KAPITEL SECHS

Die Vögel des Krieges

Bei Sonnenaufgang waren keine weiteren Segel zu erkennen. Irgendwann in der Nacht hatten sie die feindlichen Schiffsformationen passiert, während Nico sich in seiner Hängematte hin und her geworfen hatte, und seine kurzen Phasen des Schlafes waren mit unangenehmen Träumen erfüllt gewesen. Asch war schon aufgestanden, als Nico schließlich in einer leeren Kabine erwachte. Das frühe Morgenlicht mästete das Fenster, als der Horizont in seinen Rahmen rutschte. Das Schiff stieg auf.

Nico lauschte dem Gespräch der Männer in der geschäftigen Düsterkeit des Mannschaftsraumes, während er sich müde an der Theke der Kombüse festhielt und gebutterten Kisch sowie Samenküchlein auf seinen Teller häufte. Die Männer waren in besserer Laune, da sie in der Nacht die mhannische Blockade überwunden hatten, und nun bedachten sie ihn wenigstens nicht mehr mit bösen Blicken. Aber es herrschte das Gefühl, dass die Gefahr nicht vorüber war.

Nico aß sich satt; sein Körper gierte noch immer nach der Nahrung, die ihm mehr als ein Jahr lang nur spärlich gewährt worden war. Er ließ sich viel Zeit mit seinem geteerten Lederbecher voll Chee, dachte an die Bettlerbrühe und fragte sich, was nun wohl Lena und die anderen machten, die er in der Stadt gekannt hatte. Er dachte sogar an seine Mutter. Allmählich wurde er richtig wach.

Kaum hatte er seinen Chee getrunken, als er vom unerwartetsten aller Geräusche aufgeschreckt wurde – von einem Jagdhorn, das vom Oberdeck herabtönte. Die Männer erstarrten, und Stille flutete durch den Raum.

Das Horn erklang abermals und stieß drei hohe Töne aus. Schritte hämmerten auf die Planken über Nicos Kopf.

Unter hastigen Flüchen setzten sich die Männer in Richtung der Treppe und der Kanonen in Bewegung, die zu beiden Seiten des breiten Raums standen.

Als die Schießscharten geöffnet wurden, überspülte Sonnenlicht das Zimmer mit der niedrigen Decke. Nico stand mit einem Gefühl der Panik in der Brust auf. Die Männer brüllten und zogen an Seilen, mit denen die Rohre der kleinen Kanonen durch die Öffnungen gezogen wurden. Ein Mann drängte sich grob an ihm vorbei, ohne sich dafür zu entschuldigen; andere holten rasch Kugeln und Schwarzpulver oder mühten sich mit Kübeln voller alter Nägel, Kieselsteinen und zusammengerollter Ketten ab und scheuchten fluchend alle aus dem Weg. Eine Brise wehte durch die Schießschächte herein, zersetzte die rauchgeschwängerte Atmosphäre des Raums und brachte das Geräusch peitschender Leinwand und Brennstoff verzehrender Antriebsröhren mit. Neugier zog ihn an eine der Öffnungen heran. Während das Schiff noch immer stieg, taumelte er quer durch den Raum zum Tageslicht und stützte sich mit der Hand an einem niedrigen Balken über ihm ab.

Einer der Männer an der Kanone steckte den Kopf durch den Schießschacht. Nico lehnte sich zur Seite, bis er an ihm und der Kanone vorbeisehen konnte.

Ein weißer Fleck trieb unmittelbar auf sie zu.

»Ein Kriegsvogel«, verkündete der Mann, als er den Kopf in das Innere des Raums zurückzog und sich über das grimmige Gesicht wischte.

Nico wurde von dem plötzlichen Drang erfüllt, Asch zu finden und an seiner Seite zu sein. Er drehte sich um und eilte auf die Treppe zu. Berl war vor ihm, beladen mit einem Armvoll Waffen.

»Nimm dir eine«, sagte der Junge, während sie beide nach oben kletterten.

Nico ergriff das erste, was ihm in die Hand kam; es war eine stummelige Klinge in einer sechs Zoll breiten Scheide.

