KAPITEL VIERUNDVIERZIG 

Vera hatte davon geträumt, Laura ihrer Mutter zurückzubringen. Von dem Moment an, als ihr klargeworden war, dass das Mädchen vermisst wurde, hatte sie dieses Bild im Kopf gehabt. Sie hatte sich in Julies Küche stehen sehen, den Arm um Lauras Schultern gelegt. Schauen Sie mal, wen ich hier habe, Herzchen. Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass ich sie Ihnen heil und gesund wiederbringe. Und Julie war ihr so dankbar gewesen. Im Traum.

In Wirklichkeit aber spielte es sich ganz anders ab. In Wirklichkeit war Ashworth der Held. Als sie das Klebeband von Lauras Mund entfernten, fing das Mädchen an zu husten und zu keuchen. Vielleicht waren es die Belastungen des Tages, die jetzt diesen Asthmaanfall hervorriefen, vielleicht auch die Tatsache, dass sie so lange nicht richtig hatte atmen können. Ashworth war es, der die Symptome erkannte, der den Krankenwagen rief und mit Laura ins Krankenhaus fuhr. Er saß neben ihr und hielt ihre Hand, als sie mit heulendem Martinshorn die Spine Road entlang zum Wansbeck General brausten. Als sie im Krankenhaus ankamen, war sie schon wieder viel ruhiger. Man behielt sie über Nacht zur Beobachtung dort, doch schon am nächsten Morgen wollte sie unbedingt nach Hause. Sie war wieder ein kleines Mädchen, das nur zu seiner Mutter wollte.

Es war schon fast Mitternacht, als Julie von Holly in das Krankenzimmer geführt wurde, wo Laura zur Beobachtung lag. Julie wirkte angespannt, hatte die Stirn gerunzelt. Anscheinend wollte sie nicht recht glauben, dass Laura wirklich in Sicherheit war, bis sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Ashworth saß immer noch an Lauras Bett, als die beiden hereinkamen, und so war er es, der Julies Tränen sah, ihre Dankbarkeit erlebte. Und obwohl Vera wusste, wie albern das war, kränkte es sie doch, dass sie nicht diejenige gewesen war, der Julie mit Tränen in den Augen dankte. Dafür hatte sie aber recht damit behalten, Clive Stringer zu verdächtigen. Das war immerhin ein Trost.

Sie selbst war im Garten von Deepden geblieben, anstatt das Mädchen zu seiner Mutter zurückzubringen, und hatte auf die Ankunft des Wanderzirkus gewartet, den ein so schwerer Vorfall immer auf den Plan ruft. Als Erstes traf die Feuerwehr ein. Die Feuerwehrmänner waren sichtlich enttäuscht, dass es sich nur um ein so kleines, leicht zu bändigendes Feuer handelte. Vera hatte das Gefühl, als fänden sie ihre Anwesenheit hier einzig und allein durch den Todesfall gerechtfertigt. Sie stand da und sah ihnen zu und hatte dabei immer noch Clive Stringer mit seinen vom Feuer roten Brillengläsern vor Augen, wie er reglos dastand, während die Hütte ringsum in Flammen aufging. Am Ende also doch noch eine dramatische Geste. Als das Spurensicherungsteam später die Trümmer durchsuchte, förderte es zwei Margeritenstängel zutage, völlig heil und unversehrt.

 

Peter Calvert stieg gerade aus dem Wagen, als Vera in Fox Mill ankam. Sie sah, wie Felicity sie mit sorgenvoller Miene vom Küchenfenster aus beobachtete. In ihrer gegenwärtigen Verfassung konnte Vera allerdings nur wenig Mitleid aufbringen.

«Ich muss mit Ihnen reden», sagte sie.

Calvert wollte bereits protestieren.

«Sie haben mich angelogen», fuhr Vera fort. «Das allein würde schon für eine Klage reichen.» Wenn sie bloß ein Mann gewesen wäre. Am liebsten hätte sie den Kerl verprügelt. «Was halten Sie davon, wenn wir unsere Unterredung ins Gartenhaus verlegen? Zurück ins Liebesnest. Das hilft Ihrem Gedächtnis ja vielleicht auf die Sprünge. Keine Sorge, ich habe einen Schlüssel. Den habe ich mir bei der Spurensicherung besorgt. Ihre Frau braucht nichts davon zu erfahren. Zumindest vorläufig noch nicht.»

