KAPITEL NEUN

Wildnis des Geistes

»Was ist das?«

»Ein Busch.«

»Das sehe ich, aber was ist so besonders daran?«

»Was meinst du damit?«

»Warum stehen wir hier und starren ihn an?«

Genau das taten sie. Sie standen da und stierten auf einen kleinen grünen Busch neben einem gurgelnden Gebirgsbach. Es war am frühen Morgen; die Sonne schien ihnen grell in die Augen. Von der vergangenen Nacht hatte Nico schreckliche Kopfschmerzen.

»Hast du je zuvor einen solchen Busch gesehen, Nico?«

»Ich weiß nicht.«

»Dann sieh ihn dir mal genauer an. Betrachte seine Früchte.«

Nico beugte sich vor. Die Beeren waren klein und ölig schwarz. Sie waren mit seltsamen weißen Flecken gemustert, die ein wenig wie Schädel aussahen. »Nein, ich glaube nicht.«

»Nein, das hast du nicht. Es gibt nur wenige dieser Büsche auf der Insel Cheem. Sie wurden aus Zanzahar hierhergebracht, und dorthin kamen sie ursprünglich von der Insel des Himmels.«

Nico hörte ohne große Aufmerksamkeit zu. Sein Magen war heute Morgen gefährlich unruhig, und er wollte nichts anderes als sich hinlegen und für den Rest des Tages zusammenrollen. Wenn sich das Cheemfeuer am nächsten Morgen immer so anfühlte, dann würde er dieses Zeug nie wieder trinken, schwor er sich.

»Meine Erinnerung, Nico«, sagte Asch, während er vor dem Busch in die Knie ging. Er pflückte zwei Beeren vom selben Ast und warf sie in seinen zerbeulten Zinnbecher. Nico beobachtete ihn abwartend. Der alte Mann seufzte und hielt inne.

»Als wir zum ersten Mal nach Cheem kamen, um hier unseren Orden zu gründen«, berichtete er, »taten wir das, weil schon viele ältere Sekten in diesen Bergen entstanden waren – religiöse Orden an abgelegenen Orten, wo Weisheitssucher sich vor der Welt der Menschen zurückziehen konnten. Hier leben nur wenige. Es ist eine Wildnis, in der man sich leicht verlieren kann.

Aber das reichte nicht aus, um unseren Orden vor allen neugierigen Augen zu schützen. Wir befürchteten, dass ein Rō̄schun, falls er gefangen genommen wurde, den Ort unseres Klosters verraten und uns alle in Gefahr bringen könnte. Daher wurden unsere Erinnerungen an diesen Ort … verändert. Sie wurden in der Tiefe vergraben. Der Seher in Sato kennt die Methoden, mit denen das erreicht wird.« Asch zerquetschte die Beeren mit Hilfe eines abgebrochenen Zweiges langsam und sorgfältig und schenkte dieser Arbeit seine ganze Aufmerksamkeit.

»Wenn ich den Saft dieser Beeren zu mir nehme, öffnen sich mir die Erinnerungen, die vor mir verborgen sind, und zeigen mir den Weg.«

Asch spuckte in den kleinen Becher und hielt ihn Nico entgegen, damit er dasselbe tat. Nico runzelte die Stirn, beugte sich vor und spuckte ebenfalls in das Gefäß. Asch verrührte die breiige Masse noch ein wenig. »Wenn ich sie nicht richtig zubereite«, gestand er fröhlich, »kann sie tödlich sein.«

Er bedeutete Nico, sich neben ihn zu knien. Zuerst zögerte Nico und fragte sich, was der alte Mann nun mit ihm vorhatte. Trotzdem kniete er sich hin. Das Ende des Zweiges tauchte aus dem Becher auf, und Asch hob ihn an Nicos Stirn, worauf dieser sofort zurückschreckte.

»Beweg dich nicht, Junge.«

»Warum muss ich das nehmen?«

»Damit du dich nicht an den Weg erinnerst.«

Asch betupfte Nicos Stirn mit dem Gebräu und summte dabei leise etwas. Dann trug er die gleiche Lösung auf seine eigene Haut auf.

»Und was jetzt?«, fragte Nico, als der alte Mann seinen Becher auswusch. Der blaue Fleck auf seiner Stirn war schon eingetrocknet und rot geworden.

»Entspann dich. Nimm’s leicht. Es kommt ganz langsam. «

Also entspannte sich Nico. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und schlief sofort ein.