An Deck herrschte ein furchtbares Durcheinander. Männer, die sich schon mit Schwertern oder Ästen bewaffnet hatten, halfen einander in lederne Brustpanzer. Eine Gruppe auf dem Achterdeck hatte an der Steuerbordreling neben der kleinen drehbaren Kanone drei Langgewehre auf Dreifüßen aufgebaut. Andere hielten Bögen in den Händen und knieten, während sie sie spannten. Asch war nirgendwo zu sehen.

Nico schaute auf die Waffe in seiner Hand. Der Griff bestand aus einfachem Holz und war vom vielen Gebrauch glatt gescheuert. Er zog die Klinge aus der Scheide; sie entpuppte sich als gewöhnliches Fleischerbeil. Sie fühlte sich unangenehm an und war für eine einzige Bewegung und einen einzigen Augenblick ausbalanciert. Als er daran dachte, sie gegen ein anderes menschliches Wesen einzusetzen, erschauerte er.

Aber er behielt die Waffe bei sich, als er hinüber zur anderen Seite des Decks ging. Auf den letzten Ellen geriet er ins Taumeln, denn das Schiff drehte sich um die eigene Achse und kippte zur Seite. Die Steuerbordreling schützte ihn davor, noch weiter zu rutschen. Ein heftiger Wind trieb ihm die Haare vor die Augen.

Zu seiner Rechten spähte Kapitän Graber oben auf dem Achterdeck durch ein Fernglas, während er mit Dalas redete. Seine Müdigkeit schien jetzt vollkommen verflogen zu sein; sie war zwar vielleicht noch an der Blässe seiner Haut und den entzündeten Augen zu erkennen, nicht mehr aber an seiner entspannten Haltung und der Entschiedenheit, mit der er sprach. Die Sonne stieg hinter dem Kriegsvogel auf.

Das Luftschiff näherte sich von Steuerbord, und die Falke kam auf ihrem nord-westlichen Kurs an ihm vorbei. Nico schirmte die Augen vor der Sonne ab. Vor ihnen näherte sich weiter östlich ein anderes Luftschiff auf einem Kurs, der es geradewegs zur Falke führen würde.

Wie Klauen, dachte er, die sich um uns schließen.

»Junge!«

Er wirbelte herum. Durch einen Spalt im Gedränge der Männer entdeckte er Asch, der allein auf dem Vorderdeck kniete. Der alte Rō̄schun bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, näher zu kommen.

Nico schritt das Schiff entlang und hielt sich dabei vorsichtig an der Reling fest. Die Falke flog wieder gerader, was es ihm leichter machte, die Treppe zu erklettern und auf den alten Mann zuzugehen.

Asch nickte. »Du bist spät dran.«

»Spät dran? Wozu?«

»Zu unserer morgendlichen Übung. Hast du sie vergessen? «

»Asch, wir stecken in der Klemme.«

»Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst mich mit Meister Asch oder wenigstens mit Meister anreden. Jetzt setz sich.«

»Aber wir haben keine Zeit dazu!«

Der alte Mann seufzte.

»Nico, es gibt für dich keine bessere Zeit zum Lernen, als wenn ich im Feld bin und meine Arbeit mache. Das hier« – er machte eine ausladende Handbewegung, während ein Windstoß an seinem Arm zerrte – »ist meine Arbeit.«

Darauf wusste Nico keine Antwort. Mit einem Stirnrunzeln nahm er die gleiche kniende Position ein wie der alte Mann und legte das Fleischerbeil neben sich.

»Konzentriere dich ganz auf deinen Atem. Folge ihm, während er dich durchströmt.«

Das ist absurd, sagte Nicos Verstand. Einen Moment lang versuchte er sich zu konzentrieren, wie es ihm aufgetragen war, aber durch die Verstrebungen der Reling sah er, wie das zweite Feindesschiff beständig näher kam. Es war nicht mehr nur ein Fleck, sondern war bereits zu einer weißen Perle geworden.

»Entspann dich«, sagte der alte Mann.

Es war seltsam, aber als Nico einatmete und sein Herz allmählich langsamer schlug als vorhin, wurden auch die Aktivitäten an Deck gedämpfter.

Stille legte sich über das knirschende Schiff. Alle Ohren lauschten auf die Antriebsröhren, die sie durch die Luft trieben.

Jetzt konnten die Männer nichts anderes tun als abzuwarten.

