KAPITEL NEUN
Die Haftanstalt Acklington lag an der Küste und damit fast auf Veras Heimweg. Es war nicht einfach gewesen, so spät am Nachmittag noch einen Besuchstermin bei Davy Sharp zu bekommen. Die offiziellen Besuche von Anwälten, Bewährungshelfern und Polizisten fanden vormittags statt, da waren die Gefängnisvorschriften unerbittlich. Es hatte Vera einige eingeforderte Gefälligkeiten und telefonische Wutausbrüche gekostet, bis sie endlich zugestimmt hatten. Jetzt hielt sie vor dem Gebäude und ging zum Tor. Über den ebenen Feldern zum Meer hin flimmerte die Hitze. Alles war still. Die Sonne brannte immer noch, und Vera spürte den Schweißfilm, der sich schon auf dem kurzen Weg zum Gefängnis auf Stirn und Nase gebildet hatte. Der Pförtner begrüßte sie mit Namen, obwohl sie ihn nicht zu kennen glaubte. Er war nett und plauderte ein wenig über das Wetter, während Vera ihm ihr Mobiltelefon aushändigte und sich in die Besucherliste eintrug.
«Wenn das nicht bald umschlägt, kriegen wir hier noch richtig Spaß», sagte er. «Die Hitze macht den Insassen zu schaffen. In den Werkstätten ist es kaum auszuhalten. Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis einer loslegt, und dann können wir froh sein, wenn es keine richtige Meuterei gibt.»
Vera wartete im Besuchszimmer, während der Wärter Davy Sharp holen ging. Die ganze Hitze des Tages schien sich in diesem kleinen, quadratischen Raum zu stauen, und durch das Fenster oben an der Wand knallte immer noch die Sonne herein. Im Winter, auch das wusste sie, war es bitterkalt hier im Gefängnis, der Wind schien direkt aus Skandinavien hereinzuwehen. Vera versuchte, sich zu sammeln. Sie hatte schon früher mit Davy Sharp zu tun gehabt. Er konnte mürrisch und verstockt sein, aber auch ungeheuer liebenswürdig. Sie stellte ihn sich als Schauspieler vor oder als Chamäleon. Er konnte jede Rolle spielen, die die jeweilige Situation gerade erforderte, und man war sich nicht immer ganz sicher, wie man auf ihn reagieren sollte. Vor allem musste man sich klarmachen, dass er viel intelligenter war, als er vorgab. Und ihre eigenen Gedanken wanderten währenddessen immer wieder zu einem kühlen Bier, so frisch aus dem Kühlschrank, dass außen am Glas Wassertropfen herunterrannen. Sie hatte dieses Bild schon vor Augen, seit sie von Geoff Armstrong weggefahren war.
Draußen auf dem Flur waren schwere Stiefel zu hören, Schlüssel rasselten an einer Kette, dann wurde die Tür geöffnet. Davy trug Jeans, Turnschuhe und ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Er glitt fast lautlos in den Raum. Den Lärm hatte der Gefängniswärter gemacht. Der blieb jetzt einen Augenblick stehen, wog den Schlüsselbund in der Hand und nickte dann vage in ihre Richtung, ohne sie dabei anzusehen oder etwas zu ihr zu sagen. Vera spürte, dass ihm dieser Eingriff in seinen Tagesablauf gar nicht passte, weil er den Insassen aus seiner Zelle holen und aus dem Gefängnistrakt hierherbringen musste, während seine Kumpels, die anderen Wärter, im Büro saßen, gemütlich Tee tranken und sich Witze erzählten. Er ging wieder nach draußen, setzte sich auf einen Stuhl und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Vera stand auf, um die Tür zu schließen, nahm dabei den Geruch verschwitzter Körper wahr und hoffte sehr, dass Davy so stank und nicht sie. Sie zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot ihm eine an. Davy schob die Zigarette rasch zwischen die Lippen, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.
«Sie wissen sicher, warum ich hier bin», sagte Vera. Heutzutage gab es in allen Zellen Fernseher, er würde es also in den Nachrichten gesehen haben, selbst wenn er wider Erwarten nicht über andere Kanäle von Lukes Tod erfahren hatte.
«Wegen dem Jungen, der mit unserem Thomas befreundet war?»
Vera schwieg und versuchte, nicht an das Pintglas zu denken.