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Die Träume kamen über ihn wie schwarzer Teer, der durch den Boden quoll. Sie hüllten ihn langsam und unausweichlich ein, drängten durch all seine Poren bis in den Kopf, und bald waren seine Gedanken ebenfalls wie Teer.

In diesen Träumen schien er bisweilen vollkommen wach zu sein. Es herrschte Zwielicht, sein Meister führte ihn, sie saßen auf Mauleseln und mühten sich durch silbrige Wälder voran, in denen selbst der Wind keinerlei Geräusch oder Bewegung hervorbrachte. Der Himmel über ihren Köpfen wirkte grau und ausgewaschen, und er schien tiefer als gewöhnlich zu hängen und sie beinahe zu zerquetschen. Wolken jagten über ihn hinweg, waren blau eingefärbt durch die Schwestermonde, die viel höher und schneller durch den Himmel trieben, als es eigentlich hätte möglich sein sollen. Nico beobachtete sie eine Weile, bis die Monde hinter Wolken verschwanden, eine weiß und eine blau, und die Zeit selbst schien in ihm zu pulsieren, endlos, regelmäßig, kreisförmig, und bevor er es erkannte, waren die Wolken und die Monde verschwunden, und es herrschte wieder Tageslicht, auch wenn es wässerig und dünn war und die Nacht noch in ihm schwebte. Sie trieben ihre Maulesel durch ein tiefes, felsiges Tal. Asch sang ein einfaches fremdes Lied aus vollem Hals, die Echos hallen von den Schieferwänden wider und erschufen eine Harmonie, die Nico noch nie gehört hatte.

Aus irgendeinem Grund weinte Nico, als sie sich um ein kleines Feuer aus erbärmlichem Gezweig in einer Höhle kauerten, in der es nach Fledermausexkrementen und Algen stank. Asch weinte ebenfalls und erzählte schluchzend von der Familie, die er vor so vielen Jahren verloren hatte, von seiner geliebten Frau und seinem kleinen Sohn; und als Nico ihn ansah, konnte er sich plötzlich nicht mehr beherrschen, und sein eigenes Schluchzen verwandelte sich in Gelächter, und Asch wurde wütend und brüllte ihn wieder in dieser fremden Sprache an, deren Worte eher nach einem Knurren klangen, doch das machte es für Nico nur noch schlimmer, und er zeigte auf den immer wütender werdenden alten Farlander und brüllte: »Es ist alles verloren! Es ist alles verloren!«, bis Asch nach ihm griff, aber das Gleichgewicht verlor, nach vorn fiel, über die Flammen rollte – die dadurch ausgelöscht wurden – und nicht mehr aufstand.

Nein, das stimmte nicht, denn es regnete, und sie glitschten durch den Schlamm, während sie die Mulis einen Hang hochtrieben, über den Ströme aus eiskaltem Wasser hinabschossen, und die Wolken hingen so tief und waren so dunkel, dass es unmöglich zu sagen war, welche Tageszeit gerade herrschte, und vor ihnen donnerte ein großer, in Nebel gehüllter Wasserfall, und die feine Gischt durchnässte sie bis auf die Knochen. Näher und näher kamen sie dieser Kaskade über einen schrecklichen Pfad, der sich an einem tausend Fuß tiefen Abgrund entlangwand. Sie schritten geradewegs durch den Wasserfall und drangen in einen Tunnel ein, der unheimlich grün vor pelzigen Flechten an den Wänden glühte. Der alte Mann rief etwas Beruhigendes in all diesem Lärm, der so laut war, dass Nico Asch nicht verstand. Das andauernd niederstürzende Wasser erschütterte seinen Magen und auch seinen Geist.

Und dann träumte er gewiss, denn er befand sich gar nicht mehr in den Bergen von Cheem, sondern auf einer weiten, gewellten Grasfläche, die sich auf ewig unter einer schwachen und milchigen Sonne zu erstrecken schien. Ein vereinsamter Vogel kreiste im Himmel. Fliegen schwebten in Wolken dicht über dem Gras, aber keine anderen Tiere waren zu sehen und keinerlei Laute zu hören. In einem einzigen Augenblick stieg die Nacht hernieder. Die Zwillingsmonde leuchteten über ihnen. Er schaute hinunter auf einen Mann, der sich unter einem kümmerlichen Baum zusammengerollt hatte, in Tierhäute eingewickelt war und fest schlief. Der Mann war nicht allein. Gestalten bewegten sich still auf ihn zu. Nico konnte sie kaum erkennen, aber sie schienen Alpträumen entsprungen zu sein, denn sie sahen aus wie Insekten, wie Spinnen oder Ameisen, doch sie waren ungeheuer groß – so groß wie Maulesel, und sie rannten nicht, sondern krabbelten.