Nico schloss die Augen und stellte fest, dass es half. Innerhalb weniger Momente überkam ihn ein schwaches Gefühl des Losgelöstseins, das ihm die wachsenden Schmerzen in Beinen und Rücken erträglich machte. Er beobachtete sich selbst dabei, wie er die kühle Luft einatmete und dann wieder ausstieß. Ein Augenblick der Leere, dann wurden die Schmerzen stärker und brachten die Gedanken zurück. Durch die Wimpern schaute er auf den Kriegsvogel. Er war noch näher gekommen.

Die Schiffsglocke schlug die volle Stunde; es klang, als wäre es ein weiterer gewöhnlicher Tag an Bord. Allerdings war das übliche heisere Lachen nicht zu hören, und nur wenige Männer redeten miteinander.

Asch atmete tief aus. »Wir müssen uns jetzt vorbereiten«, sagte er und erhob sich aus seiner Meditationshaltung.

Nico stand ebenfalls auf und zuckte unter der Steifheit seiner Beine zusammen. Er folgte Asch zur Reling.

Die Kriegsvögel waren inzwischen so nahe, dass Nico die geschwungenen Rümpfe unter den Ballons erkennen konnte. Die Schiffe waren doppelt so groß wie die Falke, und jedes hatte eine doppelte Reihe von Schießscharten. Das erste befand sich nun unmittelbar hinter ihnen und verfolgte sie. Das andere war noch vor ihnen und wendete gerade, um den Feind abzufangen. Dabei wurde das Bild einer großen roten Handfläche an der Seite des Ballons sichtbar.

»Warum fliehen wir nicht?«, rief Nico. Er sah die Reichssoldaten, die sich an der Reling des herannahenden Schiffes aufgereiht hatten. »Wir sollten mit dem Wind westwärts fliegen und ihnen davonsegeln.«

»Der Käpt’n ist ein gerissener Kerl. Vermutlich lauert ein weiterer Kriegsvogel westlich von uns. Normalerweise treten sie immer zu dritt auf. Diese beiden versuchen uns auf den dritten zuzutreiben.«

»Also lassen wir sie einfach näher kommen?«

»Jedes Mal, wenn wir kreuzen, werden wir langsamer. Das Schiff hinter uns könnte zu nahe an uns herankommen. Es ist besser, wenn wir wenden und an ihm vorbeifliegen, während es sein eigenes Wendemanöver durchführt.«

»Das klingt nach gar keinem Plan.«

»Es ist der bestmögliche Plan. So würde ich es unter den gegebenen Umständen machen. Der Käpt’n hat die Schnelligkeit auf seiner Seite, denn die Falke ist ein geschwindes Schiff. Er wird versuchen, uns eine Bresche zu schlagen.«

Nun endlich brach Graber das Schweigen auf Deck. »Macht euch bereit«, brüllte er, als der Anführer der Kriegsvögel ihren Kurs kreuzte. Die Männer duckten sich und suchten Schutz.

Die feindlichen Kanonen feuerten und zerschmetterten den Tag mit wirbelnden Ausbrüchen von Rauch und Feuer entlang der Seite ihres Schiffes.

»Runter«, knurrte Asch. Der alte Mann zog ihn auf das Deck, gerade als ein Teil der Reling ganz in ihrer Nähe zu Splittern zerschossen wurde. Etwas Dunkles und Wirbelndes brauste über ihre Köpfe hinweg.

Nico keuchte auf; der Lärm der Kanonen hatte ihn vorübergehend taub gemacht. Er bedeckte den Kopf mit den Armen. Rufe, die keinen Sinn zu haben schienen, hallten durch den Aufruhr. Über ihm ertönte zunächst ein Krachen, dann das Knirschen von Holz und schließlich ein gedämpfter Aufschlag. Er stellte fest, dass er plötzlich unter einem schweren Gewicht begraben lag.

»Junge!«

Hände zerrten an seiner Kleidung. Er schaute auf und sah, wie Asch ihn unter der niedergestürzten Takelage hervorzog. Nico trat mit den Füßen aus, bis er wieder frei war.

»Mein Schwert! Hol mein Schwert aus der Kabine. Schnell!«, rief ihm der alte Mann zu.

