KAPITEL VIERZEHN

Göttliche Versicherungen

Im fensterlosen Vorzimmer der Arena, die unter dem Namen Schay Madi bekannt war, beobachtete Kirkus, wie seine Mutter Hof hielt, bevor sich die Priester um sie versammelten.

Die zwei Jahre als Heilige Matriarchin des Reiches waren ihr inzwischen anzumerken, trotz der kaiserlichen Milch, für deren morgendlichen Genuss sie so üppig bezahlte. Die Linien auf ihrer Stirn konnten nur von häufigem sorgenvollem Runzeln stammen, obwohl es seine Mutter hier und heute in der Öffentlichkeit vorzog zu lächeln.

Dieses sichtbare Altern war das Erste gewesen, das Kirkus nach seiner Rückkehr von der Staatsreise mit seiner Großmutter bemerkt hatte, als er seine Mutter zum ersten Mal seit vielen Monaten wiedergesehen hatte. Es war auch das Erste gewesen, was er ihr gesagt hatte, doch hatte es bloß ein Lachen auf ihren Lippen und einen sanften Kuss auf seine Stirn zur Folge gehabt.

Abgesehen von den priesterlichen feingliedrigen Goldkettchen, die ihr von den Ohrläppchen bis zu den Nasenflügeln reichten, und dem reflektierenden Glanz ihres kahlgeschorenen Schädels hätte seine Mutter auch die Madame eines schmutzigen Stadtbordells sein können, in dem es gerade besonders hoch und angenehm herging. Sascheens ausdrucksloses Gesicht war gerötet von der Hitze so vieler zusammengepferchter Leiber und den vielen Gaslichtern in den rußigen Alkoven entlang der Wände. Überdies drang nicht der leiseste Luftzug durch das sonnenerhellte Portal in der Wand hinter ihr, das hinaus in die Herrscherloge führte. Sie stand mit leicht angewinkelter Hüfte da und hatte eine Hand auf ihr Becken gestützt. Unter ihrem hoch erhobenen Kinn drückten die schweren Brüste gegen das weiße Tuch ihrer Robe.

Verführerisch, aber gefährlich – das war der erste Gedanke, der den meisten Männern bei ihrem Anblick kam. Sie war vielleicht das Einzige, was Kirkus über seinen Vater wusste, denn sie deutete den Geschmack an, den er im Hinblick auf seine Gespielinnen gehabt hatte.

Die männlichen und weiblichen Priester im Raum redeten miteinander, diejenigen jedoch, die sich der Heiligen Matriarchin am nächsten befanden, schwiegen. Sie hörten Sascheen ehrerbietig zu, doch wenn sie aufgefordert wurden, etwas zu sagen, taten sie dies mit dem Mangel an Förmlichkeit, der bei den Hohepriestern von Q’os üblich war und der bei Kirkus bei der ersten Gelegenheit, zu der er den Hof des vorigen Führers Patriarch Nihilis aufgesucht hatte, für große Überraschung gesorgt hatte. Kirkus hatte ein größeres Maß an Pomp und Zeremonie erwartet, so wie es während der offiziellen Staatszeremonien zur Schau gestellt wurde.

Stattdessen verhielten sich die Hohepriester von Q’os wie unbehagliche Kameraden, die in eine große und unmöglich gewagte Verschwörung verwickelt waren, die ihnen zu nichts weniger als der Herrschaft über die ganze bekannte Welt verhelfen sollte. Die Achtung, die sie vor ihrer Heiligen Matriarchin zeigten, stammte nicht aus ihrem Respekt vor dem Amt, zu dem sie wie aus dem Nichts aufgestiegen war, sondern aus der Ehrfurcht vor ihrer Bereitschaft, auch die geringsten Anzeichen von Untreue im Keim zu ersticken, was sich im Tod vieler ihrer Gefährten zeigte.

Diese Bedrohung war ihnen auch jetzt nahe, nämlich in Gestalt der zwei riesigen Leibwächter Sascheens, deren Augen hinter einer Brille aus Rauchglas verborgen waren, so dass niemand sagen konnte, wohin sie gerade schauten, und ihre Hände steckten in giftgetränkten Kratzhandschuhen.