Nico erkannte, dass es ein Traum war, aber er war anders als alle, die er je gehabt hatte. Er selbst schien sich nicht in diesem Traum zu befinden – er schwebte eher als körperlose Gestalt darüber und beobachtete den Alptraum eines anderen. Es war etwas Seltsames daran, denn er schien diesen Mann zu kennen, obwohl er in der Dunkelheit sein Gesicht kaum wahrzunehmen vermochte.

Plötzlich brüllte Nico den vertrauten Fremden an, er möge aufwachen, seine Waffen einsammeln und sich verteidigen, aber es half nicht, denn kein Laut drang aus seinem Mund. Er brüllte noch lauter, kreischte sogar, als sich die Schatten um den Schlafenden scharten. Doch das Einzige, was sich regte, war eine leichte Brise, die in ein paar Blättern des Baumes raschelte, unter dem der Mann schlief.

Eine Samenkapsel löste sich von einem ansonsten völlig kahlen Ast. Möglicherweise war es der letzte Same des Baumes. Er wurde vom Wind ergriffen und segelte langsam erdwärts, bis er sich auf der Wange des Schlafenden niederließ.

Sofort war der Mann wach, auf den Beinen und kämpfte um sein Leben.

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»Junge!«

Nico erwachte ruckartig und rang nach Luft.

Asch schüttelte ihn leicht und hielt ihm einen Becher mit dampfendem Chee entgegen. Nico blinzelte ihn benommen an. Für einige Sekunden war er nicht in der Lage, sich zu bewegen, dann setzte er sich unter großen Mühen auf.

Er drehte den Kopf und sah sich um. Sie befanden sich anscheinend in einem weiteren tiefen Tal.

»Ganz ruhig, Junge«, sagte der alte Farlander und schloss Nicos Finger um den Becher. Heute Morgen lag eine gewisse Wildheit in seinem Blick.

»Sind wir schon da?«, fragte Nico.

»Fast. Wie fühlst du dich?«

Ein Ächzen war Nicos Antwort. Er fühlte sich ausgesprochen verletzlich, und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Augen. Seine Kleidung war zerrissen und mit Schmutz und Blättern übersät. Asch sah nicht besser aus; seine Robe hing in Fetzen an ihm herab, sein Gesicht war dreckig und zeigte den stoppeligen Beginn eines grauen Bartes. »Wie lange …?«, setzte Nico an und wusste nicht, wie er den Rest seiner Frage ausdrücken sollte.

»Fünf Tage, glaube ich … vielleicht auch mehr. Du hast dich gut geschlagen. Du hast es überstanden.«

Nico nippte an dem heißen Chee und schmeckte ihn kaum. Er musste sich unbedingt die Zähne putzen. Nun, da er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, betrachtete er seine Umgebung genauer. Sie befanden sich in einem tiefen Tal, das der Länge nach von einem breiten Fluss geteilt wurde, der sich ruhig an ihrer Lagerstätte vorbeischlängelte, während die beiden Maultiere nur wenige Fuß von ihnen entfernt grasten.

Er richtete den Blick stromaufwärts, vorbei an den Binsen, die in großen Mengen das gewundene Ufer säumten, und betrachtete das gelbe Grasland, das sich über den gesamten Talboden erstreckte und in einer Morgenbrise erzitterte, die den Duft von heißem Kisch und gebratenem Knoblauch sowie gelegentlich einer Andeutung von Gelächter mitbrachte. Am Eingang des Tals erhob sich ein großes Gebäude aus roten Ziegelsteinen mit einem Turm an der einen Ecke. Es war von einem kleinen Wald aus niedrigen goldfarbenen Bäumen umgeben.

