KAPITEL ZWÖLF

Vendetta

»Wohin gehen wir?«, wollte Nico wissen, als er hinter Asch in den Westflügel des Klosters eilte, den mit Tiq-Holz getäfelten Hautkorridor entlangrannte und schließlich eine Treppe hinunter in einen schwach erleuchteten Keller hastete, in dem sich Kisten, Truhen und verschiedene aufgestapelte Vorräte befanden. Asch begab sich still zur Mitte des hölzernen Fußbodens; sein Körper warf einen langen Schatten unter der einsamen Laterne, die von der Decke herabhing. Nico blieb neben ihm stehen. Er folgte Aschs Blick und betrachtete den Boden unter ihren Füßen.

Der alte Mann nahm einen Schlüssel aus seiner Robe. Er war so dünn wie ein Zimmerernagel und hatte am einen Ende einen fein gearbeiteten Bart. Asch bückte sich und führte ihn in ein Loch im Boden ein, das Nico nicht sehen konnte. Ein Drehen, ein Klicken, und plötzlich zog Asch eine Falltür auf, unter der sich eine steinerne Treppe erstreckte. Abgestandene Luft drang herauf. Sie stiegen schweigend hinab.

Nach zwölf Stufen erreichten sie einen niedrigen, feuchten Tunnel und folgten ihm bis zu einer Lichtquelle an seinem Ende.

»Wir nennen es das Beobachtungshaus«, erklärte Asch leise, als er mit einem Kopfnicken die zwei langhaarigen Rō̄̄schun begrüßte, die Rücken an Rücken in der Mitte des hell erleuchteten Kellerraums knieten, in den sie nun gelangt waren. Eine Decke aus weißem Gips wölbte sich hoch über ihren Köpfen, gelegentlich durchstochen von Wurzeln, die wie verloren in der dunstigen Atmosphäre schwankten. Die Decke senkte sich bis zu den kreisrunden Wänden, die in dem gleichen traurigen, feuchten Weiß getüncht waren.

Diese Wände wurden von zahllosen Laternen erhellt und von Reihen aus vollkommen gleichartigen kleinen Alkoven durchbrochen; es waren Hunderte und Aberhunderte. In vielen von ihnen sah Nico die vertrauten dunklen Umrisse von Siegeln, die an Haken hingen. Insgesamt mussten es Tausende sein.

Was eine feierliche Erfahrung hätte sein können – so tief unter der Erde und umgeben von dieser schieren Menge –, war stattdessen unheimlich und unwirklich, denn all diese Siegel bewegten sich. Nico betrachtete sie näher. Es dauerte einige Momente, als ob sich sein Verstand weigerte, diese Dinge als das anzusehen, was sie wirklich waren, doch plötzlich hatte er einen klareren Blick und erkannte, dass all diese Siegel etwa fünfmal in der Minute wie winzige ledrige Lungen ein- und ausatmeten.

Alle außer einem.

Sie traten vor es, und Nicos Atem klang laut in seinen Ohren, während Asch mit leiser, vibrierender Stimme erklärte, dass dieses Siegel in der Nacht gestorben war. Er hoffte, dass es sich um einen Unfall oder einen natürlichen Tod handelte und nicht um einen Mord, der eine Vendetta erforderte. Mit diesen Worten nahm Asch es von seinem Haken und eilte aus dem Beobachtungshaus, während Nico ihm folgte.

Mit schnellen Schritten verließen sie das Kloster.

»Wohin gehen wir?«, fragte Nico, als sie einen Pfad hinunter zum Talgrund betraten.

»Wir besuchen jemanden«, antwortete Asch über die Schulter. »Einen Mann, zu dem ich dich schon längst gebracht haben sollte.«

»Und warum habt Ihr es bisher nicht getan?«

Der Farlander sprang über einige Steine auf dem Hang und ging weiter, ohne eine Antwort zu geben. Nico stolperte hinter ihm her und wurde schneller, um Asch einzuholen. Das trockene Gras wischte ihm um die Beine.

»Wer ist dieser Mann?«, rief er. »Ein Seher. Er wird für uns das Siegel lesen und uns dann sagen, was in der Nacht passiert ist.«

»Dann stimmt es also?«, keuchte Nico. »Das, was die anderen Lehrlinge sagen? Dass er ein Wundermann ist?«

»Nein. Der Seher besitzt lediglich eine sehr feine und ausgeprägte Weisheit. Durch Erfahrung und mit großer Ruhe kann er Dinge tun, die andere höchstens durch Zufall erreichen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich weiß.«

Für kurze Zeit folgten sie dem Fluss, bogen dann von ihm ab und gingen durch Sumpfland, das an ihren Sandalen saugte. Asch schritt mühelos weiter, als ob er einen Nachmittagsspaziergang machte. Nico geriet neben ihm ins Schwitzen.