Kirkus hörte kaum dem zu, was seine Mutter und die anderen zu sagen hatten. Heute fand keine offizielle Versammlung des Hofes statt; es war nur ein freier Nachmittag hier in Schay Madi, an dem die Mitglieder der höheren Kaste die Gelegenheit ergriffen, sich zu treffen, während sie die Darbietungen in der öffentlichen Arena beobachteten. Doch es waren allesamt Männer und Frauen aus hohen Positionen, und sie konnten nicht umhin, auch hier um ihre Vorteile zu kämpfen.

Kirkus beachtete ihre unwichtigen Belange nicht weiter. Er kaute auf dem weichen Fleisch einer Parmadiofrucht herum und erbebte mit narkotischem Vergnügen bei jedem Biss auf die bitteren Kerne. Manchmal durchstreiften seine Blicke den Raum und beobachteten die Anwesenden, die den Dampf aus kochenden Schüsseln einatmeten und kalte Liköre tranken. Doch immer wieder blieb sein Blick an den großen Doppeltüren im hinteren Teil des Zimmers hängen.

Lara würde heute nicht erscheinen, wie er vermutete. Ihr letzter Geliebter General Romano war eingetroffen und besprach sich nun in einer Ecke mit General Alero. Als Kirkus den jungen General ansah, drehte der Mann den Kopf und erwiderte den Blick quer durch den Raum.

So etwas wie Hass lag darin.

Romano war der Neffe des letzten Patriarchen und wurde als das Wunderkind einer der ältesten und mächtigsten Familien des Ordens angesehen. Der junge Romano war der größte Rivale Sascheens um den Thron, auch wenn allgemein angenommen wurde, dass er das Ende ihrer Regentschaft abwarten würde, bevor er den Versuch unternahm, die Führerschaft an sich zu ziehen. Viele erwarteten von Kirkus, dass er selbst dann ebenfalls nach dem Amt des Patriarchen strebte. Lara hätte sich keinen Liebhaber aussuchen können, der Kirkus feindlicher gesonnen war.

Auf der anderen Seite des Raumes neigte Romano den Kopf in Kirkus’ Richtung. Kirkus verneigte sich ebenfalls und ließ ihn nicht aus den Augen.

Lara wäre zusammen mit Romano hergekommen, wenn sie überhaupt kommen wollte. Offensichtlich ging sie Kirkus noch immer aus dem Weg. Sein letzter öffentlicher Wutausbruch in den oberen Bädern des Tempels des Wisperns hatte sie beide in große Verlegenheit gebracht.

Er hatte gehofft, ruhig und erwachsen über ihre Lage reden zu können, als er Lara wiedergesehen hatte. Er hatte das Gefühl gehegt, sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt zu haben – zumindest während seiner Auslandsreise. Doch sobald sein Blick auf sie gefallen war, hatte sein Körper unter einer überwältigenden Schockreaktion gelitten, so dass Kirkus ihr, als sie in seinem Turm einfach an ihm vorbeigegangen war, ohne auch nur einen Blick in seine Richtung zu werfen, hinterher geschrieen hatte, und seine Stimme hatte so sehr vor Wut gezittert, dass es einige Zeit dauerte, bis er herausgefunden hatte, was er da überhaupt geschrieen hatte.

»Ich benötige Eure Zustimmung sehr bald«, murmelte die Priesterin Sool gerade seiner Mutter zu. »Es ist kaum mehr ein Monat bis zum Jahrestag des Augere el Mhann.«

Kirkus schluckte den Knoten in seinem Hals herunter. Er riss den Blick von den geschlossenen Türen am Ende des Zimmers los und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die allgemeinen Gespräche um ihn herum.

