KAPITEL NEUNUNDZWANZIG 

Vera rief vom Wagen aus bei Clive Stringer zu Hause an. Sie hatte hinter den Dünen gehalten und schaute auf den Strand hinaus. Am Ufer spazierte mit gesenktem Kopf ein alter Mann entlang. Hin und wieder bückte er sich, hob ein Stück Seekohle auf und steckte es in seine Aldi-Tüte. Vera vermutete, dass er inzwischen wohl in einer Genossenschaftswohnung mit Zentralheizung lebte, die alte Gewohnheit aber trotzdem nicht ablegen konnte.

Sie wählte die Nummer auf ihrem Handy. Es klingelte und klingelte (am anderen Ende war wohl kein Anrufbeantworter angeschlossen), und Vera wollte gerade wieder auflegen, da meldete sich doch noch eine Frauenstimme, indem sie die Nummer des Anschlusses aufsagte. Sie klang zittrig und außer Atem.

«Mrs Stringer?»

«Ja?» Ihr Ton war misstrauisch, sie schien zu glauben, dass Leute ihr am Telefon grundsätzlich etwas aufschwatzen wollten. Vielleicht hatte ihr Sohn ihr auch eingeschärft, gleich wieder aufzulegen, wenn Fremde anriefen.

«Mein Name ist Vera Stanhope, Mrs Stringer. Ich bin von der Polizei. Clive hat Ihnen ja sicher schon gesagt, dass ich mich melden würde. Es geht um die junge Frau, die er beim Leuchtturm tot aufgefunden hat.»

«Ich weiß nicht recht …»

«Ist Clive denn zu Hause? Vielleicht kann ich ja mit ihm reden.» Sie drückte die Daumen beider Hände, obwohl ihr das Telefon dabei fast herunterfiel. Jetzt, am frühen Nachmittag, musste er eigentlich im Museum sein.

«Er ist bei der Arbeit. Am besten reden Sie dort mit ihm.»

Wieder hatte Vera das Gefühl, dass die Frau gleich auflegen würde.

«Hören Sie, in etwa einer halben Stunde bin ich bei Ihnen in der Gegend. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich kurz vorbei, dann unterhalten wir uns.»

«Mir wäre es aber wirklich lieber, wenn Sie warten, bis Clive wieder da ist.» Vera hörte Panik in ihrer Stimme. Das musste aber noch nichts heißen. Viele alte Leute bekamen Angst, wenn plötzlich Fremde vor ihrer Tür standen. Sie sahen ja schließlich ständig diese Werbespots zur präventiven Verbrechensbekämpfung.

«Sie brauchen sich wirklich überhaupt nicht zu beunruhigen.» Vera hörte, dass sie unwillkürlich Ben Cravens Ton angeschlagen hatte – Sie sind krank, und ich weiß, was gut für Sie ist. Fast erschrak sie selbst darüber. «Ich zeige Ihnen meinen Polizeiausweis. Und wenn Sie ganz sicher sein wollen, können Sie auch auf dem Revier anrufen.» Damit beendete sie schnell das Gespräch, damit Mrs Stringer nicht noch weiter protestieren konnte.

Die Stringers lebten in North Shields, in einem Bungalow aus der Vorkriegszeit. Früher war die Straße einmal eine Hauptstraße gewesen, mit Bäumen, geschäftigem Treiben und Läden an beiden Enden, doch seither war die Gegend grundsaniert worden, und das neue Verkehrssystem hatte die Gunner’s Lane zur Sackgasse gemacht. Jetzt endete sie unvermittelt an einer Mauer aus Schlackenstein. Das Sportzentrum aus Glas und Beton dahinter zerschnitt die Straße mit seinem langen Schatten. Vera kannte die Gegend. Sie war ein paarmal dort gewesen, um Davy Sharp zu besuchen, und jedes Mal wieder erstaunt, dass er in einer so unauffälligen, bürgerlichen Umgebung lebte. Das war alles Teil seiner Tarnung, seiner Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen.

Anscheinend hatte Mary Stringer schon nach ihr Ausschau gehalten. Vera hatte kaum geklopft, als sich die Tür bereits einen Spalt öffnete. Die Frau war sehr klein, hatte zarte Gesichtszüge, und ihr Hals schien so schmal, dass man sich fragte, wie er den Kopf überhaupt tragen konnte.

«Ich habe Clive angerufen. Er sagt, er weiß nichts davon, dass Sie kommen wollten.» Schon durch den Türspalt merkte Vera, dass sie zitterte.

Sie unterließ jeden Versuch, die Tür aufzuschieben, sondern angelte nur ihren Polizeiausweis aus der Handtasche. «Sie müssen schon zugeben, dass ich das bin», sagte sie. «Schauen Sie sich das Foto an. Mit dem Gesicht wird hier im Nordosten ja wohl nicht noch wer herumlaufen.»

