KAPITEL DREIUNDVIERZIG 

Vera war erleichtert, dass die Tür des Bungalows unverschlossen war. Ashworth hatte zwar nichts mehr dazu gesagt, doch sie wusste trotzdem nicht, ob er ihr das mit dem Licht wirklich glaubte. Wie sollte er auch? Als sie das fünfstrebige Tor erreichten und es behutsam aufschoben, war dahinter alles dunkel. Sie gingen über die Wiese, damit man ihre Schritte auf dem Kies nicht hörte. Das Gras war lang, Vera spürte es durch die Sandalen hindurch an den Füßen, kühl und etwas feucht. Dann zeigte sich ein schmaler Mond am Himmel, und sie begann, an ihrer eigenen Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Vielleicht hatte sie ja doch nur irgendeine Spiegelung gesehen? Sie wünschte sich so sehr, dass Laura hier war. Sie warf einen Blick durch das Fenster, konnte aber im Haus nichts erkennen.

Doch warum stand die Haustür offen, wenn niemand dort war? Vera drückte vorsichtig dagegen, bis die Tür sich einen Spaltbreit öffnete, und lauschte angestrengt. Joe Ashworth war bereits auf dem Weg um das Haus herum, nach hinten. Vera hörte keinen Laut von ihm. Sie schob die Hand durch den Türspalt, tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Raufasertapete, dann die glatte Kunststoffverkleidung des Schalters. Wieder versuchte sie, sich den Grundriss des Hauses vor Augen zu rufen. Sie war sich ziemlich sicher, dass es keine Diele gab. Man trat direkt ins Wohnzimmer. Dahinter lag die Küche, rechts führten zwei Türen in die Gemeinschaftsschlafräume. Vera gab Ashworth noch ein paar Minuten Zeit, um sich in Position zu bringen, dann betätigte sie den Lichtschalter und stieß die Tür weit auf.

Die einzige Lichtquelle im Raum war eine schwache Energiesparbirne, die nackt von der Decke hing, doch einen Augenblick lang war Vera geblendet.

«Polizei! Keine Bewegung!», rief sie blinzelnd in den Raum. Dann hörte sie von irgendwo ein Geräusch, eine Tür, die geöffnet wurde.

Das Zimmer war leer. Es sah genauso aus, wie Vera es in Erinnerung hatte. Der Tisch am Fenster mochte früher einmal ein schönes Möbel gewesen sein; jetzt war er zerkratzt und mit den Ringen von abgestellten Kaffeetassen und Biergläsern gemustert. Zwei Stühle waren daran geschoben. Vor dem leeren Kamin standen zwei Sessel und ein abgewetztes Sofa. An den Wänden hingen Fotos von Vögeln und ein paar Bilder und Zeichnungen, allesamt bemerkenswert scheußlich. Dazu ein paar Regale mit naturgeschichtlichen Nachschlagewerken, Umgebungskarten und Bestimmungsbüchern. In den paar Sekunden, die Vera brauchte, um sich umzuschauen, tauchte Ashworth auf. Von ihm war das Geräusch gekommen, das sie gehört hatte: Er hatte die Küchentür aufgestoßen.

Ohne ein weiteres Wort trat sie die Türen zu den Schlafsälen auf. Sie wirkten erstaunlich sauber und aufgeräumt. In jedem standen drei Etagenbetten, am Fuß jedes Bettes lag eine ordentlich gefaltete graue Decke. Es roch ganz leicht modrig und nach alten Socken.

Vera drehte sich um und folgte Ashworth, der schon wieder in der Küche war. Jetzt musste sie wohl zugeben, dass sie sich getäuscht hatte. Sie würde ihm das Versprechen abnehmen müssen, keiner Menschenseele etwas von diesem Irrtum zu erzählen, und ihn dann nach Hause zu seiner kugelrunden Frau schicken.

«Hier war noch vor ganz kurzem jemand», verkündete Ashworth. «Der Wasserkessel ist noch heiß. Vielleicht kam der Lichtschein, den Sie gesehen haben, ja daher, dass das Gas angezündet wurde.»