»Der Seher ist das am meisten geachtete Mitglied unseres Ordens, Junge. Denk immer daran, wenn du ihm begegnest. Unsere Geschichte und all unsere Überlieferungen werden von den Sehern weitergegeben. Ohne einen Seher wären wir blind und orientierungslos. Er allein kann in das Herz eines Siegels blicken und uns sagen, was wir wissen müssen. Gleichermaßen kann er ins Herz eines Novizen blicken und beurteilen, ob er würdig ist. In gewisser Weise wird er genau das mit dir machen.«

»Er wird über mich urteilen?«

»Du wirst es nicht bemerken. Hauptsächlich wird er sich auf das Siegel konzentrieren.«

»Für mich klingt das noch immer wie ein Wundermann. «

»Junge, es gibt keine Wunder. Was der Seher tut, ist vollkommen natürlich.«

»Auf dem Basar von Bar-Khos habe ich einmal einen Mann gesehen, der mit dem Kopf nach unten gestanden und auf den Lippen balanciert hat. Er konnte sich ein Stück weit in die Luft heben, wenn er die Lippen gespitzt hat. Wenn das kein Wunder ist, weiß ich nicht, was eines sein soll.«

Asch tat diese Bemerkung mit einer raschen Kopfbewegung ab. »Der Seher ist in der Tat das, was ihr Mercier ein Wunder nennt. Unsere Seher sind nicht immer so gewesen, aber dieser hier … er ist sowohl ein Gelehrter als auch mit einem großen Einfühlungsvermögen begabt. Als wir damals hier ins Midèrē̄s gekommen sind, hörte er von Zanzahar und den vielen Dingen, die man dort von den Inseln des Himmels importierte. Er reiste in die Stadt, um diese Dinge zu untersuchen, auch wenn es nicht immer klar war, wozu sie überhaupt dienen sollten. Nimm zum Beispiel die Samen des Malibaumes. In dieser Stadt werden sie als seltene Talismane verkauft, die in der Lage sind, eine enge Beziehung mit ihrem Träger einzugehen. In gewisser Weise speichern sie das Leben einer Person, was dazu führt, dass ihre Träger diese Ereignisse in Träumen noch einmal erleben können, wenn sie dazu gewisse Techniken einsetzen. Der Seher war es, der herausfand, wie man diese Samen halbieren kann, so dass wir in der Lage sind, sie für unsere eigenen Zwecke einzusetzen. Auf diese Weise hat er die Siegel erfunden.«

»Wie wurde denn früher eine Vendetta ausgeführt?«

»Unter großen Schwierigkeiten.« Asch warf einen Blick zurück auf seinen Lehrling. Etwas glitzerte in seinem dunklen Gesicht; es schien, als wäre seine Lebenskraft zurückgekehrt. »Deine Wunden sind gut verheilt«, sagte er zu seinem Lehrling.

»Ja«, stimmte Nico ihm zu.

Es entsprach der Wahrheit. Die Wunden, die Aléas ihm beigebracht hatte, waren nur kleine Schnitte gewesen. Es war nicht einmal nötig gewesen, sie zu vernähen. Nico hatte einfach etwas Bienenwachs auf sie geschmiert, wie Aléas ihm geraten hatte, worauf die Wunden nicht verschorft, sondern einige Tage rot und roh geblieben waren, bevor sie sich schlossen, und dabei andauernd gekitzelt hatten. Als Nico später sein von einer Kerze erhelltes Spiegelbild im Glas eines der Küchenfenster gesehen hatte, war er davon sogar recht eingenommen gewesen. Er entschied, dass ihn die kleinen Narben älter machten.

Der Seher lebte allein in einer kleinen Einsiedelei im oberen Teil des Tales. Seine Hütte stand auf einem Grashügel an der Stelle, wo der Fluss eine Biegung machte und zwischen Felsen hindurchgurgelte, die grün vor Algen waren. An der Wetterseite wurde die Hütte durch Jupebäume geschützt, die in voller Blüte standen, sowie durch eine große Trauerweide, deren Blätter bis ins fließende Wasser hinabhingen und gegen die Strömung kämpften. Die Einsiedelei war kaum mehr als eine Baracke mit einem rechteckigen Loch in der einen Wand, durch das der Fluss zu überblicken war und das als Fenster und gleichzeitig als Tür diente.

»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, meinte Asch, als sie sich der Hütte näherten.

Nico folgte ihm nach drinnen. Einen Augenblick lang fragte er sich in dem staubigen Sonnenlicht, das an ihm vorbei durch die Tür ins Innere fiel, ob sie zum falschen Ort gekommen waren.

Im Zentrum der winzigen Hütte hockte der Seher im Schneidersitz auf einer Matte aus geflochtenen Binsen und hatte die halbgeschlossenen Augen der Tür zugewandt. Er war ein hagerer, sehr alter Mann mit einem milchigen Film über den Augen und einer Haut wie der einer Frucht, die zu lange in der Sonne gelegen hatte. Er war offensichtlich ein Farlander, und seine dunkle Haut stand in starkem Kontrast zu den Büscheln weißen Haars, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen. Der Kopf war kahl. Die rituell verstümmelten Ohrläppchen hingen ihm bis auf die Schultern. So etwas hatte Nico noch nie gesehen.