Die Priesterin Sool hielt den Kopf tief geneigt und spielte wie immer die treue Untergebene, auch wenn Kirkus vermutete, dass sie das ganz und gar nicht war. »Ich muss wissen, ob unsere Pläne für die Gedenkfeier passend sind. Schließlich begehen wir in diesem Jahr das fünfzigste Jahresfest der mhannischen Herrschaft. Vielleicht habt Ihr selbst ein paar Vorschläge.«

»Sag nicht so etwas«, erwiderte seine Mutter und machte mit der einen Hand eine abweisende Bewegung; mit der anderen hielt sie ihre Robe über den vorgestreckten Schenkel und verschaffte sich auf diese Weise etwas Kühlung. »Solche Entscheidungen überlasse ich ganz dir und deinen Leuten, wie du sehr wohl weißt. Glaube mir, mich beschäftigen im Augenblick ganz andere Dinge.«

»Ja«, sagte Sool unterwürfig und senkte den Kopf noch etwas tiefer. »Ich glaube, ich habe schon davon gehört. Bestimmt geht es um Mokabis neue Petition: einen weiteren Invasionsplan für die Freien Häfen. Dem alten Krieger bekommt sein Rentnerdasein offensichtlich nicht gut.«

»Wie immer hören deine Ohren nur Geflüster, das auf den Schwingen der Langeweile dahintreibt.« Es lag eine gewisse Ungeduld in der Stimme seiner Mutter – und eine Müdigkeit, die Kirkus in der letzten Zeit immer öfter bemerkte.

»Dennoch …«, fuhr Sool fort, hielt dann aber plötzlich inne.

Kirkus lachte. »Es ist gut, dass du und meine Mutter die besten Freundinnen seid«, scherzte er. »Wer sonst würde eurem Gezänk zuhören?«

Sool lächelte, auch wenn es eher wie eine Grimasse wirkte. »Eure Mutter hat Euch geboren«, sagte sie. »Ihr solltet ihr ein wenig mehr Respekt erweisen, junger Welpe.«

Zur Antwort zermalmte er weitere Kerne zwischen den Zähnen. Er sagte nicht, was er eigentlich hätte sagen können.

Kirkus hatte dieses Gespräch mit Interesse belauscht. Auf ihre eigene raffinierte Art war Sool für Kirkus immer so etwas wie eine mütterliche Tante gewesen; zumindest war sie so mütterlich, wie eine Frau im Orden je sein konnte, wo solche Bande durch Loyalität und Notwendigkeit bestimmt wurden, sicherlich nicht aber durch Liebe und nur selten durch Freundlichkeit. Als Junge hatte Kirkus im Tempel des Wisperns in den ausgedehnten Gemächern seiner Mutter und Großmutter gelebt. Die eine war die neue Glammari gewesen, die auserwählte Gespielin des Patriarchen, und die andere eine geachtete Ratgeberin in Glaubensfragen. Sool hatte die beiden Frauen oft dort besucht und war manchmal von ihrer Tochter Lara begleitet worden. An manchen Sommerabenden erzählte Sool ihnen Geschichten aus der Vergangenheit, während er und Lara nebeneinander auf dem Balkon seines privaten Gemachs saßen und die vielen Tiere, die er über die Jahre gesammelt hatte, in ihren Käfigen quiekten und lärmten, während das Abendlicht wie ein Leichentuch über der Stadt Q’os unter ihnen lag.

Von diesem hoch gelegenen Aussichtspunkt am Rande des Tempels war die Inselstadt deutlich sichtbar. An der Ostküste stach eine natürliche Landzunge rechtwinklig ins Meer, im Norden waren die vier künstlichen Aufschüttungen zu erkennen, die so sehr wie Finger aussahen; und die Fünf Städte, wie sie gemeinhin nur hießen, lagen mit ihren vielen Gebäuden und dem Gewimmel dazwischen unmittelbar am Ufer. Als Kind hatte Kirkus die Landschaft immer wieder von Ost nach West betrachtet. Es war möglich, die Insel als große, geöffnete Hand zu sehen, deren Innenfläche himmelwärts wies und deren letztes Landglied abgeschnitten und den gekürzten kleinen Finger der Anhänger von Mhann darzustellen schien. Als Junge hatte ihn dieser Anblick nie gelangweilt; schließlich hatte er mitten im Herzen der Stadt gehockt.