Dann blieb ihnen also doch noch eine Chance, Laura zu finden, ehe sie getötet wurde. Vera hätte Joe am liebsten geküsst.

Der schien gar nicht zu merken, was für eine Freude seine Worte Vera bereiteten. «Weit kann er nicht gekommen sein. Da hätten wir ja draußen auf der Straße ein Fahrzeug sehen müssen. In der Einfahrt stand auch kein Wagen. Wahrscheinlich hat er weiter unten am Weg geparkt.»

«Jedenfalls weiß er jetzt, dass wir hier sind», sagte Vera. «War wohl nicht gerade die klügste Entscheidung meiner Karriere, das Licht einzuschalten. Das sieht man hier kilometerweit.» Sie eilte aus dem Haus hinaus in den Garten, stolperte fast auf der untersten Eingangsstufe. Direkt vor ihr lag der Teich. Man sah fast keinen Widerschein auf dem Wasser, nur kleine silbrige Flecken nahe am Ufer. Und mittendrin einen mattschwarzen Schatten. Vera ertappte sich dabei, wie sie im Stillen zu einem Gott betete, an den sie gar nicht glaubte: Mach, dass sie das nicht ist. Mach, dass es nicht das Mädchen ist. Nicht Laura. Sie hörte Ashworth dicht hinter sich, seine Atemzüge, sogar das Geräusch, das der Jeansstoff seiner Hose beim Gehen machte. Ich hoffe nur, du betest auch, dachte sie. Du bist wenigstens gläubig. Auf dich hört Er vielleicht.

Sie hockte sich hin, um besser sehen zu können. Eben glaubte sie, einen weiblichen Körper zu sehen, der mit ausgestreckten Armen im Wasser trieb, da schaltete Ashworth seine Taschenlampe ein. Als der schmale Lichtstrahl über die Wasseroberfläche glitt, sah Vera glatte, wächserne Blätter, Pflanzenknäuel, die das Licht schluckten, aber keine menschliche Gestalt. Keine Tote. Sie merkte, dass ihr der Atem gestockt war, und holte tief Luft. Ihr wurde ein wenig schwindelig.

Vielleicht war Laura tot, doch immerhin lag sie nicht hier im Tümpel, inszeniert, benutzt, zu einem Kunstwerk gemacht, das nichts mehr mit der echten Laura gemein hatte. Wenigstens das würde Julie erspart bleiben.

Vera richtete sich wieder auf und versuchte, sich zu konzentrieren, sich an das zu erinnern, was bei dem Fest in Deepden noch geschehen war. Entschlossen, wie sie war, Hector auf dem Pfad der Tugend zu halten, hatte sie selbst keinen Tropfen getrunken. Es hatte diesen Rundgang gegeben: einen Spaziergang durch den Garten, wo das Sonnenlicht schräg zwischen den Obstbäumen hindurchfiel, einen Blick ins Haus, das für diesen Anlass gerade renoviert worden war. Und danach hatte jemand demonstriert, wie man Vögel beringte.

Die Beringungsvorführung. Sie hatten einen Halbkreis um einen hochgewachsenen Mann im blauen Arbeitskittel gebildet, der ihnen einen Vogel entgegenhielt. Eine Goldammer. Er hielt sie mit sanftem Griff, den Kopf zwischen Mittel- und Ringfinger. Durch die Tür konnten sie beobachten, wie er den Vogel wog. Er ließ ihn mit dem Kopf voran in einen Kunststoffkegel gleiten, der an einer Federwaage befestigt war. Mit einem Metalllineal maß er die Flügelspannweite, dann nahm er mit der freien Hand eine Kneifzange aus dem Regal und löste einen silbernen Ring von einem Stück Schnur an der Wand. Den Ring legte er dem Vogel um das Bein und drückte ihn vorsichtig mit der Zange fest. Dann trat er an eine Tür, den kleinen Vogel auf der flachen Hand, und wartete, bis er davonflog.