Davy beugte sich vor. Die Zigarette hatte er schon halb aufgeraucht und schnippte die Asche in den Alu-Aschenbecher. Davy Sharp war ein magerer, unscheinbarer Mann. Wenn man ihm auf der Straße begegnete, ging man ohne einen weiteren Blick an ihm vorbei. Das war sein großer Vorteil. Er stammte aus einer Familie, der Diebstahl zur zweiten Natur geworden war. Sie waren berüchtigt. Wenn sich die Kinder in North Shields schlecht benahmen, sagten ihre Mütter zu ihnen: «Mach nur so weiter, dann endest du noch wie die Sharps.» Davy hatte sich auf Kreditkartenbetrug spezialisiert, da kam es ihm gelegen, dass sich kein Mensch an sein Gesicht erinnern konnte. Vera war nie in der Lage gewesen, ihn einzuschätzen. Andererseits war er in seinem Metier offensichtlich trotzdem nicht besonders gut, schließlich hatte er ein Drittel seines Erwachsenenlebens im Gefängnis zugebracht. Vielleicht fühlte er sich hier ja einfach wohler als draußen.
Jetzt sah er sie mit zu Schlitzen verengten Augen an. «Glauben Sie etwa, wir haben was damit zu tun?»
«Luke gab sich die Schuld am Tod Ihres Jungen. Ich habe mich gefragt, ob Sie ihn vielleicht auf die Idee gebracht haben könnten.»
«Es war ein Unfall.» Davy Sharp drückte die Zigarette aus. Vera sah seine Hand dabei zittern und fragte sich, ob das wohl auch zur Rolle gehörte. Sie schob ihm das Zigarettenpäckchen über den Tisch und wartete, bis er sich eine weitere herausgenommen hatte.
«Kannten Sie Luke?»
«Ich habe ihn erst nach Thomas’ Tod kennengelernt.» Er grinste verhalten. «Ich war in letzter Zeit ja nicht so viel zu Hause. Zur Beerdigung haben sie mich aber gehen lassen, und da habe ich den kleinen Armstrong kennengelernt. Aber Thomas hat immer viel von ihm geredet, wenn er mich hier drinnen besucht hat. Schienen richtig gute Freunde zu sein. Anscheinend hatten sie sich gesucht und gefunden. Luke war ja auch nicht gerade der Hellste, nach allem, was meine Frau so erzählt hat. Aber wir waren froh, dass Thomas sich mit dem Armstrong-Jungen angefreundet hat. Wir wollten nicht, dass er so endet wie ich. Er hätte das nicht gekonnt, und hier drinnen hätte er keine paar Tage überlebt.»
«Haben Sie bei der Beerdigung mit Luke gesprochen?»
«Klar. Aber nur ganz kurz. Ich durfte hinterher ja nicht mal auf ein Bier bleiben.»
«Was hat er denn gesagt?»
«Dass es ihm leidtut. Dass er alles versucht hat, um Thomas zu retten. Man hat ihm angemerkt, dass er das ernst meint. Er war völlig fertig. Die ganze Messe über hat er geheult wie ein Schlosshund, und auch als ich mit ihm reden wollte, hat er kaum ein Wort rausgekriegt.»
«War seine Mutter auch da?»
«So eine üppige Blonde? Ja. Von ihr hat Thomas auch immer viel erzählt, wie nett sie zu ihm war. Da habe ich mich dann bei ihr bedankt.»
«Und als Thomas starb, saßen Sie gerade ein?»
«In Untersuchungshaft.»
«Aber Sie haben doch bestimmt versucht herauszufinden, was passiert ist?»
«Ich hab mit ein paar Leuten geredet, ja.»
«Und?»
«Da habt ihr Bullen mal keinen Mist gebaut. Die Burschen waren betrunken, sie haben rumgepöbelt, und dabei ist Thomas ins Wasser gefallen. Wie gesagt, es war ein Unfall.» Er schwieg einen Augenblick. «Ich würd mir ja sogar wünschen, es hätte einen Schuldigen gegeben. Aber es gab keinen.»
«Hatte Thomas noch weitere Freunde?»
«Keine richtigen. Früher gab’s noch ein paar Kinder, mit denen er gespielt hat, und einen älteren Jungen aus unserer Straße, der sich um ihn gekümmert hat. Aber um die Zeit, als er gestorben ist, war Luke Armstrong sein einziger Freund.»