An jenen so lange vergangenen warmen Abenden hatte Sool ihre Geschichten in heiserem Flüsterton erzählt, als ob ihre Worte kostbare Gegenstände wären, die unbedingt beschützt werden mussten. Sie hatte ihm von der Zeit erzählt, als ihre eigene Mutter und seine Großmutter junge Frauen gewesen waren und im Verborgenen für den Kult während jener Zeit des Hungers und der Seuchen gearbeitet hatten, die als große Heimsuchung bekannt war. Sie beide waren wild und geistesverwandt gewesen und waren in den Orden eingetreten, weil sie beide denselben Liebhaber hatten, den sie ohne Streit miteinander teilten.

Beide hatten die Längste Nacht mitgemacht – jenen Abend, als die Stadt durch Feuer zerstört worden war. Gemeinsam hatten sie einen der höchsten Würdenträger der Stadt umgebracht, der in schwelgerischer Pracht in seinem Palast gelebt hatte, während die Stadt in Trümmern lag und überall Hunger herrschte. Beide hatten die fieberhafte Hinrichtung der Mädchenkönigin miterlebt und sogar ihren geringen Anteil daran gehabt. Sie hatten keuchend auf dem Bauch vor den Füßen des Hohepriesters Nihilis gelegen, als er zum Ersten Patriarchen von Mhann gesalbt wurde.

Sool hatte ihm und Lara diese Dinge und noch vieles andere erzählt und schien stolz auf die Nähe zwischen seiner und ihrer Familie und ihren gemeinsamen Aufstieg zur Macht zu sein. Erst als er älter war, begriff Kirkus die anderen Seiten dieser Geschichte. Er erinnerte sich daran, wie seine Großmutter nach einer Reinigungszeremonie erschüttert auf ihrem Bett gelegen und wie im Delirium geredet hatte, wobei sie Kirkus’ Arm ergriffen und ihn so in ihrer Nähe gehalten hatte, während sie ihm von der Ermordung von Sools Mutter, ihrer ältesten Freundin, erzählt hatte, weil diese von den Wegen Mhanns abgewichen war.

Es war ein Jahr her, seit Kirkus Sool zum letzten Mal gesehen hatte. Als er ihr nun im Gedränge des Vorzimmers gegenüberstand, sah er sie wie durch die Augen seiner Kindheit und fragte sich, wann er zu ihr diese besondere Verbindung verloren hatte, die er als Junge so genossen hatte. Vielleicht seit sich Laras und seine Wege getrennt hatten, aber als er genauer darüber nachdachte, stellte er fest, dass es schon viel früher geschehen sein musste – vermutlich seit er erwachsen war und in seinem Leben keine solchen Menschen wie diese freundliche, mütterliche Frau mehr brauchte.

Ich schiebe diese Frau einfach zur Seite, dachte er, als er in ihre blauen Augen und sie in die seinen schaute. Und damit auch all die Freundlichkeit, die sie mir je gezeigt hat.

Kirkus hob die Hände an die Brust und hielt sie dann nach außen in einer Geste des Entgegenkommens. Die Frau blinzelte überrascht.

Neben ihm räusperte sich jemand. Es war Cinimon, der Hohepriester der Monbarri-Sekte – des Kultes innerhalb des Kultes, dessen Mitglieder sich als Inquisitoren und Hüter des Glaubens bezeichneten und so von glühendem Eifer besessen waren, dass sie alle anderen verängstigten. Der Mann hatte eine Stimme, die an treibenden Kies in einem Fluss erinnerte, und sein Gesichtsausdruck war hinter der herabziehenden Last des ausladenden Gesichtsschmucks undeutbar.

