KAPITEL VIERUNDDREISSIG 

Gary hatte bei der Arbeit eine ruhige Phase. Die Band war gerade mit der Probe fertig, und er hatte den Sound so gut eingerichtet, wie es eben ging. Was allerdings vermutlich keinem auffallen würde. Die Musiker kamen aus Schweden, sie spielten experimentellen Jazz, seltsam dissonanten Lärm, der Gary in den Ohren wehtat. Jetzt hockten sie an der Bar und warteten auf ihren Auftritt. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte Gary sich zu ihnen gesetzt und Pint für Pint mit ihnen Schritt gehalten. Nachdem Emily ihn verlassen hatte, war er ziemlich am Boden gewesen. Der Schock war einfach viel zu groß. Er erinnerte sich immer noch bis ins Detail daran, wie sie ihm erklärt hatte, dass es keine Hochzeit geben würde: die Jeans, die sie anhatte, die Art, wie sie das Haar zurückgebunden hatte, das Parfum, das sie trug.

Sie hatten alles längst geplant. Das Kleid war gekauft, die Einladungen verschickt. Sie hatten in Jesmond eine Wohnung gefunden, die sie kaufen wollten. Emily arbeitete bei der Bank Northern Rock und hatte eine günstige Hypothek bekommen. Gary machte die Aussicht, plötzlich eine Ehefrau und eine Wohnung zu haben, zwar eine Heidenangst, doch er hatte mitgespielt, weil Em es so wollte. Er hätte alles für sie getan. Ihre Mutter hatte ihn zwar nie gemocht, doch die Vorstellung, eine große Hochzeit zu feiern, gefiel ihr, und sie hatte bereits alles organisiert: die Kirche, die Torte, die Abendgarderobe. Für ihre Emily war ihr nur das Beste gut genug.

Und dann war aus heiterem Himmel ein Typ aufgetaucht, den Em noch von der Uni kannte, und hatte ihr ewige Liebe geschworen. Ein mageres, schmächtiges Jüngelchen, gar nicht mal unattraktiv, wenn man auf diese unterernährten Dichtertypen stand. Was bei Emily anscheinend der Fall war, denn zwei Wochen vor dem großen Tag hatte sie Gary den Laufpass gegeben. Sie war immer noch mit dem Typen zusammen, der inzwischen als Lehrer an einer Schule in Ponteland arbeitete. Einmal hatte Gary ihn in der Stadt in einer Kneipe gesehen und ihm eine verpasst. Der Typ hatte es mit Fassung getragen, aber Gary hatte anschließend eine Anzeige wegen öffentlicher Ruhestörung am Hals. Er war damals ziemlich betrunken gewesen. Heute würde er bestimmt ganz anders reagieren.

Er hatte Emily vergöttert und sie damit in die Flucht geschlagen. Wer konnte so einem Ideal schon entsprechen? Der magere Knabe konnte gar nichts dafür.

Inzwischen trank Gary nicht mehr bei der Arbeit. Wenn ich im Büro arbeiten würde, säße ich ja auch nicht mit einer Flasche Wein auf dem Schreibtisch da. Das erklärte er den anderen Jungs in dem engen, abgetrennten Stück Flur, das sich Büro schimpfte. Hinter den Kulissen des Sage kam man sich eher vor wie in einem U-Boot, nicht wie in einer superschicken neuen Konzerthalle. Nur Rohre, Kabel und graue Kellerfarbe.

Gary nahm seine Arbeit ernst. Nur darin war er wirklich gut, es gab ihm Halt. Als seine Eltern damals das Haus in Spanien kauften, hatten sie ihn gefragt, ob er nicht mitkommen wollte. Dort gebe es bestimmt genug für ihn zu tun, sagten sie. Bei den vielen Kneipen. Fast überall werde Live-Musik gespielt, da brauchten sie sicher auch jemanden für den Ton. Doch Gary hatte beschlossen, in Shields zu bleiben. Hier hatte er seine Wohnung und seine beruflichen Kontakte. Und seine Vogelfreunde. Er konnte sich die Auftritte aussuchen, die er machen wollte. Diese Freiheit würde er mit der festen Stelle im Sage jetzt zwar aufgeben, aber er sagte sich, dass er es trotzdem nicht bereute. Zumindest fast nicht.