An diesem Morgen ließen sie sich Zeit, das Lager abzuschlagen. Nico saß still da, bis der Chee seinen leeren Magen beruhigt hatte, und genoss müßig den Anblick der Umgebung, während das kleine Lagerfeuer die Halmfliegen abhielt. Asch rasierte und wusch sich im Fluss, in dem er nackt und bis zur Hüfte im Wasser stand und manchmal vor Kälte jauchzte. Nico versuchte sich das wenige in Erinnerung zu rufen, was er aus den letzten fünf Tagen noch wusste … es waren bloße Bruchstücke, lebhafte Szenen, die durch das Nichts eingerahmt wurden, und ein noch rätselhafterer Traum von einem Mann, den er irgendwie gekannt hatte. Nichts davon ergab für ihn einen Sinn.

Schließlich entschied er, dass er sich endlich waschen und die Zähne putzen musste. Er legte diese nutzlosen Erinnerungen zusammen mit seiner Kleidung ab, holte aus seinem Gepäck ein Stück Seife und den kleinen Stecken und gesellte sich zu Asch in den langsamen, eiskalten Bergstrom. An manchen Stellen war er so tief, dass man darin schwimmen konnte, und damit verbrachte Nico den größten Teil des Morgens. Er schwamm oder trieb auf dem Rücken, während die Sonnenstrahlen auf ihn niederfielen und gelegentlich eine scheue Regenbogenforelle um seine Zehen herumsprang. Seine steifen, überbeanspruchten Muskeln entspannten sich allmählich. Seine vielen Schnitt- und Schürfwunden brannten unter der willkommenen Frische des kalten Stroms.

Als Nico sich mit seinem Hemd abtrocknete und in der kühlen Brise zitterte, stellte er fest, dass er einen kleinen Busch anstarrte, der am Ufer des Flusses wuchs. Es war der Gleiche wie jener, der sie auf die seltsame, vier oder fünf Tage lange Reise durch die Berge geschickt hatte, und auch dieser trug ölig schwarze Beeren mit weißen Mustern. Nico richtete Aschs Aufmerksamkeit darauf.

»Ja, wir werden die Beeren wieder benutzen, wenn wir von hier weggehen«, erklärte der alte Mann. »Mach dir keine Sorgen«, fügte er hinzu, als er Nicos Besorgnis bemerkte, »wir werden viele Monde hierbleiben.«

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Nico spürte, dass sie beobachtet wurden, als sie auf den Mauleseln den Aufstieg aus dem Talgrund begannen. Asch bemerkte seinen suchenden Blick, als Nico die Felsvorsprünge in der Nähe betrachtete. »Du verschwendest deine Zeit«, war alles, was Asch dazu zu sagen hatte, während er sein Muli vorantrieb.

Es dauerte länger, als Nico erwartet hatte, bis sie bei dem Kloster angekommen waren. Rauch stieg träge aus den vielen Kaminen des Gebäudes auf, und die Läden der scheibenlosen Fenster waren weit geöffnet und ließen den Tag hinein. Als sie sich dem Wäldchen näherten, von dem das Gebäude umgeben war, kamen sie an ummauerten Gärten vorbei, in denen Gestalten in schwarzen Roben arbeiteten. Es waren Männer von höchst unterschiedlicher Herkunft, die in der heißen Bergsonne schwitzten; einige lachten oder unterhielten sich während der Arbeit miteinander, andere waren allein und konzentrierten sich ganz auf ihre Tätigkeiten.

Viele begrüßten Asch, als er an ihnen vorbeikam, und hoben die Faust zum Salut. Andere verneigten sich mit gefalteten Händen im traditionellen Gruß des Weges, dem Sami, und ihre Münder verzogen sich zu leisem Lächeln.

»Asch!«, rief ein alter Farlander, der ein Lächeln voller Zahnlücken zeigte und auf bloßen Füßen zu ihnen eilte, während er mit den Händen den schmutzigen Saum seiner Robe anhob. Er war etwa so alt wie Asch, hatte die gleichen ungewöhnlichen Gesichtszüge, war aber untersetzter und trug mitten auf dem Kopf einen Knoten aus schwarzem und silbernem Haar. »Beim Dao, ich habe geglaubt, du bist im Eis begraben.«

»Wie geht es dir, alter Freund?«, fragte Asch.

»Besser, jetzt wo ich sehe, dass du gesund zu uns zurückgekehrt bist. Und nicht allein, wie ich feststelle.«

»Das hier ist mein Lehrling.« Asch zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf Nico. »Nico, begrüße diesen alten Narren, der auf den Namen Kosch hört.«

Der Mann riss die Augen noch weiter auf, als Nico ihm ein zaghaftes Lächeln schenkte. »Ein Stiller«, bemerkte Kosch gutmütig.

