Gary dachte schon den ganzen Tag daran, Julie zu besuchen. Er konnte an nichts anderes mehr denken. So wie ein Ohrwurm: Man versuchte, an etwas anderes zu denken, aber das machte es meistens nur noch schlimmer, und das blöde Lied wurde immer lauter und lauter, bis man irgendwann gar nicht mehr klar denken konnte.
Er hatte zu einer technischen Probe im kleinen Konzertsaal des Sage gemusst. Dort arbeitete er vom Mischpult in der Mitte des Raumes aus. Die Künstlerin war Dichterin, und manchmal sang sie auch, zusammen mit ihrer Band. Wenn Gary arbeitete, konzentrierte er sich normalerweise nur darauf, den Ton ganz perfekt hinzukriegen. Für große Orchester war das Sage super, aber so etwas Kleines und Intimes war gar nicht mal so leicht abzumischen. Die Musiker spielten guten, atmosphärischen Blues, er wollte ihnen gerecht werden. Und obwohl Lyrik sonst so gar nicht sein Ding war, erwischte er sich immer wieder dabei, wie er auf die Texte hörte. Vielleicht, weil die Dichterin ihn an Julie erinnerte. Sie sah ihr zwar gar nicht ähnlich – sie war jünger als Julie, und außerdem war sie schwarz –, aber sie strahlte so eine Wärme aus, war recht üppig und lachte viel. So hatte er eben den ganzen Tag damit zugebracht, an Julie zu denken und sich zu überlegen, wie er Kontakt mit ihr aufnehmen sollte und ob das überhaupt eine gute Idee war oder einfach nur unangemessen.
Zwischen der Probe und dem Auftritt hatte er ein paar Stunden frei. Ein später Gig für Leute, die in der Bar schon etwas vorgeglüht hatten, Künstler und andere Bohemiens, die am nächsten Morgen nicht früh aufstehen mussten. Gary wollte die Stufen zum Fluss hinuntergehen. Als er aus dem klimatisierten Konzertsaal trat, traf die Hitze ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Man sollte nicht glauben, dachte er, dass es in Gateshead überhaupt so warm wird. Gateshead, das waren Graupelschauer und schneidender Ostwind. Weiter oben am Ufer drehte sich gemächlich das Riesenrad. Das Sage hinter ihm war erleuchtet, man sah die beiden Foyers durch die gläserne Außenwand, und Gary fand, dass sie fast wie zwei riesige Schiffe aussahen. Das Foyer des großen Konzertsaals war wie ein Kreuzfahrtschiff mit mehreren Decks, das kleinere wie ein stupsnasiger Schlepper. Eigentlich hatte er vorgehabt, über die Fußgängerbrücke ins Zentrum zu gehen und dort etwas zu essen, aber jetzt entschied er sich plötzlich anders.
Er rannte die Stufen wieder hinauf, zum Parkplatz, und gleich darauf saß er in seinem Transporter, hatte den Motor angelassen und war auf dem Weg nach Norden. Er wollte zumindest ihr Haus sehen. Das hieß ja noch nicht, dass er schon beschlossen hatte, auch sie zu sehen. Er würde einfach einmal durch ihre Straße fahren, wenden und wieder zurückfahren. Das war immerhin besser als gar nichts.
Dann fiel ihm wieder ein, wie sie nach dem Treffen des Vogelclubs im Pub gesessen hatten, wie er von Julie erzählt und Peter ihn aufgezogen hatte. Mein Gott, ist die Jugend heute wieder romantisch. Nichts als Blumen und Mondenschein. Und während er sich durch die Schleichwege von Heaton schlängelte, wurde Gary klar, dass Julie in der Nacht, als ihr Sohn starb, genau das bei sich zu Hause vorgefunden haben musste. Blumen und Mondenschein. Das hatte die Polizistin gemeint, als sie sagte, der Mord an Luke würde Ähnlichkeiten mit dem an Lily aufweisen. Sie waren auf dieselbe Weise inszeniert worden.