»Dann stimmt es also?«, fragte er Sascheen. »Mokabi glaubt, er kann die Freien Häfen endlich einnehmen?«

Sascheen hielt den Kopf schräg und dachte über die Frage nach. »Das glaubt er wenigstens, obwohl wir noch kaum Zeit gefunden haben, seine Vorschläge zu überprüfen. « Sie warf Sool einen raschen Blick zu. »Ich werde mich bald mit meinen Generälen treffen und diese Angelegenheit besprechen. Natürlich wirst du der erste sein, der von unseren Entscheidungen erfährt.«

»Außerdem müssen wir zu einer Lösung in der Zanzahar-Frage kommen«, murmelte der kleine Buschrali hinter dem Rand seines Pokals. Er war der Hohepriester der Regulatoren und offensichtlich bereits betrunken. »Dieses Gezänk über Korn- und Salzpreise bringt uns keine Vorteile. Wenn wir unsere Preise nicht senken und das Kalifat seine Schutzgewässer zweihundert Laq in Richtung der Freien Häfen ausdehnt, was es schon angedroht hat, könnte dieser Zermürbungskrieg zu einem endlosen Krieg werden.«

Cinimon schüttelte den Kopf, wobei sein schwerer Gesichtsschmuck klimperte, unter dem die schwarzen Augen hervorblickten. Die Arme und Beine des Priesters wurden nicht von seinem einfachen weißen Talar bedeckt; sie waren wellig von den Scherben aus kostbaren Metallen, die dicht unter seiner Haut lagen und wie eine Ansammlung von Schlangen bis zu den Fußknöcheln und Sandalen reichten. Es hatte den Anschein, als ob sie jeden Augenblick durch die Haut brechen und als lebende Wesen über den Boden davonhuschen könnten. »Wir sollten dem Kalifat Forderungen stellen«, brummte der Priester. »Wir sollten darauf bestehen, dass sie den Freien Häfen nicht mehr das Korn verkaufen, das sie zuvor von uns gekauft haben. Das ist doch obszön. Sie versuchen nicht einmal mehr, diese Praxis zu verschleiern. «

»Wenn wir diese Forderung stellen, riskieren wir eine Handelsperre«, jammerte Buschrali und legte die Hand über die weinfleckigen Lippen, um ein Rülpsen zu verdecken. »Wo wären wir denn ohne den ständigen Nachschub an Schwarzpulver?«

»Dann sei es so«, unterbrach Kirkus, der nun an dem Gespräch so interessiert war, dass er sich einmischte. »Vielleicht ist es Zeit, dass wir das Monopol von Zanzahar auf die Probe stellen und herausfinden, wie lange sie ohne unser Getreide überleben können. Ich habe die Zahlen genauso gelesen wie alle anderen auch. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich so eindeutig sind.«

»Gut gesprochen«, stimmte Cinimon ihm zu, und auch seine Mutter sah ihn neugierig an, sagte aber nichts.

Buschrali zeigte seine Verärgerung, indem er mit dem Pokal umherwedelte und dabei den Marmorboden mit Wein besprenkelte, der wie Perlen aus Blut wirkte. »Die Zahlen stimmen, junger Herr. Unsere Vorräte an Schwarzpulver würden aufgebraucht sein, lange bevor Zanzahar gezwungen wäre, sich anderswo nach Getreide, Salz und Reis umzusehen. Glaubt Ihr etwa, sie würden etwas anderes zulassen? Glaubt Ihr, sie rationieren unseren Nachschub, nur weil sie nicht gern damit handeln? Sie wissen bis aufs Garan genau, wie viel wir im ganzen Reich eingelagert haben. Sie wissen genau, wie viel wir jeden Monat vor Bar-Khos und sonst wo einsetzen. Sie wissen sogar, wann der eine oder andere Vorrat so alt geworden ist, dass er nicht mehr benutzt werden kann.