»Kaum. Er spricht nur, wenn es ganz und gar unerwünscht ist.«

»Ich will euch beide in Ruhe lassen, damit ihr erst einmal richtig ankommen könnt. Aber heute Abend werden wir etwas miteinander trinken, und du musst mir Geschichten von deiner Reise erzählen.« Der Mann klopfte Aschs Muli auf das Hinterteil, damit es sich in Bewegung setzte. Nico folgte ihm, drehte sich im Sattel um und sah, wie der Rō̄schun sich steif aufrichtete und dann respektvoll vor Aschs Rücken verneigte, während dieser allmählich davonritt.

»Diese Bäume …«, begann Nico, als die Maultiere über den knirschenden Kiesweg schritten, der durch den Wald führte. Die Bäume waren klein und hatten eine goldbraune Rinde sowie Kronen aus kupferfarbenen Blättern und rötlichen Blüten, die wie Sterne geformt waren. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Das sind Malibäume. Sie stammen ebenfalls von den Inseln. Von ihnen bekommen wir die Siegel.«

»Aus den Samen?«

»Ja.«

»Wachsen die Samen zu den Siegeln aus?«

Asch seufzte. »Die Samen sind die Siegel, Nico. Allerdings sind diese besonderen Bäume, die du um dich herum siehst, allesamt unfruchtbar und werden nie wieder Samen tragen.« Der alte Mann zerrte an dem toten Siegel, das er noch immer um den Hals trug. »Ich suche einen passenden Ort am Rande des Waldes und werde dieses hier begraben. Nach kurzer Zeit – schneller, als du es dir vorstellen kannst – wird es zu einem dieser Bäume werden, aber wie der Rest von ihnen wird er keine anderen hervorbringen, da er aus einem Siegel stammt, das nicht mehr atmet.«

»Also ist dieser Wald … sind all diese Bäume …« Mit offenem Mund starrte Nico den Wald um ihn herum an, der aufgrund einer vorübergehenden völligen Windstille nicht mehr das leiseste Geräusch von sich gab. »Sie alle sind aus den Siegeln der Toten gewachsen?«

»Ja – jeder einzelne von ihnen.«

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Auf dem offenen Gelände vor dem Kloster übten sich einige Männer im Bogenschießen. Sie befanden sich auf einer weiten Rasenfläche, die von einigen herumwandernden Bergziegen kurzgehalten wurde. Die Tiere schienen sich nicht an den Pfeilen zu stören, die unmittelbar über ihren Köpfen durch die Luft schwirrten.

Nico beobachtete, wie der älteste der Bogenschützen, der einzige Farlander unter ihnen, vortrat, als er an der Reihe war. Vielleicht lächelte er, aber es war schwer zu sagen, denn seine Haut war so runzlig und der Rücken so gebogen, dass sein Gesicht zu Boden zeigte, als wollte es herunterfallen. Ohne aufzuschauen holte er tief Luft und hielt den Atem an. Als er die Luft wieder ausstieß, streckte er den Rücken, bevor er die Sehne spannte und den Pfeil in einer einzigen fließenden Bewegung abschoss. Er bewegte sich nicht, bis sein Pfeil aus dem Himmel fiel und genau die Mitte der fernen Zielscheibe traf.

»Ha!«, rief Asch anerkennend aus, während die Maultiere sie auf die Gruppe zu trugen.

Sie klapperten durch einen schmalen Eingang an der Seite und betraten einen Hof aus staubiger Erde, der an allen vier Seiten vom Klostergebäude begrenzt wurde. In der Mitte dieses Hofes standen einige weitere Malibäume, sieben insgesamt, die von einem weißen Lattenzaun umgeben waren. Eine seltsame Stille lag über diesem engen Platz, in dessen Mittelpunkt ein Dutzend Gestalten in Roben im Schneidersitz auf dem Boden saßen; jede lehnte mit dem Rücken gegen einen der Bäume. Die Männer befanden sich in tiefer Meditation und schenkten den Neuankömmlingen keine Aufmerksamkeit – bis auf einen bärtigen Alhazii, der eine ärmellose Weste trug. Er gähnte, als er sie sah, stand auf und schlenderte durch das Morgenlicht auf sie zu.