«Clive sagt, ich muss Sie nicht ins Haus lassen.»

«Da hat er völlig recht, aber Sie wollen doch sicher auch nicht, dass die ganze Straße mitkriegt, was wir zu bereden haben.»

Die Frau schwieg. Vera spürte, dass ihr Widerstand nachließ. «Nun geben Sie sich mal einen Ruck und lassen Sie mich rein. Ich habe beim Bäcker an der Ecke zwei Stück Sahnetorte gekauft. Wir machen uns jetzt einen schönen Tee und reden ganz freundlich miteinander.»

Die Sahnetorte schien den Ausschlag zu geben. Die Finger, die sich ins Türholz gekrallt hatten, lockerten sich, und Vera schob die Tür sanft auf und trat ins Haus.

Drinnen hatte sich anscheinend nicht allzu viel verändert, seit Mary Stringer eingezogen war. Es war zwar einigermaßen sauber und ordentlich im Haus, doch die Möbel wirkten alt und ziemlich abgenutzt. Vera blieb an der Haustür stehen und wartete darauf, dass die alte Frau ihr voranging. Nachdem sie sich dazu durchgerungen hatte, Vera ins Haus zu lassen, schien Mary sich jetzt regelrecht über den Besuch zu freuen. Sie führte Vera in ein kleines, überladenes Wohnzimmer und eilte dann in die Küche, um Tee zu machen. Über dem Kaminsims hing ihr Hochzeitsfoto: Mary ganz traditionell in Weiß, daneben ein Mann, der ebenso schmal war wie sie und trotz des schlecht sitzenden Anzugs einen intelligenten, zufriedenen Eindruck machte.

Mary kam mit dem Tablett aus der Küche und sah, wie Vera das Bild betrachtete. «Er starb, als Clive gerade einen Monat alt war. Ein Unfall an der Werft. Aber sie waren nicht knauserig. Ich habe eine gute Rente bekommen.»

«Trotzdem war es sicher nicht leicht für Sie», sagte Vera. «Den Jungen ganz allein großzuziehen. Hatten Sie denn noch Familie, die Sie unterstützt hat?»

«Die wohnten alle weit weg. Aber die Nachbarn waren sagenhaft. Ohne sie hätte ich es nie geschafft. Das war damals eine sehr nette Straße. Bis heute eigentlich.»

«Clive hat mir erzählt, Sie hätten sich um Thomas Sharp gekümmert, als er noch klein war.»

«Nur hin und wieder», antwortete Mary rasch. «Sie haben mir ein paar Pfund bezahlt, damit ich auf ihn aufpasse, wenn mal Not am Mann war. Sie wissen ja, wie das bei denen zuging … Davy war ständig im Gefängnis. Ich will natürlich nicht, dass das Rentenamt davon erfährt. Oder die von der Sozialversicherung … als Tagesmutter gemeldet war ich ja nie.»

«Sie haben Freunden ausgeholfen.» Vera fragte sich, weshalb Mary bloß so nervös war. Sie hatte vor über zehn Jahren gegen ein paar Regeln verstoßen, hatte deshalb aber offenbar immer noch ein schlechtes Gewissen. «Da kräht doch heute kein Hahn mehr nach.»

Das schien Mary tatsächlich zu erleichtern, und sie konzentrierte sich ganz auf ihre Rolle als Gastgeberin. Den Tee servierte sie in zierlichen Tässchen mit Untertassen und dazu passenden Tellern. Vera entfernte das Papier von den klebrigen Tortenstücken, reichte Mary eines und leckte sich dann die Finger ab.

«Kannten Sie denn diesen Freund von Thomas, Luke Armstrong?» Es war eher unwahrscheinlich, aber in jedem Fall die Frage wert.

«Am Ende habe ich Tom praktisch gar nicht mehr gesehen. Oder zumindest nicht mehr mit ihm gesprochen. Er hat mir immer zugewunken, wenn er zum Bus ging und in die Stadt fuhr, das war alles. Man kann das ja auch verstehen. Was sollte er mit einer alten Frau wie mir schon anfangen?»

«Dann hat Clive ihn auch ganz gut gekannt?»

«Er war sehr lieb mit Thomas, als der noch klein war. Manchmal hat er ihn sogar gewickelt. Das denkt man kaum bei einem Jungen, nicht? Und später hat er ihn dann im Kinderwagen spazieren geschoben.»