Nico drehte sich mit offenem Mund zu Asch um und stellte fest, dass dieser auf dem Boden kniete. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Nico, sich neben ihn zu knien.

Der alte Farlander sah Nico schweigend auf eine Weise an, die ihn an eine der Katzen seiner Mutter erinnerte; es war, als würde er etwas anstarren, das gar nicht da war. Der alte Mann blinzelte langsam und verzog die Lippen zu einem Grinsen, das seinen zahnlosen Gaumen enthüllte. Er nickte kurz wie zum Gruß und schien erfreut oder zumindest amüsiert vom Anblick des jungen Mannes vor ihm zu sein.

Er wurde wieder ernst, als er sich an Asch wandte, der ihm kommentarlos das tote Siegel in die zitternden Hände legte.

Sie warteten angespannt. Ein Gesang erfüllte die Luft, als der alte Seher etwas in der Sprache der Farlander jammerte, während er nach den Läusen kratzte, von denen seine Robe übersät war. Schließlich verstummte er und saß völlig reglos und mit geschlossenen Augen da. Gelegentlich setzte sich eine Grasfliege auf seinen kahlen, leberfleckigen Kopf. Es war wie eine der anfänglichen Meditationsübungen an Bord der Falke, bei denen Nico nicht ruhig hatte sein können und sich sein Körper so verkrampft hatte, dass er schließlich furchtbar geschmerzt hatte. Auch jetzt versuchte er wieder zu meditieren, aber es war zwecklos, denn er war zu gespannt auf das, was als Nächstes geschehen würde. Geistesabwesend nagte er an seiner Lippe und starrte auf die feuchtfleckigen Bretter an der gegenüberliegenden Wand.

Es war eine große Erleichterung, als der alte Seher endlich sein meditatives Schweigen brach, mit den trockenen Lippen schmatzte und sich von dem leblosen Siegel in seinen Händen wegbeugte.

»Shinshō̄̄ ta-kana …«, krächzte er mit hoher Stimme. »Yoshi, linaga!« Dann nickte er und runzelte traurig die Stirn.

»Mord«, übersetzte Asch für den Jungen mit harter Stimme.

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Als die Rō̄̄schun an jenem Abend ihr Mahl an den Tischen im großen Speisesaal beendet hatten, der den größten Teil des klösterlichen Nordflügels einnahm, und die Kerzen im verdämmernden, durch die vielen Fenster einfallenden Tageslicht immer heller wurden, brachte ein plötzliches Klirren von Besteck gegen Glas die leisen Unterhaltungen zum Verstummen.

Nico schaute von dem Tisch auf, an dem er zusammen mit den übrigen Lehrjungen saß und noch auf dem letzten Bissen seines Reiskuchens kaute. Aléas hörte auf, mit ihm zu reden und hob ebenfalls den Blick. Im hinteren Teil des Saales erhob sich ein verhutzelter Farlander langsam von seinem hölzernen Stuhl. Er war älter als Asch, aber nicht ganz so alt und verdorrt wie der Seher. Nico wusste, dass es sich um Oschō handelte, das Oberhaupt des Ordens und der Mann, der dieses Kloster hier in den Bergen von Cheem gegründet hatte. Nico hatte ihn schon mehrfach umherhumpeln sehen, aber noch nie eine Rede von ihm gehört.

Die Stimme des alten Rō̄̄schun ertönte klar und deutlich in dem stillen Raum.

»Meine Freunde«, verkündete er den vielen Gesichtern, die sich ihm nun zugewandt hatten. »Heute Nacht obliegt uns eine Aufgabe von außergewöhnlicher Art. Einer unserer Auftraggeber hat den Rechten Weg beschritten. Der Seher teilte uns mit, dass es Mord war. Er hat uns durch seine Weisheit auch den Verantwortlichen für diese Tat nennen können.« Oschō̄̄ hielt inne, betrachtete jedes einzelne Gesicht und suchte darin nach Aufmerksamkeit oder vielleicht auch nach etwas anderem, das nur er selbst wahrnehmen konnte.

»Heute Abend müssen wir gegenüber einem Priester von Mhann die Vendetta erklären. Beachtet, dass es sich bei ihm nicht um irgendeinen Priester handelt. Nein, wie immer weigert sich das Leben, einfach und geradlinig zu sein. Heute Abend erklären wir die Vendetta gegenüber Kirkus dul Dubois – dem Sohn von Sascheen dul Dubois, der Heiligen Matriarchin von Mhann.«

Überall im Raum erhob sich Gemurmel. Nico warf einen verstohlenen Blick auf Asch, der am selben Tisch wie der alte Anführer saß. Asch nippte nur an seinem Pokal mit Wasser; sein Gesicht war ausdruckslos.