»Du bist wieder da«, sagte der große Mann, als sie von ihren Maultieren abstiegen.

»Baracha«, begrüßte Asch ihn, und der Alhazii neigte leicht den Kopf.

»Du siehst gut aus für einen Mann, der angeblich tot ist.«

Das Maultier zerrte ungeduldig an den Zügeln in Aschs Hand. »Es war knapp«, gestand er ein und beruhigte das rastlose Tier. »Was gibt es Neues seit meiner Abreise?«

»Nicht viel, was von Interesse wäre.« Baracha zuckte die mächtigen Schultern. »Natürlich haben wir alle für deine sichere Rückkehr gebetet.« Er legte die Hand auf das Maul von Aschs Tier, während er sprach, und sah dem Muli fest in die Augen, bis es sich versteifte und ruhig wurde.

»Wer ist das?«, fragte er und lenkte damit Nicos Aufmerksamkeit von den meditierenden Rō̄schun in der Mitte des Hofes ab. Aus der Nähe sah er deutlich die vielen Tätowierungen auf der dunklen Haut des Mannes. Die fließende, winzige Alhazii-Schrift bedeckte ihn vollständig, sogar das bärtige Gesicht. Es waren zweifellos heilige Verse. Nico hatte gehört, dass diese Wüstenmänner sie gern herzeigten. Der Blick der dunklen Augen glitt eindringlich über Nico, bevor er zu Asch zurückkehrte.

»Mein Lehrling«, erklärte Asch, und Nico bemerkte die feine Veränderung in Barachas Miene. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich vor Überraschung ganz kurz an.

Baracha lächelte, als er den Blick wieder auf Nico richtete. »Dann muss er hohen Erwartungen gerecht werden.«

Sein Lächeln ist falsch, dachte Nico und erkannte, dass der Mann ihn auslachte. Ein Funke der Wut flackerte in ihm auf. Er wollte sich auf irgendeine Art beweisen.

Nico deutete auf die Malibäume in der Mitte des Hofes. »Warum stehen sie so allein?«

»Allein«, wiederholte Baracha und drehte sich zu ihnen um.

»Meister Asch hat mir vorhin gesagt, dass Ihr Eure leblosen Siegel draußen im Wald eingrabt. Ich frage mich, warum diese sieben hier wachsen.«

»Kannst du dir das nicht vorstellen?«, fragte der Alhazii ihn.

Doch, das konnte er, und deshalb hatte Nico die Frage gestellt. »Ich könnte mir vorstellen, dass diese Bäume aus Siegeln gewachsen sind, die noch … atmeten. Das bedeutet, dass sie selbst Samen tragen.«

Baracha hielt den Kopf schräg. »Ich kann deinen Akzent nicht zuordnen, Junge. Woher kommst du?«

»Aus Bar-Khos«, teilte Nico ihm mit und war überrascht, als er den Stolz in seiner eigenen Stimme hörte.

»Ein Mercier? Ich hätte es wissen müssen, da er so klein und unterernährt ist.« Wieder lächelte der Alhazii, als würde er Nico verspotten.

»Wir Mercier haben Großes vollbracht«, gab Nico zurück, »indem wir den Mhanniern in den letzten zehn Jahren Widerstand geleistet haben.«

»Das stimmt«, gestand Baracha ein und legte die Hand auf den Hals von Nicos Muli. Das Tier zuckte zusammen. »Aber solange du hier bist, solltest du nicht über solche Dinge sprechen. Vielleicht hat dein Meister vergessen, es dir zu sagen, aber hier leben Menschen aus allen Ecken des Midèrēs. Wir reden nicht über Politik.«

»Dann schlage ich vor, dass du solche Aussagen nicht provozierst«, sagte Asch sanft.

Der Alhazii starrte den alten Farlander an. Asch erwiderte den Blick.

Baracha schnaubte verächtlich und schlenderte ohne ein weiteres Wort davon.

»Ein harter Mensch«, murmelte Nico, während er Baracha nachschaute.