Er wusste, wo Julie wohnte. Er hatte die Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen. Ihr Haus lag keinen halben Kilometer von dort entfernt, wo sie als Kind gewohnt hatte. Gary war im selben Dorf aufgewachsen, allerdings am anderen Ende, in der neuen Wohnsiedlung, die inzwischen auch nicht mehr richtig neu war. Komisch, jetzt hierher zurückzukommen. Als er auf dem Gymnasium war, war er jeden Tag mit dem Bus diese Hauptstraße von Whitley her entlanggefahren. Erinnerungen kamen wieder, überlagerten die Angst, was Julie wohl sagen würde, wenn er einfach so plötzlich vor ihrer Tür stand. Er dachte daran, wie die Jungs auf dem Oberdeck lärmten, sich gegenseitig mit ihren Schulranzen bewarfen. Wie er den Arm um Lindsay Waugh legte und an ihrem Ohrläppchen knabberte, während sie knallrot anlief und die anderen johlten. Oder wie er neben Clive saß, unterwegs, um eine Amerikanische Krickente auf dem Blyth zu beobachten, und dabei so tat, als würde er ihn gar nicht kennen, weil Clive eben so ein kauziger Freak war. Was hätten Lindsay und die anderen gedacht, wenn sie gewusst hätten, dass Gary auch Vögel beobachtete?
Ohne es recht zu merken, war er im Dorf angekommen und bog in Julies Straße ein. Es war sechs Uhr, die Kinder spielten auf der Straße. Auf den Stufen vor einem Haus saßen zwei Mütter und passten auf. Wahrscheinlich war das einfach so seit dem Mord an Luke. Gary spürte, dass sie ihn musterten. Ein Fremder in ihrer Straße. Wären sie nicht gewesen, er wäre wahrscheinlich tatsächlich bis zum Ende der Straße gefahren und im Auto sitzen geblieben, bis er irgendwann die Nerven verloren hätte und wieder gefahren wäre. Aber als er die zwei Frauen sah, regte sich Trotz in ihm. Er war schließlich ein Freund von Julie, er hatte ja wohl das Recht, ihr sein Beileid auszusprechen. Außerdem war Vorsicht geboten: Mindestens eine der Frauen hatte sich inzwischen wahrscheinlich schon seine Autonummer eingeprägt. Wenn er gleich wieder wegfuhr, würden sie sicher sofort die Polizei anrufen, ihn als verdächtige Person melden und behaupten, er sei vor ihnen geflohen, oder etwas ähnlich Unsinniges.
So hielt er also direkt vor dem Haus, ging den kleinen Weg hinauf, ohne die glotzenden Weiber eines Blickes zu würdigen, und klopfte an die Tür. Während er wartete, dachte er sich, er hätte eigentlich etwas mitbringen müssen. Ein Geschenk. Aber was? Auf keinen Fall Blumen. Das wäre ja irrsinnig taktlos gewesen. Einen Wein vielleicht, aber das hätte dann so gewirkt, als käme er uneingeladen zu einer Party. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans, weil er nicht wusste, was er sonst damit anfangen sollte. Manchmal, wenn er zu viel Bier getrunken oder zu scharf gegessen hatte, bekam er hinterher diesen Albtraum. Er stand auf der Bühne der Stadthalle, vor vollbesetztem Haus, und hantierte mit dem Mikro, aber der Ton war eine Katastrophe. Und er war splitterfasernackt. So fühlte er sich jetzt auch.
Die Tür ging auf, und vor ihm stand ein junges Mädchen in Schuluniform. Zumindest einer Art Uniform. Weißes Hemd, kurzer schwarzer Rock. Keine Krawatte. Er überlegte kurz, ob er sich wohl im Haus geirrt hatte, dann fiel ihm wieder ein, dass Julie ja noch ein weiteres Kind hatte, eine Tochter. Er durchforstete sein Hirn nach dem Namen. Laura. Doch noch bevor er sie ansprechen konnte, eilte von hinten eine ältere Frau heran. Sie hielt zwei Topfhandschuhe in einer Hand und hatte etwas von einem glücklosen Türsteher. «Laura, Schätzchen, ich habe dir doch gesagt, du sollst niemandem aufmachen.» Das Mädchen musterte Gary noch einen Moment lang, zuckte dann die Achseln und verschwand die Treppe hinauf.
Die ältere Frau schlug einen deutlich entschiedeneren Ton an. «Was wollen Sie? Wir reden nicht mit der Presse. Die Polizei ist jeden Moment wieder hier.»
«Ich bin nicht von der Presse. Ich bin ein Freund von Julie.»
Die Frau sah ihn an. Sie hatte auffallend kleine Augen und einen bösen Blick.
«Julie will niemanden sehen.»
