KAPITEL ZWÖLF

Vera Stanhope musste zum Verbrechensschauplatz zurück. Der leitende Tatortbeamte hatte sich beklagt, die Sache sei eine einzige Katastrophe. Es sei einfach nicht genug Zeit, um sorgfältig zu arbeiten. Die Leiche war bei Ebbe gefunden worden; jetzt blieben nur knapp vier Stunden, bevor dieser Küstenabschnitt wieder überflutet würde. Und trotz des langen Sommerabends war natürlich kurz nach Eintreffen des Teams die Dunkelheit hereingebrochen.

Doch als Vera beim Leuchtturm hielt, stellte sie fest, dass sie schon so gut wie fertig waren. Die Tote war bereits abtransportiert, das Meer hatte die Senke erreicht und den Tümpel überflutet. Sie fragte sich, ob sie wohl vorher alle Blumen herausgefischt hatten, und stellte sich vor, wie sie auf die Nordsee hinaustrieben und sich in den Schiffsschrauben der DFDS-Fähren verfingen.

Billy Wainwright, der Leiter des Spurensicherungsteams, war damit beschäftigt, seinen Tatortkoffer wieder in seinem Wagen zu verstauen. Er war ein blasser, schmächtiger Mann, der in den zwanzig Jahren, die sie sich jetzt kannten, kaum älter geworden war. Vera dachte sich, dass er mit einem Gesicht gesegnet war, das einfach immer jungenhaft wirken würde. Sie stieg aus dem Wagen und ging zu ihm hinüber. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, war die Luft noch schwer und mild. Der Lichtstrahl des Leuchtturms wanderte über ihre Köpfe hinweg.

«Irgendwas Ungewöhnliches?»

«Eine junge Frau, die erst erwürgt, dann am helllichten Tag an einen öffentlichen Ort geschafft und mit Blumen bestreut wird. Ich würde meinen, das ist schon ungewöhnlich genug. Was wollen Sie denn noch?»

«Muss es am helllichten Tag gewesen sein?»

«Mit Sicherheit. Allein schon wegen der Flut. Außerdem kann sie auch nicht lange da gelegen haben. Tagsüber wimmelt es hier doch von Leuten, vor allem bei dem Wetter in letzter Zeit. Ich weiß, es ist ein Werktag, und es sind auch keine Schulferien, aber die Sonne lockt doch trotzdem immer Leute an die Küste. Ich würde mal tippen, dass sie, erst kurz bevor man sie gefunden hat, überhaupt dort platziert wurde.»

So öffentlich, dachte Vera, war die Stelle nun auch wieder nicht. Um sie einsehen zu können, musste man direkt am Rand der Senke stehen. Aber sie dorthin zu bringen, das war schon eine andere Geschichte. Das hatte doch sicher jemand beobachtet. Und der Mörder schien ja auch darauf gesetzt zu haben, dass sie gefunden wurde, ehe die Flut seine sorgfältige Inszenierung wieder zerstörte. Was er wohl gemacht hätte, wenn James Calvert sich nicht gelangweilt hätte und nicht auf Entdeckungsreise gegangen wäre?

«Wissen wir, wie lange sie schon tot war, als sie ins Wasser gelegt wurde?»

«Tut mir leid, da werden Sie wohl auf den Obduktionsbericht warten müssen. An einem Tatort wie diesem konnte John einfach nicht viel machen. Wir mussten sie ja schon fast abtransportieren, als er hier ankam.»

«Obduzieren sie noch heute Nacht?»

«Das will ich doch nicht hoffen. Zumindest nicht, bis ich mir eine Pizza genehmigt hatte. Ich wollte mir gerade ein Vindaloo reinziehen, als der Anruf kam. Jetzt bin ich halb verhungert.» Billys Appetit war legendär. Er war dünn wie eine Bohnenstange, aß aber wie ein Scheunendrescher. Vera hing kurz dem Gedanken nach, wie ungerecht Gene manchmal verteilt waren. «Vielleicht machen wir es auch erst morgen früh», fuhr er fort. «Ich warte noch auf Nachricht vom Wansbeck.»

Wie aufs Stichwort klingelte sein Handy, und er entfernte sich ein paar Schritte von ihr, um den Anruf entgegenzunehmen. Man munkelte, er hätte etwas mit der neuen jungen Pathologielaborantin aus dem Wansbeck General, und Vera, die Klatsch und Tratsch liebte und das für ihren Beruf auch als geradezu unerlässlich betrachtete, heftete das im Flüsterton geführte Gespräch innerlich ab, um später Joe Ashworth davon zu berichten. Ihr Sergeant würde natürlich so tun, als ob ihn das alles überhaupt nicht interessierte, doch Vera wusste, dass es anders war. Sie fragte sich, wie es ihm wohl erging. Sie hatten Lily Marshs Eltern in einem Dorf nahe Hexham ausfindig gemacht, und Joe hatte sich bereit erklärt, ihnen die Nachricht vom Tod ihrer Tochter zu überbringen. Er wollte das nicht einfach irgendwem überlassen. Schließlich war er selber Vater. Und obwohl er sich nicht einmal ansatzweise ausmalen konnte, wie es sein musste, ein Kind zu verlieren, glaubte er doch, diese Aufgabe besser bewältigen zu können als manch anderer im Team.