Was glaubt Ihr, gegen wen meine Regulatoren so angestrengt arbeiten? Vielleicht gegen Rebellen und Häretiker? Ja, auch, denn jede Woche übergeben wir Hunderte solcher Verräter Cinimos Monbarri, nachdem wir mit ihnen fertig sind. Aber ich sage Euch: Mindestens die Hälfte der Berichte, die ich lese, beziehen sich allein auf die El-mud. Der Nachtflügel hat seine Augen und Ohren überall, und wir haben noch immer keinen Weg gefunden, ihn auszuschalten.«

Der Mann hielt inne, als er die Verärgerung in Kirkus’ Augen sah. Endlich schien er sich daran zu erinnern, mit wem er sprach, denn plötzlich wurde er rot, und sein kahler Kopf stand in starkem Kontrast zu dem brennenden Gesicht. Er sah kurz Sascheen und die beiden Leibwächter neben ihr an. Der Mann verneigte sich tief. »Vergebt mir«, sagte er zu Kirkus. »Ich scheine zu viel getrunken zu haben und halte einem erwachsenen Mann Vorträge, als ob er noch ein kleiner Junge wäre.«

Kirkus sah ihn noch immer finster an und genoss es, wie sich der kleine Mann wand. Es war Cinimon, der schließlich das Schweigen zwischen ihnen brach.

»Ich glaube, Buschrali, Ihr solltet der Letzte sein, der einen solchen Mangel an Fähigkeiten zugibt.«

»Im Gegensatz zu anderen verwässere ich die Wahrheit nicht«, gab er zurück. Mit gefassterer Stimme sprach er nochmals Kirkus an. »Diese Wüstenmenschen aus Zanzahar machen schon seit tausend Jahren eine wahre Kunst aus Verwirrung und Desinformation. Ihr könnt nicht hoffen, sie lange zu täuschen. Die Agenten der Elmud sind der wahre Grund für die Monopolstellung Zanzahars. Wir könnten nicht einmal den Plan fassen, das Kalifat anzugreifen, ohne dass sie es wüssten. Es ist eigentlich schon zu riskant, über solche Dinge hier in diesem Raum zu reden, in dem sich nur die loyalsten Personen aufhalten.«

»Darum reden wir nur«, unterbrach Sascheen ihn sanft. »Wir haben nichts mit Zanzahar vor, weder jetzt noch später.« Ihre Worte klangen ehrlich, auch wenn Kirkus bemerkte, dass seine Mutter nicht die ganze Wahrheit sagte. Sein ungläubiges Brummen handelte ihm einen warnenden Blick von ihr ein. Rasch verbarg er sein Lächeln, indem er noch einmal in die Parmadio biss.

»Hast du etwa die Geschichtsstunden vergessen, für die ich so unnachgiebig gesorgt habe?«, tadelte sie ihn. »Weißt du nicht mehr, wie Markesch gefallen ist, als es sich eine Handelssperre eingehandelt hat, weil es die Inseln des Himmels und deren Schwarzpulverquellen für sich haben wollte?«

Er kannte diese Geschichte durchaus, aber er nahm den Köder nicht an. Er kaute weiter und beobachtete seine Mutter genauso eingehend wie sie ihn.

»Da es keine Kanonen zur Verfügung hatte, wurde es innerhalb eines Jahrzehnts von seinen Feinden geschluckt. Das solltest du in Erinnerung behalten, mein Sohn. Markesch war kaum schwach zu nennen. Sein Handelsimperium war so einflussreich, dass selbst heute noch das ganze Midèrē̄s seine Sprache spricht. Wenn dieses Reich nicht gewesen wäre, würden wir heute noch eiserne Kübel statt Kanonen und hohle Stecken statt Gewehre benutzen. Dennoch ist es untergegangen. Glaubst du wirklich, dass uns ein solches Schicksal nicht ereilen könnte?«

»Im Gegensatz zu ihnen sind wir Mhannier.«

»Ja, wir sind Mhannier. Aber wir sind nicht unverwundbar. Das hätte dir doch deine kürzlich erfolgte Erwählung klarmachen müssen, oder?«

Sie sagte nichts mehr – nicht vor den anderen.

Kirkus warf den Kern der Parmadio einem vorbeigehenden Sklaven zu und wischte sich die Hände an seiner Robe ab. Er sagte nichts weiter, als sich das Gespräch anderen Themen zuwandte.