»Schon oft haben wir gegenüber einem Bewohner des Reiches eine Vendetta erklärt, aber noch nie gegenüber einer so herausragenden Persönlichkeit. Dies heute Abend zu tun, bedeutet ein großes Wagnis für unseren Orden. Kirkus wusste, dass sein Opfer ein Siegel trug und daher unter unserem Schutz stand. Daher muss das Reich wissen, dass wir von ihm Blutrache fordern werden. Zweifellos werden sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um uns daran zu hindern – einschließlich des Versuchs unserer totalen Vernichtung, wie ich vermute. Er ist schließlich das einzige Kind der Matriarchin.

Ich glaube, ihre erste Antwort wird darin bestehen, unsere Agenten in den Häfen des Midèrē̄s in der falschen Hoffnung aufzuspüren, unsere Leute dort in den Städten könnten ihnen etwas über die Lage unseres Klosters verraten. Da wir nur durch die Agenten Kontakt zu unseren Schutzherren haben, können die Mhannier zunächst nichts anderes tun. Ich habe bereits angeordnet, dass die Botenvögel zu ihnen allen geschickt werden und sie warnen, wachsam zu sein.

Da es für uns alle von großer Bedeutung ist, habe ich entschieden, hier und heute zu euch zu sprechen, wenn wir zusammenkommen und unser einfaches Mahl zu uns nehmen. Jeder Einzelne von uns muss sich dessen bewusst sein, was wir heute Abend beginnen. In diesem Sinne wähle ich nicht nur einen aus, der zur Vendetta losgeschickt wird, sondern bitte gleich um drei Freiwillige.«

Es entstand eine Pause, und schließlich erhob sich in der Mitte des Speisesaales ein Mann unter dem Kratzen seines Stuhls und faltete die Hände vor sich. Fast gleichzeitig mit ihm erhoben sich ein Dutzend weitere Rōschun von ihren Sitzen.

»Danke.« Oschō̄̄ lächelte. »Wen haben wir denn da? Ah, Anton, ja, du sollst gehen. Und Kylos von den kleinen Inseln. Und du – ja, Baso, ich sehe dich, du sollst auch gehen. Gut. Drei unserer Besten.« Die anderen setzten sich wieder, und nun standen nur noch die drei über dem Meer der Häupter. »Ich fürchte, ihr müsst noch heute Abend aufbrechen. Vielleicht ist es schon zu spät, Kirkus dul Dubois abzufangen, bevor er nach Q’os zurückkehrt, aber wir müssen uns beeilen, damit das Reich keine Zeit hat, sich auf unsere Vergeltung vorzubereiten. Denn Vergeltung müssen wir üben, auch wenn dadurch unser Orden bedroht wird.

Denkt immer daran, dass heute eine unschuldige Frau gestorben ist. Der junge Priester hat ihr das Leben genommen. Diesmal kann kein Zweifel an der Rechtschaffenheit unserer Tat bestehen – und wir alle wissen, wie selten das der Fall ist. Diesmal jagen wir nicht nur den Mörder eines reichen Verbrechers oder einen Patrizier, der seinen Bruder mit seiner eigenen Frau im Bett erwischt hat, oder eine Frau, die zu Handlungen gezwungen wurde, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Hier gibt es keine Grauzone, wie es so oft der Fall ist und wofür wir in unseren Stunden der Stille so häufig um Vergebung bitten.«

Häupter nickten zustimmend, aber Nico bemerkte, dass es eine wesentliche Ausnahme gab. Baracha, der neben Asch saß, wirkte beunruhigt und wollte offensichtlich etwas sagen.

»Wir jagen ein sehr reales Ungeheuer. Und wir müssen unser Versprechen einhalten und erfüllen, egal was es uns kostet. Denn wenn die Rō̄̄schun wirklich einen Wert für die Welt haben, dann können wir dies jetzt beweisen. Das ist alles.«

Er senkte den Kopf. »Das ist alles.«

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»Das ist eine schlimme Angelegenheit«, verkündete das Oberhaupt der Rō̄̄schun am nächsten Morgen vom gepolsterten Sessel in seinem Arbeitszimmer aus, das in der Spitze des Klosterturmes lag. Er sprach das einheimische Hanschu, dessen Silben kurz und harsch waren, wie er es immer tat, wenn sie unter sich waren.

Asch saß auf dem Fenstersitz auf der anderen Seite des Zimmers und gab keine Antwort.

»Indem wir diese eine Vendetta durchführen, wenden wir uns gegen ein ganzes Reich«, fuhr Oschō̄̄ fort. »Ich bete darum, dass sie nicht zu unserer Auflösung führen wird.«

»Wir haben auch früher schon gegen mächtige Feinde gekämpft, Meister«, rief ihm Asch sanft in Erinnerung.

»Ja, und wir haben dabei alles verloren.«

Bei dieser Bemerkung zuckte ein Muskel an Aschs Kinn.