Asch sprang auf die Beine und stieß Nico auf die Treppe zu. Nico schlitterte sie auf dem Rücken hinunter. Als er am Boden ausrutschte, sah er, dass es Blut war, das das Deck so glitschig gemacht hatte. Rechts neben ihm lag ein toter Luftschiffer mit platt gequetschtem Kopf. Nico wich rasch von ihm zurück, starrte aber weiterhin auf diesen scheußlichen Anblick. Verschmiertes Haar und Knochensplitter klebten rot auf der zerfetzten Haut. Eine graue Masse, bei der es sich nur um … Gütige Erēs, das muss das Gehirn sein. Nicos Beine übernahmen das Kommando. Gebückt hastete er über das Deck und sprang über Männer, die zum Schutz vor dem feindlichen Feuer flach auf den Planken lagen, und wich anderen aus, die auf die herabgefallene Takelage zustürzten. Er warf einen Blick über die Schulter. Der Kriegsvogel drehte sich und wollte offenbar an ihrer Backbordseite längsgehen.

»Ihr dreckigen Bastarde!«, rief Graber vom Achterdeck aus. Er hielt die Reling gepackt, während er beobachtete, wie das Schiff um sie herum flog.

Die Falke bockte unter Nicos Füßen. Rauch floss über das Dollbord, als sie ihre eigenen Kanonen abfeuerte, deren Zahl traurig gering war, wie es jetzt schien. Ketten und Schutt wurden gegen Ballon und Schiffskörper des Feindes geschleudert. Nico hustete und wischte sich die Augen. Gewehrfeuer knatterte durch den Aufruhr. Vor ihm geriet ein Luftschiffer ins Taumeln, ein Ausdruck der Verwunderung lag auf seinem totenbleichen Gesicht, als er über die Reling ins Bodenlose kippte. Ein anderer, ein dürrer Junge, weinte hemmungslos.

Die Treppe nach unten zu den Kabinen kam in Sicht. Etwas Heißes schoss an Nicos Kopf vorbei. Weitere Holzsplitter brachen aus der Reling. Er sprang auf die Treppe zu, rollte sich mit der Schulter ab und glitt und stürzte hinunter in den Mannschaftraum.

Er keuchte unter dem plötzlichen Schmerz in seiner Seite auf. Rauch von Schwarzpulver wogte durch den engen Raum, und Nico rang nach Luft. Hier hatte er noch vor kurzer Zeit gesessen und sein Frühstück im gemächlichen Pfeifenqualm eingenommen, doch nun feuerten die Männer dampfende Kanonen ab, sprangen unablässig über gestürzte Kameraden und beachteten deren Hilferufe nicht. Nico lag wie erstarrt da. Eine Zeit lang dachte er an gar nichts; in ihm war alles leer. Es war nicht schwierig. Er beobachtete das Geschehen wie durch einen engen Tunnel, und er selbst war weit entfernt von dem, was er sah. Nico erspähte den Kriegsvogel, der an den Schießscharten vorbeiflog. Er feuerte erneut und schwärzte den Raum zwischen den beiden Schiffen. In der Mannschaftskajüte wurde es dunkel. Geschossteile durchschnitten die stinkende Luft. Kanonenschüsse durchdrangen die Wand des Schiffs und erfüllten den Raum mit hellen, wirbelnden Holzsplittern, die gegen die Balken und Kanonen prallten, bevor sie sich in menschliches Fleisch bohrten.

Hier war es nicht sicherer als an Deck. Nico rollte hinüber und keuchte. Auf allen vieren kroch er zu seiner Kabine und murmelte dabei nichts als Unsinn.

Auf dem Weg kam Berl an ihm vorbei. Der Junge zog einen Verwundeten aus der Schusslinie. Er schaute hinunter auf Nico, der auf allen vieren an ihm vorbeihuschte, hielt aber nicht inne.

In der Kabine warf Nico die Tür zu und lehnte sich kurz mit dem Rücken gegen sie, damit er seinen Verstand wiederfand. Er zitterte am ganzen Körper.

Gütige Erē̄s, dachte er, als er sich an den Bauch packte. Seine Eingeweide standen kurz davor, sich zu entleeren.