»Die tiefe Wüste bringt harte Menschen hervor«, erwiderte Asch. »Und die große Leere stattet sie mit überbordender Fantasie aus. Ich rate dir, keinen von ihnen herauszufordern, solange du hier bist, Nico, besonders nicht diesen Mann. Komm jetzt. Wir haben noch viel zu tun, bevor wir etwas essen können.«

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Sie aßen Kisch und Eintopf, der vom Mittagessen übrig geblieben war, denn dieses hatten sie verpasst, als sie endlich ihre Maultiere gestriegelt und sich selbst frische Kleidung übergezogen hatten. Sobald sie mit dem Essen fertig waren, führte Asch Nico zur Tür des Gemeinschaftsraumes, in dem er zusammen mit den anderen Lehrlingen wohnen würde, und ließ ihn davor allein zurück, damit er sich einrichten konnte.

Nico verspürte ein plötzliches Gefühl des Verlustes, als er verlassen in dem Korridor vor dem Raum stand, nachdem sich der alte Mann so rasch von ihm verabschiedet hatte. Seine neue schwarze Robe hing ihm steif und schwer von den Schultern und roch schwach nach Kiefernnadeln. Er richtete seine Gedanken kurz auf sein Innerstes, wie es ihn der alte Mann gelehrt hatte, und drückte dann die Tür auf.

Dahinter lag ein großer Raum mit einem Steinfußboden und einem Dach aus lackierten Holzbalken. Eine Fensterreihe schaute hinaus auf den Innenhof, und die Schlafkojen waren auf der gegenüberliegenden Seite aufgestellt. Der Raum war leer mit Ausnahme zweier Lehrlinge, die auf ihren Betten saßen. Einer von ihnen flickte einen Riss in seiner Robe, und sein Gesicht war verzerrt von Konzentration. Er schien nicht älter als fünfzehn Jahre zu sein, und seine weiße Unterwäsche hing lose an seinem hageren Körper herab. Der andere Lehrling, der etwa so alt wie Nico war, lag auf dem Rücken und las in einem Buch; sein langes Haar leuchtete wie Stroh in dem Licht, das durch die Fenster hereinfiel. Beide schauten auf, als Nico leise den Raum betrat.

Nico nickte in ihre Richtung und schaute sich nach einem Bett um, das nicht in Gebrauch war. Er blieb bei einem mit einer leeren Truhe vor dem Fußende stehen.

»Hallo«, sagte der junge strohblonde Mann, legte sein Buch beiseite, stand auf und schlenderte durch den Raum. Als er die Hand zum Gruß ausstreckte, betrachtete Nico sie einige Sekunden, bis er sie ergriff und schüttelte.

»Du musst Meister Aschs Lehrling sein«, sagte der junge Mann geziert und bemerkte offenbar Nicos verwirrte Miene. »Neuigkeiten verbreiten sich hier recht schnell. Eure Ankunft war das Tischgespräch beim Mittagessen des Ordens.«

»Ich verstehe«, sagte Nico.

»Ich bin Aléas, und das da drüben ist Florés. Er ist nicht unhöflich. Er hat bloß keine Zunge.«

Der junge Florés öffnete den Mund weit und zeigte Nico die darin herrschende Leere. Nico lächelte unbeholfen und wandte den Blick etwas zu rasch ab.

»Nico«, sagte er zu den beiden und machte sich daran, seine wenigen Besitztümer in der Truhe zu verstauen.

»Das wissen wir«, sagte Aléas. »Mein Meister hat mir gesagt, dass ich mich von dir fernhalten soll.«

»Dein Meister?« Nico schaute auf.

»Ja, Baracha. Ich habe gehört, dass ihr euch schon begegnet seid.«

»Es scheint, dass dein Meister andere Menschen rasch aburteilt.«

»Ich glaube, er befürchtet, dass wir gegeneinander kämpfen werden, da du ein Mercier bist und ich ein Reichsangehöriger bin«, erklärte Aléas und beobachtete ihn mit müden, aber klugen Augen. Als Nico sich zwang, den Blick des jungen Mannes zu erwidern, dachte er unwillkürlich: Ein Mhannier? Hier stehe ich mit dem Feind von Angesicht zu Angesicht. Seltsam, dass es sich gar nicht so schlimm anfühlt.

»Also«, sagte der andere, »was ist das für ein Gefühl?«

»Wie bitte?«

»Hier zu stehen und sich mit einem widerlichen Mhannier zu unterhalten.«

Nico dachte über die Frage nach. »Es ist ein gutes Gefühl«, sagte er schließlich. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich mich etwas verkatert fühle und es mir daher vermutlich schwerfällt, schlechte Gefühle deutlich zu erkennen.«

Aléas’ Lächeln war echt. »Gut gekontert«, sagte er.