»Vielleicht hatten wir damals auch keine andere Wahl«, erwiderte er. »Genauso wie jetzt. Was können wir anderes tun, als unsere Verpflichtung zu ehren und aus unserem Cha heraus zu handeln.«

Cha – das war ein interessantes Wort. In der gemeinsamen Handelssprache gab es viele Worte, um diesen Ausdruck zu beschreiben, zum Beispiel »Mittelpunkt«, »Stille« oder »reines Herz.«

»Cha?«, meinte Oschō, in dessen leichtem Lächeln nun eine gewisse Ironie lag. »Mein Cha scheint mir immer klar zu sein, mein Freund, wenn ich einen Käse zerschneide oder Chee trinke oder in meinem alten Kiefernbett furze. Aber wenn ich dasitze und über solche Angelegenheiten wie diese nachdenke, bei denen es um die Zukunft des Klosters geht, und über all die Gefahren, deren ich mir um unser aller Zukunft willen bewusst sein muss, verwässert sich mein Cha mit Unsicherheit. Und dann frage ich mich, ob ich nicht vielleicht meinen Weg verloren habe.«

»Unsinn«, fuhr Asch ihn an. »In der letzten Nacht hast du uns erklärt, warum wir diese Vendetta ausführen müssen, egal was es uns kostet. Deine Handlungen haben diese Angelegenheit entschieden. Willst du etwa noch größere Sicherheit haben?«

Oschō seufzte. Er antwortete leise, als ob er zu sich selbst spräche: »Und die ganze Zeit hindurch habe ich mich gefragt, ob meine Worte uns nicht bloß zu einem weiteren Massaker führen oder zumindest zu einer weiteren Verbannung.«

Asch wandte den Blick wieder zum Fenster. Heute fühlte er sich müde, wie an jedem Tag seit seiner Rückkehr ins Kloster, denn seine Kopfschmerzen kamen immer häufiger, und er schlief schlecht. Asch hatte das erwartet. Wenn er sich auf einer Vendetta befand, wartete sein Körper oft, bis er sich wieder im sicheren Hafen befand, bevor er Krankheiten oder Verletzungen erlaubte, sich bemerkbar zu machen.

Im Kloster neigte er dazu, zurückgezogen zu leben. Doch seit er wieder hier war, sonderte er sich noch stärker als sonst von den anderen ab. Wenn es ihm gut genug ging, trainierte er draußen vor den Klostermauern oder machte lange Spaziergänge im Gebirge, wobei er den anderen und auch seinem jungen Lehrling aus dem Weg ging, sobald er sie sah. Doch meistens blieb er allein in seiner Zelle und schlief, wenn er konnte, oder las Gedichte aus dem alten Lande, oder er meditierte nur. Die anderen Mitglieder des Ordens sollten nicht mitbekommen, dass er krank war.

»Es ist nicht diese Art von Sicherheit, um die ich bitte«, meinte Oschō. »Ich bin in meinem Leben mehr gewesen als nur ein Rō̄schun. Weißt du noch, dass ich ganze Armeen ins Feld geführt habe? Ich habe eine Flotte über den großen Ozean des Sturms geschickt. Mein lieber Asch, ich habe einmal einen Lehensherrn bei einer zufälligen Begegnung getötet, die lediglich drei Sekunden lang war. Nein, mir fehlt nicht die Sicherheit zum Handeln; sie hat mir nie gefehlt. Vielleicht habe ich das Chan verloren, und ich befürchte, das schwächt meine Entscheidungsmacht.«

Noch ein bemerkenswertes Wort: Chan. In der Handelssprache konnte es viele Dinge bedeuten: Leidenschaft, Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst, blinder Mut. Manchmal bezeichnete es die rätselhaft klugen Wege des Narren. In Wirklichkeit handelte es sich um die äußere Manifestation des Cha im Handeln.

»Ich werde dieser Sachen müde, das ist alles. Ich habe zu viel Zeit meines Lebens als Rō̄schun verbracht. Ich war Soldat und General und sonst nichts. Dieses Leben ist kaum mehr einen Atemzug wert. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich die Zügel an Baracha übergeben. Er ist ein viel gerissener Politiker als ich, obwohl sein Cha unklar ist.«

»Pah, wenn er jetzt das Sagen hätte, würde er dafür sorgen, dass wir mit den Mhanniern einen Handel abschließen und uns das Leben des jungen Priesters bezahlen lassen.«

»Dann ist Baracha vielleicht noch weiser, als sein Alter es vermuten lässt. Wer kann schon sagen, ob das falsch wäre, wo es doch möglicherweise zu unserem Überleben führen könnte?«

Asch spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, aber er schwieg.