Er taumelte zu dem Toilettenloch im hinteren Teil der Kabine, warf den Deckel hoch und enthüllte einen Schacht, der vom früheren Gebrauch noch fleckig war und ins Freie führte. Tief unten war das Meer zu erkennen. Er öffnete seinen Gürtel, ließ die Hose fallen und pflanzte sich auf das Loch. Nico jammerte vor plötzlicher Erleichterung.

So hatte er sich das nicht vorgestellt. Das Donnern des Kanonenfeuers gegen den Rumpf führte dazu, dass er sich am liebsten unter seiner Koje versteckt hätte, als ob er wieder ein kleiner Junge wäre. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, dass die Schlacht das Innere eines Mannes verflüssigen oder ihn so starr machen konnte, dass er nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Damals hatte Nico angenommen, sein Vater spräche von Angsthasen und Männern, die nicht für den Krieg geeignet waren.

Vielleicht war er das wirklich, dachte Nico nun. Der bittere Geschmack in seinem Mund gefiel ihm gar nicht. Vielleicht war er wirklich ein Feigling, und ich bin auch einer, und wir beide sind Feiglinge, Vater und Sohn.

Nico spuckte aus und wischte sich mit dem Rücken seiner zitternden Hand über den Mund. Hastig säuberte er sich mit einem Grafblatt und zog seine Hose wieder hoch.

Aschs Schwert hing über der Koje des alten Mannes. Nico hätte vergessen, warum er hergekommen war, wenn er es nicht dort gesehen hätte. Er nahm es an sich, stürzte sich wieder in die Raserei, die im Mannschaftsraum tobte, und stapfte die Treppe hoch.

Der zweite Kriegsvogel war an ihnen vorbeigeflogen und kreuzte nun hinter ihnen. Der erste folgte ihnen noch. Nico lief zu Asch auf dem Achterdeck und hielt sich geduckt, als ob ihn die dünnen Verstrebungen, die die Reling hielten, vor dem feindlichen Feuer schützen. »Euer Schwert«, sagte er und hielt sie dem alten Mann entgegen. Asch schaute auf die Klinge herunter, als ob er sie vergessen hätte, und ergriff sie.

»Hier oben ist es nicht sicher«, sagte Asch zu ihm.

»Es ist nirgendwo sicher!«

Bolzen schossen an ihm vorbei. Nico duckte sich noch tiefer. Der Kerido kauerte neben dem Steuerrad und sah Nico in fast derselben Stellung wie er selbst. Das Tier huschte auf ihn zu und sprang ihm in die Arme. Sein heißer Atem stank nach verwesender Nahrung.

Am rückwärtigen Ende des Achterdecks richtete Dalas die drehbare Kanone auf das feindliche Schiff, das hinter dem Heck der Falke kreuzte. Er zielte sorgfältig, als das Schiff seine Breitseite präsentierte und folgte mit der Kanone dem Ballon. Kapitän Graber stand neben ihm und schaute am Kanonenrohr entlang. Er schlug Dalas auf den Rücken.

Nico konnte sich gerade noch die Ohren zuhalten, als der große Coricianer feuerte. Der Kerido in Nicos Armen zuckte zusammen.

Ein Riss zeigte sich am vorderen Ende des Ballons. Einen Moment lang geschah gar nichts; die zerrissene Seide flatterte bloß wie bei all den anderen kleinen Rissen an der Seite. Doch dann senkte sich die Nase des Ballons, und das Schiff geriet in einen Sinkflug.

»Guter Schuss«, bemerkte Asch.

Als ob es außer sich vor Wut wäre, feuerte das abstürzende Luftschiff als allen verbliebenen Rohren. Es war, als würde die Falke von einer Welle getroffen; die Wucht des Aufpralls warf Nico auf den Rücken. Er rang nach Luft, wand sich und schluckte Staub. Splitter trafen seine Beine; die Krallen des Kerido bohrten sich in seinen Hals. Benommen sah er, dass Dalas ebenfalls auf dem Rücken lag, während andere Luftschiffer um ihn herumeilten. Das halbe Steuerrad war abgebrochen, und Steiner war nirgendwo mehr zu sehen. Durch all diesen Aufruhr torkelte Graber, als wäre er betrunken.