Die Tür zum Bungalow war es nicht gewesen, da war sich Vera sicher. Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach einem genaueren Bild. Eine eher wacklige Holztür, versperrt von einem Vorhängeschloss, das der Beringer geöffnet hatte, nachdem er mit dem gefangenen Vogel zurückgekommen war. Die Tür führte in eine Hütte, so groß wie ein Geräteschuppen und ganz aus verschossenen Holzbrettern gezimmert. Das Dach war aus Wellblech. Und rund um die Hütte rankte sich ein Dickicht aus Brombeer- und Sanddornbüschen, sodass man sie vom Garten und vom Haus aus nicht sah. Ganz überrascht waren sie gewesen, als sie auf ihrem Rundgang über einen Pfad, der das Unterholz durchschnitt, dorthin geführt wurden. Kurz vor dem kleinen Bau lichtete sich das Dickicht, und dort hatten sie sich postiert, ein Publikum, das auf den Beginn der Vorführung wartete.

Vera versuchte, sich zu orientieren. Sie hatte gespürt, wie ihr Vater immer unruhiger wurde, als sie an jenem Abend neben ihm gestanden und dem Beringer bei der Arbeit zugesehen hatte. Er ertrug es nie lange, nicht selbst im Mittelpunkt zu stehen. Vera befürchtete schon, er könnte abhauen, seine Langeweile zum Ausdruck bringen, indem er vor aller Augen die Flucht ergriff. Das wäre gar nicht weiter schwierig gewesen: Die Hütte stand direkt am Rand des Grundstücks, an der Grenze zu dem stoppeligen Weideland, das sich bis zum Meer erstreckte.

Jetzt ging sie langsam am Rand des Rasens entlang und suchte nach einem Durchschlupf im Dickicht. Der Mond schien plötzlich heller – vielleicht hatten sich ihre Augen auch nur an das Dunkel gewöhnt. Und schließlich fand sie den schmalen Pfad, der zwischen den Büschen hindurchführte. Sie zwang sich, langsam zu gehen. Wenn sie zu schnell waren, würde er sie kommen hören, das wusste sie. Falls er die Ohren gespitzt hielt, würde er sie ohnehin hören. Manche Laute ließen sich einfach nicht vermeiden: Veras angestrengte Atemzüge, das Knacken der trockenen Äste, die sich in ihren Kleidern verfingen. Der Pfad war so schmal, dass sie gar nichts dagegen tun konnte. Aber vielleicht horchte er ja nicht. Vielleicht hatte er in der Hütte nicht einmal das Licht vom Haus her gesehen. Vera fürchtete, dass es ihn zu einer dramatischen Geste veranlassen könnte, wenn er mitbekam, dass sie hier waren. Es würde ihn zwar aus dem Konzept bringen, wenn man ihn daran hinderte, seine Wasser- und Blumennummer zu inszenieren, doch einem Live-Publikum würde er sicher trotzdem gern etwas vorführen.

Er hat vergessen, wieso er eigentlich damit begonnen hat. Er hat sich vom Glanz des Ganzen verführen lassen. Wahrscheinlich sammelt er alle Zeitungsartikel in einem Album. Wo wir das wohl finden werden?

Die Hütte sah genauso aus, wie Vera sie in Erinnerung hatte. Soweit sie das im schwachen Licht erkennen konnte, war nur der Anstrich etwas abgeblättert, das Dach etwas rostiger als früher.

Sie blieben am Rand der Lichtung stehen. Vera brachte den Mund so nah an Ashworths Ohr, dass ihre Lippen kurz seine Haut streiften.

«Warten Sie hier. Bis ich rufe.»

Dann schlich sie behutsam über das Gras und war sich dabei ihres Gewichts nur allzu bewusst, spürte den Raum, den sie einnahm. Als könnte der Mann drinnen in der Hütte spüren, wie ihre Füße auf dem Boden aufkamen, wie ihr Körper die Luft verdrängte.

Vor der Tür blieb sie stehen. Kein Vorhängeschloss. Die Tür war von innen zugeschoben, schien aber nicht verriegelt zu sein. Vera lauschte. Keine Stimmen. Dann hörte sie ein metallisches Quietschen, und gleich darauf ein Zischen. Im Spalt zwischen Tür und Türrahmen schimmerte ein weißliches Licht auf.