Wainwright hatte sein Telefonat beendet und kam zu Vera zurück. Trotz der Dunkelheit spürte sie seine aufgesetzte Lässigkeit und hätte ihm am liebsten gesagt, er solle sich doch nicht zum Affen machen. Immerhin war er verheiratet und eigentlich auch ganz glücklich, soweit sie das beurteilen konnte. Die junge Laborantin war bestimmt nur einsam und meinte es nicht ernst mit ihm. Doch dann sagte sie sich, dass sie das alles gar nichts anging und sie sich im Übrigen auch kaum zur Beziehungsberaterin eignete.

«John möchte so bald wie möglich anfangen», sagte Wainwright. «Er hat am Morgen schon andere Termine. So in einer Stunde?»

«Gut, dann komme ich hin.»

An die Motorhaube ihres Wagens gelehnt, blieb sie stehen und lauschte den Wellen, die sich unten am Ausguck brachen, bis ihr Kollege losgefahren war.

Sie dachte nochmal an die kleine Gesellschaft vor dem eigentümlichen weißen Haus zurück, das so gar nicht in die Landschaft Northumberlands passen wollte. Eigentlich hatte sie dort nur vorbeigeschaut, um etwas zu tun zu haben, während das Spurensicherungsteam am Tatort beschäftigt war. Sie hatten die Leiche gefunden, sie würden den Abend miteinander verbringen und danach zurück nach Hause fahren, das hatte der Beamte, der als Erster am Tatort eingetroffen war, bereits herausgefunden. Vera wollte die Gelegenheit nutzen, solange sie noch alle vor Ort waren, und sie fragen, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Insgeheim hatte sie wohl darauf gehofft, von einem Wagen zu hören, dessen Beschreibung auf den passte, den Julie in der Nacht von Lukes Ermordung bei sich in der Straße gesehen hatte. Doch dann hatte die Gesellschaft selbst ihr Interesse geweckt. Nicht nur, weil eine Verbindung zu der jungen Ermordeten bestand. Und auch nicht, weil die Männer sie an ihren Vater erinnerten, der mit ein paar Kumpels zu Hause in der Küche hockte, nachdem sie wieder einmal unerlaubt die Greifvogelnester in den Bergen geplündert hatten. Es war etwas anderes. Diese Leute strahlten eine gewisse Selbstgefälligkeit aus, die sie ärgerte und einer Herausforderung gleichkam. Sie versuchte zu ergründen, wer und was genau sie so seltsam berührt hatte, kam aber nicht darauf. Schließlich stieg sie in den Wagen und fuhr über den Zufahrtsweg zurück zur Straße, Wainwright hinterher.

 

John Keating, der Gerichtsmediziner, war ein Nordire Mitte fünfzig, dessen schroffe, unverblümte Art Veras jüngere Mitarbeiter in Angst und Schrecken versetzte. Vera selbst hatte nur einmal erlebt, dass er während einer Obduktion eine Gefühlsregung zeigte, und das war, als sie den Tod eines dreijährigen Kindes aufklären mussten. Sonst wurde er nur emotional, wenn er mit dem walisischen Sergeant über ein Rugby-Match diskutierte. Als junger Mann hatte er selbst gespielt, wovon eine gebrochene und schief zusammengewachsene Nase bis heute zeugte. Bevor er sich für die Autopsie umzog, servierte er Vera einen Kaffee in seinem Büro.

«Was war Ihr erster Eindruck?»

«Sie wurde erwürgt», antwortete Keating. «Aber darauf sind Sie wahrscheinlich selber schon gekommen.»

«Irgendwelche Ähnlichkeiten mit dem Fall Armstrong?»

«Ich konnte sie vor Ort eigentlich gar nicht richtig untersuchen. Das sind für uns die denkbar schlechtesten Bedingungen, dort am Tatort. Ein paar Stunden später wäre die Leiche aufs Meer hinausgetrieben.»

«Dann hätten wir die Blumen nicht gesehen und keinerlei Verbindung zu dem Fall in Seaton hergestellt.» Vera wurde daraus nicht schlau. «Wollte der Mörder das? War es ein Privatritual? Oder hat er darauf gesetzt, dass die Leiche rechtzeitig entdeckt wird?»