Gary wollte schon aufgeben und war fast erleichtert darüber. Er konnte ihr ja auch eine Nachricht hinterlassen. Dann würde Julie zumindest wissen, dass er an sie dachte. Doch da kam von hinten aus dem Haus eine Stimme, die er kaum wiedererkannte. «Lass ihn rein, Mum. Ihn will ich schon sehen.»
Die Frau zögerte einen Moment und trat dann beiseite. Als Gary an ihr vorbei ins Haus gekommen war, schloss sie den neugierigen Nachbarinnen mit einem vernehmlichen Knall die Tür vor der Nase.
Gary ging ins Wohnzimmer, bemerkte im Vorbeigehen, wie unordentlich es war, und fragte sich, ob es hier wohl immer so aussah. Einen Moment lang überlegte er, ob er wohl in einem solchen Chaos leben könnte. Hier war es kein bisschen wie in Fox Mill, das ihm ja immer wie das ideale Heim erschienen war. Die dünnen weißen Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, um die Sonne und neugierige Blicke abzuhalten. Es war dämmrig im Raum, er konnte wenige Einzelheiten erkennen. Dann sah er Julie, die zusammengerollt auf dem Sofa lag. Er setzte sich neben sie, nahm ihre Hand. Die Mutter blieb mit besorgter, besitzergreifender Miene in der Tür stehen.
«Ich wollte gerade Abendessen machen», sagte sie. Eigentlich war es mehr ein Knurren: Die Worte schienen aus den Tiefen ihrer Kehle hervorzukommen.
«Schon gut, Mum. Er ist ein Freund.»
«Dann bin ich mal in der Küche.» Das galt Gary und war Warnung und Drohung in einem. Mit einem letzten bösen Blick in seine Richtung verließ sie das Zimmer.
«Tut mir leid wegen meiner Mutter», sagte Julie.
«Das macht doch nichts. Ich wäre bestimmt genauso, wenn ich hier wäre, um mich um dich zu kümmern.»
Sie lächelte schwach. Er streichelte ihr den Handrücken.
«Ich bin wirklich schrecklich», sagte sie. «Ich kann gar nichts tun. Ich sitze einfach nur hier, den ganzen Tag.»
«Du bist doch nicht schrecklich. Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Dabei sollte ich doch stark sein. Für Laura.»
Er hatte das Gefühl, ihre Mutter aus diesem Satz herauszuhören, und wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste auch nicht, was er von der dünnen, langbeinigen Laura halten sollte. Irgendetwas an ihr erinnerte ihn an Emily, das fand er sehr beunruhigend. Hinter den Jalousien war das Fenster gekippt. Die Kinder draußen auf der Straße sangen einen Reim zu irgendeinem Seilspringspiel. So etwas hatte er schon lange nicht mehr gehört. Es war Ewigkeiten her, dass er kleine Mädchen beim Seilspringen gesehen hatte. Vielleicht hatte ja eine von den Müttern, die dort draußen hockten, ihnen den Vers beigebracht, nachdem sie ihn aus den Tiefen ihrer eigenen Erinnerung hervorgekramt hatte. Gary dachte an die Zeit zurück, als er die Grundschule in Seaton besuchte, wo er mit Julie Richardson über den Schulhof gerannt war und auf dem Rasen Kussfangen mit ihr gespielt hatte, wenn keiner zusah. Vielleicht hatte sie ja ähnliche Gedanken, denn sie stimmte in den Hüpfreim ein:
«Teddybär, Teddybär, dreh dich um.
Teddybär, Teddybär, mach dich krumm.»
Dann schwieg sie ebenso plötzlich wieder, und der Reim auf der Straße ging ohne sie weiter:
Teddybär, Teddybär, bau ein Haus …
«Ich komme mir ein bisschen blöd vor», sagte Gary. «Da sitze ich einfach nur hier herum und kann dir gar nichts sagen. Dir nicht helfen.»
Sie drückte ihm die Hand. «Doch», sagte sie. «Du hilfst mir schon. Ganz ehrlich.»
«Ich wusste nicht, ob ich überhaupt kommen soll.»