Für Vera hörte sich das nicht so an, als hätte Mary den kleinen Sharp nur hin und wieder mal gehütet. Doch sie schwieg und biss stattdessen in ihr Tortenstück. Der Zuckerguss war so süß, dass sie förmlich spürte, wie die Karies ihre Zähne aushöhlte, und zwischen den harten, schwerverdaulichen Teigschichten quoll Vanillecreme hervor. Sie tunkte die Creme mit dem kleinen Finger auf und leckte ihn ab.

Mary sah ihr fast zärtlich dabei zu. «Mein Clive isst ja auch so gern», sagte sie. «Aber er nimmt dabei kein Gramm zu. Wahrscheinlich verbrennt er einfach alles.»

«Dann war er wohl ein eher nervöses Kind?», fragte Vera.

«Das war sicher meine Schuld. Es gab ja nur noch ihn und mich, und ich war noch nie gern allein. Gut möglich, dass ich ihn ein wenig eingeengt habe. Ich hätte es einfach nicht ertragen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.» Sie schwieg einen Moment, dann lächelte sie zufrieden. «Aber er ist ein guter Junge. Ich hatte vor einiger Zeit einen Schlaganfall. Nicht weiter schlimm, aber mancher Sohn hätte sicher die Gelegenheit genutzt, die alte Mutter ins Heim zu stecken. Clive ist da anders. Er hat sich bei der Arbeit freigenommen, mich nach Hause geholt und mich hier gepflegt.»

«Dann stehen Sie sich also nahe?»

«Ja, sehr nahe sogar.»

«Das heißt, Sie würden wissen, wenn ihn etwas bedrückt?»

«Na, das ist ja wieder etwas ganz anderes, nicht? Mein Clive trägt das Herz nicht gerade auf der Zunge. Ich könnte nicht behaupten, dass ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht.»

«Gab es in letzter Zeit eine Frau in seinem Leben?»

«Aber nein!» Das schien sie völlig abwegig zu finden. «Wir sind doch ganz glücklich hier, zu zweit.» Dann setzte sie der Form halber hinzu: «Nicht, dass mich das stören würde. Ich fände es sogar sehr schön, wenn er irgendwann eine gute Frau fände, mit der er eine Familie gründen kann. Ich hätte so gern ein Enkelkind.»

«War Clive jemals in Behandlung wegen seiner Nerven?»

«Was wollen Sie damit sagen?» Mary wurde sofort wieder misstrauisch. Sie verzehrte ihr Kuchenstück mit kleinen, zierlichen Bissen, knabberte daran wie eine Maus. Jetzt sah sie Vera stirnrunzelnd über den Zuckerguss hinweg an.

«Ich frage ja nur, Herzchen. Das ist doch heute gang und gäbe.»

«Depressiv ist er nicht, falls Sie das meinen. Wir haben ein gutes Leben zusammen, er und ich. Da brauchen wir niemanden, der seine Nase in unsere Angelegenheiten steckt.»

Vera ließ das auf sich beruhen, dachte sich aber, dass die Beteuerungen doch etwas übertrieben wirkten.

«Und es stört Sie nicht, wenn er unterwegs ist?», fragte sie.

«Das kommt ja inzwischen kaum noch vor. Eine Zeit lang war er fast jedes Wochenende weg, oben an der Küste mit seinen Busenfreunden. Ich habe mich natürlich nie beklagt. Er muss schließlich sein eigenes Leben haben. Aber seit meinem Schlaganfall nimmt er doch etwas mehr Rücksicht. Ich habe ihm auch gesagt: ‹Wie würdest du dich denn fühlen, wenn so was nochmal passiert und du mich hier allein gelassen hast?›»

Vera kam zu dem Schluss, dass Mary im Grunde eine böse alte Hexe war. Sie hätte es durchaus verstanden, wenn Clive sie erdrosselt hätte. «Wussten Sie, dass er letzten Freitag etwas vorhatte?»

«Natürlich. Er macht nie etwas aus, ohne mich vorher zu fragen.»

«Und er hatte Ihnen etwas zu essen vorbereitet?»

«Ich sagte ja schon, er ist ein guter Junge. Wenn er da ist, kocht er meistens für mich. An dem Tag hat er aber nicht mitgegessen.» Sie rümpfte ein wenig die Nase. «Er bekam ja noch irgendein aufwendiges Essen bei diesem Fest.»

«Und am Mittwoch davor?»

«Da kam er ein bisschen später von der Arbeit als sonst, weil er auf dem Heimweg noch einkaufen war. Ich hatte schon auf ihn gewartet. Wenn man den ganzen Tag allein ist, freut man sich doch auf etwas Gesellschaft.»

«Er hat mir erzählt, dass er inzwischen kaum noch Auto fährt.»