Asch war noch auf den Beinen und hatte sich vor den Resten der Reling geduckt, als ob er sich gegen einen starken Wind stemmen würde. Er beobachtete etwas, und Nico folgte seinem Blick. Ein großer Gegenstand war soeben aus einer Rauchwolke auf dem Vorderdeck des Verfolgers hervorgeschossen und zog etwas hinter sich her, während es in einem flachen Bogen auf die Falke zuschoss.

Ein Enterhaken flog an Nico vorbei und landete auf dem Hauptdeck. Eine Kette hing daran, deren schwere Glieder die Steuerbordreling durchschlugen; das andere Ende war fest am Bug des mhannischen Schiffes verankert.

»Rasch, über Bord damit!«, ertönte die heisere Stimme des Kapitäns, der sich soeben wieder aufrichtete.

Einige Männer sprangen auf den Enterhaken zu, aber sie kamen zu spät. Die Kette geriet unter Spannung, und entsetzt sah Nico zu, wie der Haken über das Deck kratzte, sich am Sims des Achterdecks festbiss und tief in die Planken schnitt.

Die Falke machte einen Sprung und verlor an Fahrt. Sie waren gefangen wie ein Fisch an der Angel.

»Es ist alles verloren!«, schrie Nico, der außer sich vor Angst war. Es scherte ihn nicht, dass er wie ein Schmierenschauspieler klang, der seinen Kummer der Menge entgegenschleuderte. Das hier war der reine Wahnsinn.

Asch schaute auf seinen Lehrling herunter, während das Verfolgerschiff näher kam. Die Besatzung versuchte die Planken um den Haken herum mit Äxten zu lösen. Ganz kurz stand Asch nur da, sagte nichts und beobachtete Nico. Er sammelte die Stille um sich herum. Dann lachte er. Der scharfe, spöttische Laut, der jedoch auch eine gewisse Leichtigkeit besaß, wurde vom Wind davongetragen.

»Ihr Kinder«, rief er, »ihr verzweifelt so schnell.«

Nico drückte den Körper des Kerido eng an sich; sie beide zitterten.

»Käpt’n«, rief Asch und lenkte so Grabers Aufmerksamkeit auf sich. »Dreh das Schiff um.«

»Umdrehen? Bist du verrückt?«

Ja, dachte Nico, er fliegt mit den Fischen. Gütige Erē̄s, was immer er sagt, höre nicht auf ihn.

»Dreh um«, wiederholte Asch.

Graber stellte sich vor das Steuerrad und drehte an dem, was von ihm verblieben war. Langsam wendete sich das Schiff.

Dabei verlor die Falke einen großen Teil ihrer Backbordreling, als die Kette am Dollbord entlangschrammte. Der Verfolger drehte sich mit ihnen, wenn auch nicht so abrupt. Die Kette wurde wieder schlaff.

»Hebt sie an, Jungs!«, rief der Kapitän seinen Männern zu. Dalas hatte sich inzwischen wieder auf die Beine gekämpft. Er bückte sich, stemmte den Haken hoch, eilte zusammen mit sechs weiteren Männern an die Seite des Decks und warf ihn in die dünne Luft.

Graber drehte wieder am Steuerrad und schwenkte auf den ursprünglichen Kurs zurück. Während des Manövers hatten sie an Höhe verloren, und in diesen unteren Luftschichten war der Wind mit ihnen. Er drückte gegen die Segel, und die Falke machte einen Sprung nach vorn.

»Kümmert euch um die Verwundeten«, rief Graber. »Und die Flicker klettern sofort auf den Ballon! Wir verlieren Gas.«

Nun wusste die Mannschaft, dass sie in Sicherheit waren. Niemand stieß Freudenschreie aus wie in den alten Sagas. Stattdessen breitete sich das Schweigen der Verblüffung auf den Decks aus, als die feindlichen Schiffe zurückfielen.

»Ich hoffe, du siehst das nicht als eine weitere Schuld an, die ich irgendwann bei dir begleichen muss«, murmelte Graber über die Schulter in Aschs Richtung.

Der alte Rōschun sagte nichts.

Nico sah sich um. Er hörte die Schreie der Verwundeten, von denen viele den Tag vermutlich nicht überleben würden.

Ich bin viel zu jung für so etwas, dachte er mit einer plötzlichen und ernüchternden Klarheit.