»Im alten Land warst du im Gegensatz zu mir noch kein Rō̄̄schun, Asch«, fuhr Oschō̄̄ fort. »Du weißt nicht, wie es war – nicht wirklich. Dort trugen unsere Auftraggeber ein einfaches Medaillon, das alle sehen konnten, und wenn sie getötet wurden, sammelten wir so viele Informationen wie möglich, die uns zu dem Mörder führten. Ich kann dir versichern, dass es eine schmutzige Angelegenheit war. Manchmal haben wir die falsche Person getötet. Oft waren wir nicht einmal in der Lage, den wahren Schuldigen ausfindig zu machen. Selbst heute, hier im Midèrē̄s, ist es uns trotz unserer Siegel und unserer Malibäume von den Inseln des Himmels manchmal nicht gelungen, die Vendetta zu vollenden.«

»Ja, aber wir haben es immer versucht. Es geht um das Versprechen, das wir leisten.«

»Unser Versprechen, ja«, stimmte Oschō̄̄ ihm zu. »Aber im alten Land war unser Versprechen immer pragmatisch. Ich bezweifle, dass wir unseren ganzen Orden aufs Spiel gesetzt hätten, so wie wir es jetzt tun.«

Asch schüttelte den Kopf. »Das mag sein. Aber hier, in diesem Land, sind wir etwas anderes als die alten Mörder. Wir halten uns aus der weltlichen Politik heraus und schmieden keine Ränke bloß zu unserem eigenen Vorteil. Wir bieten lediglich Gerechtigkeit für all jene an, die sie brauchen. Wenn wir kein persönliches Risiko eingehen, dann bedeutet unser Versprechen an die Menschen nichts, und wir bedeuten nichts, und alles, wofür wir je gelebt haben, ist ein bloßer Betrug.«

Oschō̄̄ dachte über seine Worte nach. Es hatte den Anschein, dass er nichts gegen sie einzuwenden wusste.

Asch fuhr fort: »Was hast du selbst immer zu mir gesagt, wenn ich Angst vor einer Entscheidung hatte?«

»Vieles, und das meiste war Unsinn.«

»Ja, aber was war es, das du mir immer wieder gesagt hast?«

»Ah«, knurrte der alte General. »Lächle und lass die Würfel rollen

»Das ist mir immer wie ein guter Gedanke vorgekommen. «

Oschō̄̄s Seufzen war deutlich hörbar. Doch es war kein Ausdruck der Verzweiflung, sondern einer der Erleichterung, und er entspannte sich ein wenig in seinem tiefen Sessel, während seine Augen etwas auf dem Chee-Tisch in der Mitte des Raumes wahrnahmen, vielleicht das Spiel des Sonnenlichts auf seiner Oberfläche. Der Tisch bestand aus wildem Tiq-Holz und war aus der Planke eines jener Schiffe geschnitzt, die sie alle vor dreißig Jahren aus Honschu hierhergebracht hatten.

Asch beobachtete diesen alten Mann, den er den größten Teil seines eigenen Lebens hindurch gekannt hatte. Sein Meister schien nicht zu bemerken, dass er sich müßig am linken Bein kratzte. Asch aber fiel es auf, und er lächelte in sich hinein, ohne etwas dazu zu sagen.

Es hatte den Anschein, dass diese Debatte vorerst beendet war. Sie fielen in angenehmes Schweigen, das manchmal stundenlang dauerte, ohne dass sich die Notwendigkeit des Sprechens ergab. Ein Klappern ertönte irgendwo unter den Bodendielen; es war so fern, dass es sehr gedämpft klang. Vermutlich hatte jemand einen Armvoll Übungswaffen fallen lassen, oder etliche Servierplatten waren in der nahen Küche zu Boden gegangen. Angenehme Düfte trieben durch das offene Fenster herein: gebackenes Kisch und würziger Eintopf.

Oschō̄̄ regte sich in seinem Sessel, schaute auf seine Hand und bemerkte, dass sie an seinem Bein kratzte. Verwirrt riss er sie weg. »Seit über zwanzig Jahren mache ich das mit meinem Holzbein und spüre noch immer ein Phantomkitzeln, als ob es wirklich da wäre.«

Asch hörte ihm kaum zu. Der dumpfe Schmerz in seinem Kopf wurde stärker, und er griff sich mit der Hand an die Stirn.

»Alles in Ordnung mir dir, alter Freund?«

Oschō̄̄ erhob sich schweigend, richtete sein künstliches Bein und humpelte quer durch den Raum zu Asch, der auf dem breiten, vom Sonnenlicht erhellten Fenstersitz hockte.

»Ja«, erwiderte Asch, allerdings mit zitternder Stimme. Er rieb sich die Schläfen mit den Fingern und versuchte, die Schmerzen zu zerquetschen.

»Wieder diese Kopfschmerzen?«, fragte Oschō̄ und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ja.«

»Sie werden stärker?«

Asch tastete in seiner Robe herum und holte schließlich seinen kleinen Beutel hervor. Die Finger zitterten ihm, als er ihn öffnete und ein getrocknetes Dulceblatt herauszog. Er legte es sich in den Mund zwischen Zunge und Wange.

»In letzter Zeit sind sie so schlimm geworden, dass ich manchmal nichts mehr sehen kann.«

Oschō̄̄s Hand drückte seine Schulter. Diese Geste des Trostes sah ihm gar nicht ähnlich.

Asch zog ein weiteres Blatt hervor und legte es sich ebenfalls in den Mund, dieses Mal gegen die andere Wange.