Als sie die Tür öffnete, versuchte sie sich einzureden, dass sie nur bei ihren Nachbarn vorbeischaute. Keine große Sache, ganz locker und freundlich, als wollte sie einfach um etwas bitten. Mir ist der Stoff ausgegangen. Könnt ihr vielleicht eine Flasche Wein erübrigen?

 

Clive Stringer stand an einem schmalen Holztisch. Auf sein Gesicht fiel das Licht einer Petroleumlampe. Das war es, was Vera gehört hatte: das Quietschen des Lampenfußes, nachdem er das Öl eingefüllt hatte, das leise Zischen, als er die Lampe anzündete. Neben der Lampe lag ein Strauß Blumen, fast nur Margeriten, deren Stiele mit feuchtem Zeitungspapier umwickelt waren. Vera gab sich Mühe, sie nicht zu genau zu betrachten und auch nicht in den dunkleren Winkeln des Raumes nach dem Mädchen zu suchen. Die Fangnetze für die Zugvögel lagen zusammengerollt und in Taschen verstaut in einer Ecke, dazwischen die dünnen Nylonseile, mit denen die Pfähle fixiert wurden. So ein Fangnetz hatte auch in Clives Zimmer gelegen. Vera war sich sicher, dass er seine Opfer mit einem solchen Halteseil erdrosselt hatte. Jetzt war sie froh um ihren massigen Körper, der den Türrahmen fast ausfüllte. Clive Stringer wirkte regelrecht schmächtig gegen sie.

«Das Spiel ist aus, Herzchen», sagte Vera. Ihr Ton war ganz freundlich. Eigentlich rechnete sie gar nicht damit, dass er sich wehren würde, vermutete eher, dass er vielleicht sogar erleichtert war, endlich erwischt zu werden. «Am besten kommen Sie jetzt mit mir nach draußen.»

Er starrte sie an, ohne ein Wort zu sagen.

Sie sprach mit ruhiger Stimme weiter. «Seit ich wusste, dass Lily eine Affäre mit Peter Calvert hatte, war mir klar, dass Sie die beiden umgebracht haben. Sie kannten beide Familien. Anfangs habe ich nur nicht verstanden, warum. Aber Sie haben es für sie getan, nicht wahr? Für Tom und Peter. Für Ihre Freunde.»

Sie hatte geglaubt, dass er etwas darauf erwidern würde, doch er packte nur die Lampe am Drahtgriff und schleuderte sie gegen die Wand. Das Glas barst, die Holzbretter fingen umgehend Feuer; die Farbe darauf zerschmolz zu Blasen und Pusteln, und die Flammen folgten dem verschütteten Petroleum. Stringer wich vor Vera in eine Ecke zurück. Doch sie beachtete ihn gar nicht mehr: Ihre ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf das Mädchen gerichtet, eine reglose Gestalt, die am Boden zu ihren Füßen lag. Laura war in eine Decke gewickelt, die auch ihr Gesicht bedeckte. Vera hob sie hoch, spürte, wie schmal und leicht sie war. Da erschien Ashworth in der Tür und schrie ihr zu, sie solle sofort da rauskommen. Vera drückte ihm das Bündel in die Arme und wandte sich wieder nach Stringer um. Seine Kleidung hatte noch kein Feuer gefangen, aber er war bereits ganz von Flammen umschlossen. Der rote Widerschein spiegelte sich in seinen Brillengläsern. «Kommen Sie raus hier, Mann. Das hätten Ihre Freunde nicht gewollt.»

Er zeigte mit keiner Regung, dass er sie gehört hatte.

Vera wollte auf ihn zu, doch Ashworth packte sie am Arm und zog sie nach draußen.

Er hatte das Mädchen ins Gras gelegt. Ihr Gesicht war dreckig, der Mund mit Klebeband verschlossen, Hände und Füße gefesselt. Vera riss ihr das Klebeband vom Mund, tastete nach einem Puls. Sie sah nicht, wie die Hütte in sich zusammenbrach, wie das schwere Dach auf Clive drinnen herabfiel und ihn unter sich begrub, bis er nicht mehr entkommen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Falls er schrie, hörte sie es nicht.