Seine Mutter war bei seiner Rückkehr so wütend gewesen, dass sie ihn beinahe geschlagen hätte, denn sie hatte erfahren, dass er während seiner Erwählung eine Siegelträgerin getötet hatte.

»Glaubst du etwa, sie werden nicht versuchen, ihn hier zu erwischen?«, hatte sie seine Großmutter angeschrieen.

»Falls sie es tatsächlich versuchen sollten, haben wir Möglichkeiten zu seiner Verteidigung«, hatte er seine Großmutter durch die schwere Tür, an der er gehorcht hatte, sagen gehört. »Beruhige dich, mein Kind. Wir sind nicht so hoch gestiegen, nur um uns vor solchen Leuten wie den Rōschun zu fürchten. Solche Sorgen sind nichts als Schwäche. Du musst dich davon befreien. «

Kirkus hatte zunächst keine derartigen Sorgen verspürt. Die Erwählung hatte ihn in gewisser Weise verwandelt. Seine gewöhnliche alltägliche Überheblichkeit war tiefer in ihn eingesunken, so dass er jede Tat, die er beging, als rechtmäßig ansah, ob sie nun wesentlich oder unwesentlich war. Immer wenn er mit den Fingern etwas berührte, war ihm bewusst, dass diese Finger ein Leben ausgelöscht hatten. Er hatte seinen Willen dieser Aufgabe unterworfen, und ihre Ausführung war gar nicht so schwierig gewesen. Am Ende hatte Kirkus einen kurzen Vorgeschmack auf das Göttliche Fleisch erhalten.

Nach seiner Rückkehr in den Tempel hatte er eigentlich erwartet, dass Lara auf ihn wartete und sich den neuen Mann ansah, zu dem er geworden war. Er hatte gehofft, sie würde in seine ausgebreiteten Arme fliegen und zutiefst befriedigende Tränen des Bedauerns vergießen. Das Letzte, was er erwartet hatte, war eine Fortführung ihrer alten Feindschaft.

Nach dieser jüngsten Zurückweisung hatte sich Kirkus immer mehr in seine Privatgemächer zurückgezogen und seine anderen Freunde immer öfter abgewiesen. Häufig dachte er an das Siegel, das um den Hals des getöteten Mädchens gehangen hatte. Ungebetene Geschichten über die Rō̄schun und die unglaublichen Mythen, die sie umgaben, drängten sich ihm auf. Er spürte, wie die Angst in seinem Bauch wirbelte und sein neues Machtgefühl allmählich wieder abnahm.

Es würde noch weitere Erwählungen und Reinigungen geben. Er würde die Macht erneut spüren und sie verinnerlichen, bis sie untrennbar zu ihm gehörte. Aber nun empfand er nagende Sorgen, wenn er nachts wach lag und auf das Schließen ferner Türen lauschte und auf die Stille, die keine Stille war, sondern eine Kakophonie von Lauten, die zu leise für ihn waren.

Kirkus schaute hinunter auf seine Hände und spürte den klebrigen Schweiß an ihnen. Seine Nase schien vom hereingewehten Staub der Arena verstopft zu sein.

Ich muss mich waschen, dachte er.

Er drehte sich um und wollte sich entschuldigen, doch da sah er, wie der Priester Heelas vom Eingang zur Herrscherloge herbeikam. Für einen Augenblick war er von den Spitzenvorhängen umhüllt, während er durch dunstiges Sonnenlicht in das Vorzimmer schritt. »Heilige Herrin«, sagte der Verwalter seiner Mutter und verneigte sich. »Das Volk ruft nach Euch.«

Die Stimmen im Raum verstummten. Der Lärm der Menge draußen war inzwischen zu einem gewaltigen Gesang angeschwollen, den Kirkus bis in den Magen spürte.

»Dann sollten wir gehen und sie erfreuen«, sagte Sascheen, und ihr Lächeln wurde etwas heller.

Kirkus wischte sich abermals die Hände an der Robe ab und folgte ihr seufzend nach draußen; die Hohepriester liefen hinter ihnen her.

