so lustig?«, wollte Nico schließlich wissen; die Worte kamen ihm schleppend aus dem Mund.

Asch schaukelte vor und zurück und versuchte sich zu beherrschen, aber ein Blick auf Nicos Miene machte es nur noch schlimmer. Er zeigte mit der Kalebasse auf Nico und versuchte etwas durch das Kichern hindurch zu sagen, doch es gelang ihm zuerst nicht.

»Es ist alles verloren!«, rief er schließlich in einer spöttischen Nachahmung von Nicos jugendlicher Stimme.

Nico runzelte die Stirn; das Blut schoss ihm in die Wangen. Das Letzte, woran er jetzt erinnert werden wollte, war die Luftschiffschlacht und der Augenblick, in dem er beinahe zusammengebrochen wäre. Diese Schande musste unbedingt dem Vergessen anheimfallen.

Er öffnete den Mund und wollte dem alten Mann mit ein paar scharfen Worten Einhalt gebieten, doch Asch zeigte auf ihn und schien zu wissen, was Nico sagen wollte, was ihn zu noch größeren Lachanfällen reizte.

Vielleicht war es das Cheemfeuer, oder auch das Glitzern in den Augen des alten Mannes, in denen weder Herablassung noch Bösartigkeit lagen, denn plötzlich spürte Nico, wie er von Aschs guter Laune angesteckt wurde und die komische Seite von allem sah. Bevor er es bemerkte, lachte er ebenfalls, schaukelte hin und her wie der alte Farlander, und beide kreischten wie Narren, bis ihnen die Tränen an den Wangen herunterliefen.

»Es ist alles verloren!«, rief Asch erneut, und nun brüllten sie vor Vergnügen und hielten sich die Seiten, während die Flammen ihre lachenden Gesichter erhellten und die Sterne in Greifweite über ihnen schillerten.

»Es ist alles verloren!«, schrien sie in die Nacht hinein.