Einen Moment lang saßen sie beide schweigend da. Der Wärter draußen rutschte auf seinem unbequemen Stuhl herum. Sie hörten die Schlüssel an seinem Gürtel rasseln.
Schließlich fragte Sharp: «War’s das?»
«Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wer Luke Armstrong tot sehen wollte?»
Er schüttelte den Kopf. «Ich kenn keinen, der so einen Jungen erwürgen würde.» Vera wusste zwar, dass das nicht stimmen konnte, ließ es ihm aber durchgehen.
«Er hat also nicht für Sie gearbeitet? Ich meine, Sie haben den Jungs nie irgendwelche Aufträge gegeben?» Sie dachte an einfache Aufgaben, Botendienste für ein paar Pfund.
«Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich Luke Armstrong zum ersten Mal bei der Beerdigung meines Sohnes gesehen habe. Und Thomas wollte ich gar nicht erst mit der Branche in Kontakt bringen. Außerdem hätte ich das keinem von den beiden zugetraut. Von denen hätte ich mir nicht mal ’ne Tüte Fritten holen lassen. Viel zu unzuverlässig.»
«Aber es ist doch ein seltsamer Zufall. Alle beide tot. Sie halten es also nicht für möglich, dass irgendwer versucht, Ihnen was zu sagen?»
«Es gibt eben Zufälle», erwiderte er mürrisch.
Vera musterte ihn eingehend und versuchte herauszufinden, ob sich irgendeine Bedeutung hinter diesen Worten verbarg, doch seine Miene blieb völlig unbewegt.
«Sie könnten doch mal herumfragen», sagte sie. «Die Szene wissen lassen, dass Sie sich dafür interessieren.»
Erst war es, als hätte sie gar nichts gesagt. Er starrte einfach weiter vor sich hin. Doch dann nickte er fast unmerklich. «Mach ich.»
«Und falls Sie etwas hören, sagen Sie mir dann Bescheid?»
Er nickte wieder.
Vera hatte das ungute Gefühl, etwas zu vergessen; es schien noch eine Frage zu geben, die sie eigentlich stellen sollte. Einen Moment lang blieben sie einfach sitzen und sahen einander an. Vera überlegte, ob sie die Blumen erwähnen sollte, die in der Badewanne schwammen, als Lukes Leiche gefunden wurde – vielleicht hatte das ja eine Bedeutung für ihn? Andererseits war es ihnen bisher gelungen, dieses Detail aus der Berichterstattung herauszuhalten, und sie wollte auch weiterhin vermeiden, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. So schob sie ihm schließlich ohne ein weiteres Wort wieder das Päckchen Zigaretten hin. Sie wartete, bis er es in die Tasche seiner Jeans geschoben hatte, dann öffnete sie die Tür und rief dem Wärter zu: «Wir wären dann fertig hier.»
Als sie vor dem Tor darauf wartete, hinausgelassen zu werden, versuchte sie, sich Sharps Gesicht noch einmal zu vergegenwärtigen, einen Ausdruck darin zu finden, den sie hätte entschlüsseln sollen, eine Botschaft, die er ihr vielleicht übermitteln wollte. Doch es gelang ihr nicht. Sie konnte sich nur ganz verschwommen an seine Züge erinnern. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn bei einer Gegenüberstellung erkannt hätte.
Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet, ehe sie es beim Pförtner deponiert hatte. Auf dem Weg zum Wagen schaltete sie es wieder ein. Keine neuen Nachrichten, keine verpassten Anrufe. Seit der Nacht, in der Luke gestorben war, waren sie keinen Schritt weitergekommen. Vera hatte im Schatten geparkt, und die Sonne stand inzwischen tiefer. Sie schaltete die Klimaanlage ein und öffnete alle Fenster.
Je weiter sie sich von der Küste entfernte, desto weniger Verkehr war auf der Straße, und als sie in die Berge hinauffuhr, spürte sie, wie sich ihre Laune besserte. Zu Hause wartete ein Kühlschrank voller Bier, und morgen würde sie sich frisch und ausgeruht den weiteren Ermittlungen widmen.
Das Handy klingelte, als sie gerade vor dem alten Stationsvorsteherhaus hielt. Beim ersten Mal hatte sie es gar nicht gehört, weil gerade der Zug Richtung Edinburgh vorbeidonnerte. Kein Great-North-Eastern-Zug, sondern einer von Virgin. Ein roter Blitz. Als der Zug vorbei war, klingelte ihr Handy wieder.