«Also, so was dürfen Sie mich nun wirklich nicht fragen. Ich befasse mich mit Toten, nicht mit den Gehirnwindungen der Lebenden.»

Vera sah sich die Obduktion hinter der Glaswand an – nicht weil sie zimperlich gewesen wäre, sondern weil sie sich ihres Körperumfangs sehr wohl bewusst war und ständig fürchtete, im Weg zu stehen. Den Stahltisch umringten auch so schon genügend Leute: die Laboranten, der Fotograf, Billy Wainwright.

Sie befreiten die Leiche aus dem Plastiksack und begannen dann, begleitet vom Blitzlicht des Fotografen, Lily Marsh zu entkleiden. Sie zogen ihr den blauen Baumwollrock und das bestickte weiße Oberteil aus. Vera sah, dass sie ein weißes Höschen mit passendem BH trug. Weiß, aber keineswegs unschuldig. Der Spitzen-BH war tief ausgeschnitten und enthüllte mehr, als er verbarg, das Höschen hatte an beiden Seiten kleine rote Seidenschleifen und einen Einsatz aus roter Seide im Schritt. Während Billy Wainwright jedes Kleidungsstück einzeln in einem Klarsichtbeutel verstaute, kommentierte Keating den Vorgang und warf hin und wieder einen Blick zu Vera hinüber, um sicher zu sein, dass sie auch hörte, was er sagte. «Die Kleidung wirkt praktisch unversehrt. Keine offensichtlichen Anzeichen für ein Sexualdelikt.»

Es sei denn, dachte Vera, er hat sie erst hinterher angezogen. Warten wir den Vaginalabstrich ab, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen. Allerdings hatte es auch bei Luke keine Hinweise auf ein Sexualdelikt gegeben, und sie war sich bereits völlig sicher, dass die beiden Morde zusammenhingen.

Keating fuhr fort. «Keine Blutergüsse, keine Abschürfungen. Wir brauchen Fotos von den Augen und den Augenlidern. Beachten Sie bitte die Petechien.»

Die waren Vera bereits am Tatort aufgefallen: stecknadelkopfgroße Blutungen in der Haut, die durch das Blockieren der Venen am Hals entstanden waren. Das klassische Anzeichen für eine Strangulation.

«Sie wurde nicht mit der bloßen Hand erwürgt», sagte Keating. «Es gibt keine Fingerspuren. Beachten Sie den Abdruck am Hals. Die Haut ist unversehrt, es war also kein Draht, es sei denn, er hätte eine Kunststoffhülle gehabt. Wahrscheinlich hat er eine feine Schnur benutzt.»

Genau so war es im Fall Armstrong gewesen.

Vera sah zu, wie Keating die äußerliche Untersuchung fortsetzte, sah zu, wie Billy die Beweisstücke eintütete – einen letzten Rest Lippenstift, der dem Salzwasser widerstanden hatte, die Rückstände, die sich unter den Fingernägeln gesammelt hatten, eine Schamhaarprobe –, und ihr Kopf quoll dabei fast über vor Theorien und Ideen. Was verband diese beiden so unterschiedlichen jungen Menschen miteinander? Veras Gedanken rasten immer weiter.

Später saß sie wieder mit Keating in seinem Büro. Draußen wurde es langsam hell. Bald würde das Krankenhauspersonal zur Frühschicht eintreffen. Keating servierte noch mehr Kaffee und Schokoladenkekse, und Vera merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte.

«Ich fürchte, ich habe nichts weiter für Sie», sagte Keating. «Nichts spricht dafür, dass sie irgendwie misshandelt wurde, bevor man sie erdrosselt hat. Sie war sexuell aktiv, allerdings nicht in letzter Zeit. Keine Schwangerschaft, keine früheren Geburten.» Er schwieg einen Augenblick. «Das hatte sie alles noch vor sich. Ein Jammer.»

«Sie hat sich nicht gewehrt», sagte Vera. «Heißt das, sie kannte ihren Mörder?»

«Nicht unbedingt. Vielleicht hat er sie einfach von hinten überwältigt.»

«Könnte es auch eine Frau gewesen sein?»

«Sicher», sagte Keating. «Von der Körperkraft her hätte das auch eine Frau hinbekommen.»

Doch Vera merkte ihm an, dass er eigentlich nicht daran glaubte, eine Frau könnte diesen Mord begangen haben. Er war ein altmodischer, ritterlicher Mann, er bedauerte Frauen, die um die Möglichkeit gebracht wurden, ein Kind zu gebären. Wahrscheinlich, dachte Vera, bedauert er mich auch.