«Stimmt.» Sie schwieg einen Augenblick. «Ich hatte ja immer große Freude an unseren Ausflügen mit dem Auto, aber er saß nie gern am Steuer. Und als der Wagen dann vor ein paar Jahren nicht mehr durch die technische Kontrolle kam, hat er ihn einfach gleich verschrotten lassen, statt ihn noch einmal zu reparieren. Er sagt, es ist besser für die Umwelt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Für mich wäre es natürlich schon praktisch. Er könnte mich immer in die Ambulanz vom Krankenhaus fahren.» Sie warf einen raschen Blick auf die Uhr an der Wand. «Haben Sie sonst noch Fragen? Jetzt kommt nämlich gleich die Quizsendung, die ich immer so gerne sehe, auf die freue ich mich den ganzen Tag.»

Vera beschloss zu gehen, bevor sie noch etwas sagte, was sie hinterher bereuen würde. Clives Alibi hatte sie ja überprüft. Und sie schaffte es einfach nicht, wie Joe Ashworth einen Spinner in ihm zu sehen, der junge Menschen umbrachte, weil er neidisch auf ihre Schönheit war. Depressiv war er sicher, aber wer konnte ihm das verdenken, mit so einer selbstsüchtigen Mutter am Hals?

Mary hatte den großen Fernseher eingeschaltet. Anfangs hatte Vera noch Mitleid mit ihr gehabt, doch jetzt schien es ihr, dass diese Frau sich ihr Leben genau so eingerichtet hatte, wie es ihr behagte. Sie stand auf. «Ich gehe dann mal. Sie brauchen mich nicht rauszubringen.»

Die zierliche Dame nickte. «Wenn es Sie nicht stört. Ich bin seit meiner Krankheit einfach nicht mehr so gut auf den Beinen.»

Vera schloss die Wohnzimmertür hinter sich und blieb draußen auf dem Flur stehen. Die Titelmelodie der Quizsendung verklang wieder, der Moderator machte einen Witz, und Mary lachte leise. Vera schob eine der Türen auf, die vom Flur abgingen. Im Zimmer dahinter lag ein dicker weißer Teppich auf dem Boden. Vera sah ein Doppelbett mit einer Tagesdecke aus rosafarbenem Frottéstoff, roch den typischen Altfrauengeruch nach benutzter Nachtwäsche und Puder. Die nächste Tür führte ins Bad. Ein kleiner Raum mit einer Duschvorrichtung über der Badewanne. Über den blauen Duschvorhang schwammen fröhlich grinsende Fische. Hier roch es ein wenig männlicher. Duschgel? Rasierwasser? Vera musterte die Fläschchen und Tiegel im Regal. Clive schien auf sein Aussehen zu achten – vielleicht in der Hoffnung, irgendwann doch noch eine Frau zu finden, einen Vorwand, seine Mutter endlich zu verlassen?

Schließlich stand sie vor der Tür zu Clives Zimmer. Sie war nicht angelehnt, aber auch nicht abgeschlossen, und ließ sich mit einem leisen Klicken öffnen. Die Vorhänge waren zugezogen, Vera musste das Licht einschalten. Irgendwie hatte sie einen staubigen Raum voller Tierpräparate erwartet, ähnlich der Werkstatt im Museum, doch das Zimmer wirkte ordentlich, fast unpersönlich. Ein schmales Bett, ein passender Kleiderschrank aus Kiefernholz, eine ebenfalls passende Kommode. Ein Bücherregal mit den gängigen Vogelbestimmungsbüchern. In einer Ecke lag eine Leinentasche, aus der ein Fangnetz schaute. Offenbar hatte Clive das Beringen noch nicht völlig aufgegeben. Ein paar Fantasyromane, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Nachttisch. Ein Schreibtisch mit dem unvermeidlichen Rechner darauf. Ein Schachbrett. Keinerlei Bilder an den Wänden. Das Zimmer wirkte, als wäre der Bewohner sich darüber im Klaren, dass seine Mutter freien Zugang hatte, als achtete er deshalb darauf, dass es nichts über ihn verriet. Nur auf dem Nachttisch stand ein Foto, dort, wo man sonst das Foto einer Freundin oder Geliebten erwarten würde. Doch dieses Bild zeigte die vier Freunde: Clive linkisch und schüchtern, Gary lachend neben ihm, und rechts und links von ihnen Peter Calvert und Samuel Parr. Es war am Leuchtturm aufgenommen worden, sie schauten alle aufs Meer hinaus.

Vera kehrte in den Flur zurück. Das Studiopublikum im Fernseher brach gerade in schallendes Gelächter aus. Vera nutzte den Lärm, um die Haustür hinter sich zuzuziehen, und trat auf die Straße hinaus.

Einen Moment lang zögerte sie, dann ging sie drei Türen weiter zum Wohnhaus der Familie Sharp. Wo sie schon hier war, konnte sie sich auch mit Davys Frau unterhalten.