»Gibt es etwas, das ich für dich tun könnte? Oder vielleicht Ch’eng?«

»Nein, Meister. Er kann mir nicht helfen.«

»Bitte nenn mich nicht mehr Meister. Du hast schon vor langer, langer Zeit aufgehört, mein Lehrling zu sein.«

Allmählich ließen die Schmerzen nach – zumindest so sehr, dass Asch Oschō̄̄s Lächeln erwidern konnte. Allerdings vermied er es, seinem Meister in die Augen zu sehen, die plötzlich feucht und dunkel geworden waren.

»Wir sind älter, als es uns bewusst ist«, sagte er im Versuch, die Stimmung aufzuhellen.

»Nein«, entgegnete Oschō, während er zurück zu seinem Polstersessel schlurfte. »Du bist älter, als du weißt, aber ich bin mir meiner Hinfälligkeit bereits bewusst und habe vor, mich so schnell zur Ruhe zu setzen, wie es mein letzter Rest an Würde erlaubt.«

»Ich habe über dasselbe nachgedacht«, gab Asch zu.

Der alte General lehnte sich in seinem Sessel zurück und bedachte Asch mit einem Blick, der ihm schon seit vielen Jahren bekannt war. Oschō̄̄ hatte den Kopf zurückgelegt, seine kantigen Gesichtszüge waren vor Konzentration angespannt, die verschatteten Augen schätzten das ab, was sich vor ihnen befand. »Das hatte ich gehofft, als ich dich nach all den Jahren endlich mit einem Lehrling gesehen habe. Was hat dich zu dieser Meinungsänderung veranlasst?«

»Ich habe meine Meinung nicht geändert. Aber du und ich hatten vor einigen Monaten ein interessantes Gespräch. In meinem Kopf.«

»Als du im Eis warst?«

Er nickte.

»Vielleicht war es mehr als nur Einbildung. Vor ein paar Monaten hatte ich einen Traum. Es war sehr kalt. Du hast nicht geglaubt, dass du es schaffst.«

»Nein. Aber du hast mir einen Vorschlag gemacht und das Versprechen gegeben, dass ich wieder nach Hause kommen würde, wenn ich einverstanden wäre. Also habe ich zugestimmt.«

»Ich verstehe. Was war das für ein Vorschlag?«

»Dass du mich nicht von meiner Arbeit abhältst, wenn ich einen Lehrling ausbilde.«

Oschō̄̄ kicherte. »Ah, das erklärt alles. Ja, das ist ein gerechtes Abkommen – eines, zu dem ich stehe.«

»Gut.«

»Sag mir, wie du ihn gefunden hast.«

Asch wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Einen Augenblick lang war er wieder in Bar-Khos und trieb während der langen Siesta in der Mittagshitze immer wieder in den Schlaf hinein, als sich ein junger Mann in sein Zimmer stahl und seine Börse entwenden wollte.

Asch hatte von seiner Heimat geträumt: Von dem kleinen Dorf Asa, das sich eng an eine Biegung in einem hochgelegenen Tal schmiegte und von dem aus der Blick steil hinunter über die vielen Terrassen mit Reis und Gerste zum blauen Meer fiel, das sich bis zum Horizont erstreckte.

Auch seine junge Frau Butai war da gewesen. Sie hatte in der Tür ihrer gemeinsamen Hütte gestanden, mit einem Korb voller Wildblumen im Arm. Sie hatte die Gabe besessen, die Blumen zu feinen Parfüms zu destillieren, und ihn immer wieder mit neuen Duftrichtungen überrascht. Kurz hatte sie ihren Sohn angesehen, der auf einfache und praktische Weise Holz hackte; damals war er etwa vierzehn Jahre alt gewesen.

Asch hatte ihnen zugewinkt, aber sie hatten ihn nicht gesehen; sie hatten über etwas gelacht, das der Junge soeben gesagt hatte. Das Lachen seiner Frau war wunderbar gewesen, und sie hatte so mädchenhaft wie immer ausgesehen.

Und dann war Asch in einem fremden Zimmer erwacht, in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, in einem fremden Leben, das in keiner Weise sein eigenes war … mit tränenfeuchten Augen und einem so heftigen Gefühl des Verlustes, als ob es erst gestern geschehen wäre. Ein furchtbarer Schmerz war ihm durch den Kopf gefahren, und er hatte nichts mehr sehen können. Er hatte etwas gerufen und einen Augenblick lang geglaubt, sein Sohn wäre bei ihm, doch gleichzeitig hatte er gewusst, dass es unmöglich sein Sohn sein konnte. In diesem Moment hatte er ein so verzehrendes Gefühl der Vereinsamung verspürt, dass er sich nicht hatte bewegen können. Ich werde allein sterben, hatte er gedacht. Blind und ohne jemanden an meiner Seite.

»Es hat den Anschein, als wäre er für mich ausgewählt worden«, hörte er sich zu Oschō̄̄ sagen.