Er stieg die Stufen zur kleinen Konzerthalle hinauf, hielt seinen Ausweis vor die Tür, die in den Backstage-Bereich führte, und ging dann weiter den Flur entlang bis zum Büro der Techniker. Neil, sein Chef, saß weit zurückgelehnt auf seinem Schreibtischstuhl und hackte eifrig auf die Tastatur ein.

«Wegen dem Angebot mit der festen Stelle», sagte Gary.

«Ja?» Neil machte sich nicht einmal die Mühe, den Blick vom Bildschirm zu heben. Er hatte Gary schon oft genug gefragt und jedes Mal einen Korb bekommen.

«Ich habe mich entschieden, das Angebot anzunehmen.»

Das sicherte ihm die nötige Aufmerksamkeit. Neil stellte die Lehne seines Stuhls wieder gerade und hörte auf zu tippen. Seine Miene, als er sich zu Gary umdrehte, war wirklich sehenswert. Er sprang auf, drückte Gary die Hand, schlug ihm herzlich auf die Schulter. Gary merkte, dass er ebenfalls strahlte. Doch als er das Büro verließ, zitterte er am ganzen Körper. Was hatte er da eigentlich getan?

Plötzlich stand ihm ein Bild vor Augen, wie alles werden würde. Julie und er würden zusammen in dem Haus in Seaton wohnen. Es war ein guter Ort zum Leben. Nah genug an der Küste, um schnell dort zu sein, wenn der Wind drehte und die Zugvögel kamen. Nah genug am Ausguck, um Seevögel zu beobachten. Natürlich konnte er sie diesbezüglich nicht drängen. Lukes Tod nahm sie noch sehr mit. Aber er war sich sicher, dass sie diese Tragödie unbeschadet überstehen würde. Sie war eine starke Person. Sie würde sich nicht verändern. Außerdem war er ja da, um sie zu unterstützen und ihr zu helfen, diese Zeit zu überstehen.

Er war sich auch gar nicht sicher, wie er mit einem Stiefsohn klargekommen wäre. Ob Julie wohl von ihm erwartet hätte, dass er sich wie ein Vater benahm? Er gestand es sich zwar nicht gerne ein, aber im Grunde war er gar nicht traurig darüber, dass Luke tot war. Das hätte alles viel komplizierter gemacht. Der Junge hätte für Julie immer an erster Stelle gestanden. Gary fand es schrecklich von sich, die Dinge so zu sehen, aber er konnte nichts dagegen machen. Das brachte ihn wieder auf Laura. Er dachte daran, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, draußen auf der Straße vor dem Haus in Seaton. Sie hatte ihm nachgesehen, als er wegfuhr. Ihn taxiert. So war es ihm wenigstens vorgekommen. Er sah sie vor sich in ihrem schwarzen kurzen Rock und der weißen Bluse und gab sich Mühe, sie nicht sexy zu finden. Wenn er mit Julie zusammenkam, würde sie wie eine Tochter für ihn sein, da war das doch einfach nur ekelhaft. Aber irgendetwas an ihr … ihre Jugend vielleicht, ihre Energie, ihr Trotz … das ging ihm unter die Haut. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Laura ihm mindestens so oft durch den Kopf ging wie Julie. Vielleicht war es ja die ungefährlichere Option, erst in das Haus in Seaton zu ziehen, wenn Laura richtig erwachsen war.