Da tat sie etwas Unerwartetes. Sie zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Ein richtiger, inniger Kuss, ihre Zunge in seinem Mund, an seinen Zähnen, an seinem Gaumen. Er zog sie fest an sich, spürte ihre weichen Brüste an seinem Körper und merkte, wie ihn das erregte. Obwohl er es gar nicht wollte. Obwohl er wusste, dass sowieso nichts passieren würde. Nicht, solange ihre Tochter und ihre Mutter mit im Haus waren. Nicht, solange es ihr so schlechtging. Und trotzdem jubelte er innerlich, weil er wusste, dass es irgendwann wahr werden würde. All die Träume von ihr, seit sie sich wiedergetroffen hatten. Dem konnte Luke nicht mehr im Weg stehen.
Er schob sie sanft von sich, strich ihr über die Wange, beugte sich über sie und küsste sie auf den Scheitel, wo man die dunkleren Haaransätze sah. Sie fing an zu weinen.
«Ach Gott», sagte sie. «Entschuldige.»
Er wusste genau, dass er sich eigentlich nicht so euphorisch fühlen durfte. Er sollte traurig sein, weil sie auch traurig war. «Du musst dich für gar nichts entschuldigen.» Er sprach mit ernster, sanfter Stimme. Sanfte Stimmen waren schließlich sexy. «Willst du mir von Luke erzählen? Ich kannte ihn ja gar nicht, aber trotzdem, wenn du jemanden zum Reden brauchst …» Hinter ihrem Rücken schaute er unauffällig auf seine Armbanduhr. Um halb neun musste er wieder im Sage sein.
«Nein», sagte sie. «Ich rede schon seit Tagen über nichts anderes als Luke. Mit der Polizei, mit meiner Mutter, mit meinen Freundinnen. Ich wollte ihn vergessen. Nur eine Minute lang. Ich wollte wissen, ob das geht.»
«Und, ging es?»
«Nicht so richtig.» Sie lächelte. Ein müder Abklatsch des alten Julie-Lächelns. «Aber es war schön, es auszuprobieren.»
Von der Tür her kam ein Geräusch. Eigentlich rechnete Gary damit, dass es die Mutter sein würde, doch es war Laura. Sie war knapp hinter der Schwelle stehen geblieben und starrte sie an. Gary rutschte auf dem Sofa etwas von Julie weg.
«Laura ist heute wieder zur Schule gegangen», sagte Julie mit schrecklich munterer Stimme. «Das fand ich unglaublich tapfer von ihr. Wie war’s denn, Süße?»
«Ganz okay. Die Lehrer waren alle sehr nett. Es gab eine Gedenkversammlung, wegen Luke und so. Aber sie haben gesagt, ich muss nicht hin.»
«Und warst du dann dort?»
«Nee. Aber ich bin draußen stehen geblieben und habe gehört, was sie sagen. Es war alles nur Mist. Irgendwie hatte ich gar nicht das Gefühl, dass sie von Luke reden. Zumindest hat man ihn nicht erkannt aus dem, was sie gesagt haben.»
«Aber es ist doch schön, dass sie an ihn denken und ihre Anteilnahme zeigen.»
Laura sah aus, als wollte sie eine gemeine, abfällige Antwort geben, sagte aber nichts.
«Das ist übrigens Gary», sagte Julie. «Ein alter Freund. Wir waren zusammen auf der Grundschule.»
Laura tat, als hätte sie nichts gehört. «Oma sagt, es gibt gleich Essen.»
Gary stand auf. «Ich muss auch langsam los.»
«Bleib doch noch», sagte Julie. «Iss einen Happen mit uns.»
Doch er merkte, dass sie schon wieder in ihre Starre versunken war. Sie sagte das nur, weil es sich so gehörte.
«Ich muss nachher noch arbeiten», sagte er. «Ein Konzert im Sage.»
Er ging in Richtung Haustür und fragte sich, ob sie sich wohl aufraffen würde, ihn nach draußen zu begleiten, doch sie schien ganz in ihre Gedanken versunken. So machte Laura die Haustür für ihn auf. Die Kinder auf der Straße unterbrachen ihr Spiel, um sie anzustarren, und die Frauen auf den Treppenstufen blickten von ihren Zeitschriften auf. Gary hätte eigentlich erwartet, dass diese ganze Aufmerksamkeit das Mädchen einschüchtern würde. Er kam ja schon kaum damit zurecht. Am liebsten hätte er sie alle angebrüllt: Was glotzt ihr denn so doof? Er rechnete damit, dass Laura die Tür gleich wieder hinter ihm schließen und sich zurück ins Haus flüchten würde. Doch das tat sie nicht. Sie stand immer noch dort, als er schon in seinen Transporter gestiegen war und den Motor anließ.