Oschō̄̄ schien dem zumindest teilweise zuzustimmen. »Was ist deiner Meinung nach der Grund dafür?«

»Ich habe keine Ahnung, aber es ist so, als würden wir beide uns irgendwie gegenseitig brauchen. Ich weiß nicht, warum das so ist.«

Oschō̄̄ nickte und lächelte wissend, aber er zog es vor, seine Mutmaßungen nicht laut auszusprechen. Stattdessen sagte er: »Also hast du noch immer nicht vor, die Zügel von mir zu übernehmen? Ich dachte, du würdest es vielleicht doch tun, wenn ich dich genug mit Barachas Namen reize.«

Asch konnte seinem Meister nicht länger in die Augen sehen.

»Wozu wäre das nütze? Meine Krankheit wird schlimmer, und ich glaube nicht, dass mir noch viel Zeit verbleibt. Du weißt von meinem Vater und von meinem Großvater. Nach ihrer Erblindung hat es ein rasches Ende mit ihnen genommen.«

Das Lächeln auf Oschō̄̄s Gesicht verblasste, und Nüchternheit überkam ihn. Scharf sog er die Luft ein. »Das hatte ich befürchtet«, gestand er. »Aber ich hatte trotzdem gehofft. Es tut mir wirklich sehr leid, Asch. Du bist einer der wenigen echten Freunde, die mir noch verblieben sind.«

Draußen im Hof sang eine Amsel. Asch richtete seine Aufmerksamkeit auf sie, damit er die ungewöhnlich deutlich gezeigten Gefühle seines Freundes nicht länger wahrnehmen musste.

Der junge Oschō̄̄ wäre niemals so offenherzig gewesen – nicht jener Oschō, der im alten Land und auf die alte Art und Weise zum Rō̄schun ausgebildet worden war, was nur wenige überlebt hatten. Nicht jener Oschō, der den ursprünglichen Rō̄̄schun-Orden verlassen hatte, nachdem sich dieser auf die Seite der Lehensherren gestellt hatte, und der später zum Soldaten geworden war und in Hakk und Aga-sa gekämpft und beide Schlachten überlebt hatte. Im langen Krieg gegen die Lehensherren hatte er Ehre um Ehre errungen, sich dadurch einen Namen gemacht und das Oberkommando über die letztendlich zum Untergang verdammte Volksarmee erhalten. Damals wäre es unvorstellbar gewesen, dass der General so offen das Schicksal eines Freundes beklagte, und noch unvorstellbarer, als er seine Leute danach ins Exil geführt hatte. Er war der einzige General gewesen, dem es gelungen war, sich den Weg mit dem Rest seiner Männer freizukämpfen, nachdem sie den letzten schicksalhaften Hinterhalt überlebt hatten, durch welchen die Volksrevolution ein für alle Mal niedergeschlagen worden war.

In jener Zeit war Oschō̄ schlank, stark und zäh gewesen – ein hartherziger Bastard, um ehrlich zu sein. Sein strenges Kommando hatte die Männer auf ihrem langen Weg zum Midèrēs zusammengehalten, als der größte Teil der Schiffsbesatzungen – einschließlich des trauernden Asch – nach der Niederlage und dem Verlust der Liebsten, die entweder in der Schlacht gefallen oder daheim zurückgeblieben waren, einfach nur den Tod herbeigesehnt hatte. Als sie es endlich bis hierher ins Midèrē̄s geschafft und etliche andere aus der Flüchtlingsflotte die Waffen ergriffen hatten, um entweder als Söldner für das Reich von Mhann zu dienen oder gegen es zu kämpfen, hatte Oschō̄̄ einen anderen und viel unsichereren Weg eingeschlagen. Den Weg der Rō̄̄schun.

Doch nun saß vor Asch ein verwelkter alter Mann in einem verschlissenen alten Sessel, und aus beiden sprossen Haarbüschel hervor. Sie ächzten jedes Mal, wenn sie sich regten, und das erlaubte es Oschō, seinem Bedauern freien Lauf zu lassen, während er dem Ende entgegenging.

Asch spähte aus dem hohen Turmfenster hinüber zu den Malibäumen, die dicht gedrängt im Mittelpunkt des Hofes standen. Dort hockte auch die singende Amsel, deren himmelsblaues Gefieder sich deutlich von den bronzefarbenen Blättern abhob.

»Am Ende traurig zu sein heißt, traurig über das ganze Leben zu sein«, scherzte Asch.

»Ich weiß«, sagte der alte General und schüttelte den Kopf.

Die beiden Veteranen saßen im staubigen Sonnenlicht und hörten eine Weile dem kurzen, frischen Lied des spätsommerlichen Vogels zu. Er ruft nach einer Gefährtin, dachte Asch.

»Ich wünschte bloß …«, gelang es Oschō̄̄̄ schließlich zu sagen, doch er verstummte wieder, und der Rest seiner Worte hing unausgesprochen in der Luft.

»Noch einmal den Diamantberg zu sehen«, beendete Asch den Satz für ihn, indem er das alte Gedicht rezitierte. »Und meine Lippen auf jene zu legen, die ich liebe

»Ja«, sagte Oschō.

»Ich weiß, alter Freund.«