Julie taumelte aus dem Taxi und sah ihm nach, als es wegfuhr. Am Gartentor blieb sie kurz stehen, um sich zu sammeln. Eigentlich konnte sie ja schlecht sturzbesoffen nach Hause kommen, wo sie den Kindern immer Vorträge hielt. Die Sterne über ihr am Himmel fuhren Achterbahn, ihr war übel, aber das war egal. Es war ein toller Abend gewesen, das erste Mal seit Ewigkeiten, dass sie mit den Mädels um die Häuser gezogen war. Wobei das eigentlich Tolle natürlich nicht die Mädels waren, dachte sie und musste wieder grinsen wie eine Idiotin. Ein Glück, dass es dunkel war und keiner sie sehen konnte.
Vor der Haustür blieb sie noch einmal stehen und kramte zwischen den Kajalstiften, den lippenstiftverschmierten Taschentüchern und dem Kleingeld in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dabei ertastete sie die abgerissene Ecke des Bierdeckels. Eine Telefonnummer und ein Name. Ruf mich bald an! Und darunter ein kleines Herz. Der erste Mann, den sie berührt hatte, seit Geoff ausgezogen war. Sie dachte daran, wie sich seine Rückenwirbel unter ihren Händen angefühlt hatten, als sie tanzten. Schade, dass er so früh hatte gehen müssen.
Julie machte die Handtasche wieder zu und lauschte. Nichts. Es war so still, dass ihr der Nachhall der lauten Musik noch in den Ohren rauschte. War es tatsächlich möglich, dass Luke schlief? Laura war ein richtiges Murmeltier, doch Julies Sohn hatte noch nie viel Schlaf gebraucht. Sogar jetzt, wo er nicht mehr zur Schule ging und gar nicht mehr früh aufzustehen brauchte, war er trotzdem fast immer vor ihr wach. Julie schob die Haustür auf und lauschte noch einmal, während sie die Schuhe abstreifte, die schon höllisch wehgetan hatten, als sie vor Stunden zur Metro gelaufen war. Gott, so getanzt hatte sie das letzte Mal vielleicht mit fünfundzwanzig. Im Haus war es ganz still. Keine Musik, kein Fernseher, kein piepsender Computer. Was für ein Glück, dachte Julie. Was für ein gottverdammtes Glück. Sie wollte einfach nur schlafen, vielleicht ein paar erotische Träume haben. Draußen auf der Straße wurde ein Motor angelassen.
Sie schaltete das Licht ein. Der grelle Schein tat ihr in den Augen weh und brachte ihren Magen wieder in Aufruhr. Sie ließ die Tasche fallen, rannte die Treppe hoch zum Bad und fiel dabei fast über die eigenen Füße. Bloß nicht auf den neuen Teppichboden kotzen. Die Tür zum Badezimmer war zu, Julie sah, dass drinnen Licht brannte. Aus dem Trockenschrank hörte sie das leise Gurgeln, mit dem sich der Heißwasserspeicher wieder füllte. Das war ja mal wieder typisch. Morgens musste sie Luke oft ewig zureden, zumindest unter die Dusche zu gehen, und jetzt badete er plötzlich mitten in der Nacht. Julie klopfte an die Badezimmertür, hatte es aber nicht mehr eilig. Die Übelkeit war schon wieder verflogen.
Luke gab keine Antwort. Wahrscheinlich wieder eine seiner Launen. Julie wusste, dass er nichts dafür konnte und dass sie eigentlich Geduld mit ihm haben sollte, aber manchmal wäre sie ihm doch am liebsten an die Gurgel gegangen, wenn er so komisch wurde. Sie überquerte den Flur und schaute in Lauras Zimmer. Der Anblick ihrer schlafenden Tochter machte sie plötzlich ganz sentimental. Sie musste sich mehr Mühe mit ihr geben, mehr Zeit mit ihr verbringen. Vierzehn war ein schwieriges Alter für ein junges Mädchen, und Julie war in letzter Zeit immer so mit Luke beschäftigt gewesen, dass Laura ihr fast fremd geworden war. Sie wurde erwachsen, ohne dass Julie etwas davon mitbekam. Jetzt lag sie auf dem Rücken, das stachlige Haar rabenschwarz vor dem Kissen, und schnarchte leise mit offenem Mund. Um diese Jahreszeit war ihr Heuschnupfen immer besonders schlimm. Julie sah, dass das Fenster offen stand, und schloss es trotz der Hitze, um die Pollen draußen zu halten. Mondlicht fiel auf das frisch gemähte Feld hinter dem Haus.
Sie ging zurück zur Badezimmertür und schlug mit der flachen Hand dagegen. «He, willst du etwa die ganze Nacht da drinbleiben?» Beim dritten Schlag gab die Tür nach. Sie war gar nicht abgeschlossen gewesen. Drinnen hing der schwere, süßliche Duft eines Badeöls, das Julie noch nie benutzt hatte. Auf dem Klodeckel lagen Lukes Kleider, ordentlich gefaltet.
Er war immer wunderschön gewesen, schon als Baby. Viel hübscher als Laura, was im Grunde ziemlich ungerecht war. Es lag an den blonden Haaren, den dunklen Augen, den langen, schwarzen Wimpern. Julie starrte ihn an, wie er da lag, ganz im Badewasser versunken, sein Haar, das sich wie Seegras knapp unter der Oberfläche wiegte. Den Körper sah sie kaum wegen der vielen Blumen, die auf dem duftenden Wasser trieben. Nur die Blüten, ohne Stiele und ohne Blätter. Julie sah die großen Margeriten, die immer auf den Kornfeldern blühten, als sie noch klein war. Sie sah verblühende Mohnblumen, deren rote Blütenblätter fast durchsichtig wirkten, und große, blaue Blüten, die sie schon oft in den Gärten im Dorf gesehen hatte, aber deren Namen sie nicht kannte.
Sie musste wohl geschrien haben. Der Laut klang ihr fremd in den Ohren, als käme er von jemand anderem. Doch Laura schlief immer noch, Julie musste sie richtig wach schütteln. Schließlich schlug ihre Tochter die Augen auf, sah Julie groß an. Sie wirkte verängstigt, und Julie murmelte ganz automatisch, obwohl sie wusste, dass es gelogen war: «Schon gut, Schätzchen. Es ist ja alles gut. Aber du musst jetzt aufstehen.»
Laura stieg aus dem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper und schien noch gar nicht richtig wach zu sein. Julie legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, und so stolperten sie gemeinsam die Treppe hinunter.
So standen sie auch kurz darauf eng umschlungen vor der Tür des Nachbarhauses, und ihr Schatten, den die Straßenlaternen an die Hauswand warfen, erinnerte Julie an zwei Leute bei einem dieser blödsinnigen Dreibeinrennen. Zwei betrunkene Studenten auf Kneipentour. Sie klingelte Sturm, bis oben das Licht anging, Schritte die Treppe herunterkamen und sie endlich jemandem von diesem Albtraum erzählen konnte.