Als Sascheen erschien, brüllten hunderttausend Stimmen begeistert von den Rängen der gewaltigen Arena. Sascheen hob die Hand zum Gruß, und für einen Augenblick vergaß Kirkus seine persönlichen Sorgen und spürte, wie Erregung in ihm aufquoll.

Es war kühl in der Herrscherloge, die für die Heilige Matriarchin und ihre Hohepriester reserviert war; der Himmel darüber war wolkenlos und hell. Auf dem Sandboden der Schay-Madi-Arena drängte sich eine Schar angeketteter nackter Männer und Frauen aneinander; sie wirkten wie die Überbleibsel einer Naturkatastrophe. Es waren Häretiker aus dem ganzen Reich, die bei der Ausübung ihrer alten Religionen – ein verstohlenes Zeichen an einen der Geistergötter, ein Gebet an den Großen Narren – erwischt und von einem Nachbarn oder sogar ihren Verwandten verraten worden waren.

In ihren Reihen befanden sich auch Arme – Heimatlose und Verkrüppelte sowie solche, die kaum für sich selbst sorgen und schon gar nicht wohlhabend werden konnten. Diese Menschen wurden in den Augen von Mhann als Versager angesehen, als Parasiten und Aasfresser und so weit wie möglich entfernt vom Göttlichen Fleisch.

Einer nach dem anderen wurde von den weiß gewandeten Mitgliedern der Monbarri, Cinimons harten Inquisitoren, deren schwerer Hautschmuck dunkel im Sonnenlicht schwang, gebrandmarkt. Einige würden von hier zu den Salzpfannen des Hochseng geschickt, wo sie den Rest ihres kurzen Lebens mit schwerer Arbeit verbringen müssten. Doch die meisten wurden zu Entrechteten in den Städten des Reiches, wo sie entweder körperliche Arbeit zu leisten hatten oder als Sexsklaven gehalten wurden. Die Nutzlosen dienten als Unterhaltung für die Menge hier in der Arena.

Das Brandmarken wurde rasch beendet, nun, da Sascheen mit erhobenen Armen in ihrer Loge stand. Die Monbarri warteten schwitzend mit ihren Seilschlingen und rauchenden Eisen in den Händen auf die Worte der Heiligen Matriarchin. Die Menge verstummte.

Sascheen sprach mit hoher klarer Stimme, die durch die gesamte Arena drang. Sie sagte der Menge das, was sie von ihr hören wollte: dass sie in ihrer Anbetung die Gesamtheit von Mhann darstellten und dieses große Reich gemeinsam durch ihre Treue errichtet hatten. Sie waren die Sieger des Lebens, verkündete Sascheen, denn sie hatten geholfen, den wahren Glauben zu verbreiten, und auch wenn der Tod kam und sie zu sich nahm, wurden sie noch immer die Sieger sein.

All das war Unsinn, wie Kirkus nur zu gut wusste, als er über die zusammengetriebenen Massen schaute, doch die Kraft des Augenblicks ließ auch ihn vor Stolz anschwellen. Er sah hinunter auf den Boden der Arena und lechzte nach den weißen Flanken der nackten Frauen, die sich in der Mitte aneinanderdrängten. Jede stand mit dem Gesicht zur Mitte hin, als ob sie allesamt ihre Scham verbergen und die Augen vor ihrer Umgebung abschirmen wollten. Kirkus hörte ihr erschöpftes Schluchzen, und aus der Ferne drang das schrille Schreien der Möwen von der Bucht des Ersten Hafens herbei.

Plötzlich packte ihn seine Mutter am Handgelenk und überraschte ihn, als sie es in die Luft riss und der Menge seinen Namen zurief. Wieder ertönte allgemeines Brüllen.

Kirkus spürte Feuchtigkeit in den Augen. Und das sanfte Stechen der Gänsehaut. Wieder einmal war er von Mhann erfüllt und vom Bewusstsein seiner eigenen Wichtigkeit.

Seiner Göttlichkeit.