Ihm blieb noch eine halbe Stunde, bis der Auftritt begann, und er ging nach draußen, um etwas frische Luft zu schnappen, umrundete das riesige, muschelförmige Gebäude bis zur Vorderseite und schaute auf den Tyne hinaus. Seine Eltern waren nach Spanien ausgewandert, weil sie das Wetter hier nicht mehr ertrugen, doch er konnte sich gar nicht vorstellen, anderswo zu leben. Er war stolz auf diese Stadt. Er erzählte den Leuten gern, dass er im Sage arbeitete. Rechts von ihm, ein Stück flussabwärts, erhob sich die Baltic Gallery wie ein gewaltiger Klotz. Gary erinnerte sich noch an die Zeit, als das Gebäude nur ein verfallenes Lagerhaus gewesen war, in dessen Mauerspalten Möwen nisteten und an dessen Fassade der Vogeldreck klebte. Als das Museum eröffnet wurde, hatte er sich zusammen mit Samuel die Gormley-Ausstellung angeschaut. Alleine wäre er da sicher nicht hingegangen. Er fühlte sich hinter der Bühne am wohlsten. Aber die Skulpturen, all diese Gestalten aus gebogenem Metall, so zart wie Zuckerwatte, hatten ihm richtig gut gefallen. Es war seltsam gewesen, mit Samuel dort zu sein, der teilweise sogar das Personal kannte. Er war Teil des Kunst-Klüngels an der Tyneside, den Gary eigentlich verabscheute. Die Leute kamen ihm immer vor wie Außerirdische, wenn sie sich im Sage blicken ließen.

Die Flut hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht, die Wellen schwappten nur noch träge und schienen sich schon wieder auf den Rückzug vorzubereiten. Am Nordufer strömten Leute aus den Kneipen. Gary hörte Fetzen einer Melodie, die schon wieder verklungen war, bevor er sie einordnen konnte, dann eine Autohupe. Die Strahlen der Abendsonne spiegelten sich in all dem Glas und färbten das Wasser rot. Ob Samuel oder Clive oder Peter Calvert es wohl seltsam finden würden, Gary bei seiner eigentlichen Arbeit zu sehen, an seinem Mischpult, wo er über den Ton bestimmte, der das Publikum erreichte, und dafür sorgte, was die Zuschauer hier in diesem hell erleuchteten Bau erlebten? Sie kannten ihn doch nur als besessenen Seevögelbeobachter. Sie waren seit Jahren befreundet, und trotzdem wussten sie eigentlich kaum etwas voneinander. Seine Freunde wussten, dass er sich in Julie verliebt hatte, seinen Schwarm aus der Grundschule, in ihr Lachen und ihr Selbstbewusstsein. Aber sie konnten nicht mal ahnen, dass er auch von der halbwüchsigen Laura in ihrem kurzen schwarzen Schulrock träumte. Obwohl sie sich alle als enge Freunde betrachteten, hatte doch jeder Geheimnisse, die er nicht mit den anderen teilte.

Garys Handy piepste. Eine SMS. Sie war von Julie, und er verspürte ein plötzliches Schuldgefühl, das richtig körperlich war. Sein Gesicht brannte, als liefe er knallrot an. Was machst du heute noch? Da schob er die Laura-Phantasien entschlossen beiseite und antwortete sofort. Arbeiten. Bin nicht vor Mitternacht fertig. Ihre Antwort ließ so lange auf sich warten, dass er schon fast die Hoffnung aufgab. Vielleicht war ihr diese simple Feststellung ja wie eine Ausflucht vorgekommen? Er hätte sich mehr Zeit lassen sollen, sich die Formulierung besser überlegen. Unruhig überlegte er, ob er eine weitere SMS schreiben sollte. Gleich musste er reingehen und den letzten Soundcheck machen, und bei der Arbeit schaltete er das Handy immer aus. Die Antwort kam, als er sich schon vom Fluss abgewandt hatte und die Stufen halb hinauf war. Ich hol dich ab. Bis später.