Sie machte sich auf den Weg über die Wiese und war sich sicher, dass Calvert ihr folgen würde. Als er am Gartenhaus ankam, hatte Vera bereits die Tür aufgeschlossen und sich an den Tisch gesetzt.

«Hier hat Clive Lily Marsh getötet», sagte sie. «Aber das wissen Sie ja bereits. Oder Sie hatten zumindest den Verdacht. Wieso hätten Sie denn sonst lügen sollen, als es um die Karte mit der gepressten Blume ging?»

Calvert hatte sich ihr gegenüber hingesetzt. Jetzt lächelte er. «Eine kleine Notlüge unter Druck, Inspector. Das hat doch nichts weiter zu bedeuten.»

«Sie haben Clive dazu angestiftet. Sie waren sein großer Held. Sie wussten, dass er alles für Sie tun würde. Deshalb haben Sie ihm auch von Lily erzählt. Dass sie droht, Ihre Affäre öffentlich zu machen. Wann war das? Bei einem der gemütlichen Essen am Freitagmittag?»

«Ich musste einfach mit jemandem reden, Inspector. Es war eine sehr anstrengende Zeit für mich.»

«Wie haben Sie ihn denn auf die Idee gebracht? ‹Wenn sie bloß irgendeinen Unfall hätte …› Sie haben ihm auch erzählt, dass Sie ihr die Karte geschickt haben. Hatten Sie etwa Angst, dass sie die als Beweis für die Affäre verwenden könnte? ‹Wenigstens habe ich sie nicht unterschrieben. Niemand kann wissen, dass ich der Absender bin. Wir waren doch so vorsichtig.› Die Küsse allerdings haben Sie nicht erwähnt.

Und Clives Plan war noch sehr viel detaillierter, als Sie sich das ausgemalt hatten. Er spielte Schach. Er liebte komplizierte Anordnungen. Und er hatte keinen echten Bezug zur Wirklichkeit – das ist meinem Sergeant bereits nach dem ersten Gespräch klargeworden. Es war ihm nicht genug, Lily Marsh umzubringen. Er wollte den Verdacht von Ihnen ablenken. Deshalb hat er zuerst Luke Armstrong getötet, weil er auch noch seine eigenen Gründe hatte, ihn tot sehen zu wollen. Er hat ihm die Karte geschickt, um die Verbindung zu Lily herzustellen und um Sie zu schützen. Davon müssen Sie doch gewusst haben. Wieso sonst hätten Sie lügen sollen, als ich Sie gefragt habe, ob Sie Lily vielleicht eine ähnliche Karte geschickt haben?» Vera hielt inne, um Luft zu holen. «Wann war das, Doktor Calvert? Wann hat Clive Ihnen gestanden, dass er Luke und Lily umgebracht hat?»

Calvert schwieg.

Vera schlug mit der Faust auf den Tisch, so fest, dass sie sicher war, am nächsten Tag einen blauen Fleck zu haben.

«Ihnen kann doch sowieso nichts passieren, Mann. Ich kann Sie nicht mal verklagen. Die Staatsanwaltschaft würde die Klage in null Komma nichts abweisen. Sie sind doch intelligent, Sie wissen, wie so was läuft. Aber erzählen Sie’s mir wenigstens. Befriedigen Sie meine Neugier.»

«Vor ein paar Tagen wurde eine Sardengrasmücke in Deepden gesichtet. Ich habe Clive mit zurück in die Stadt genommen. Da hat er mir alles erzählt. Er schien zu erwarten, dass ich mich darüber freue. Aber ich war einfach nur schockiert.»

«Anscheinend aber nicht schockiert genug, um uns davon zu erzählen.» Sie sprach mit trügerisch ruhiger Stimme. «Um ein Haar hätte es ein weiteres Opfer gegeben. Und trotzdem haben Sie kein Wort gesagt. Warum, Doktor Calvert? War das irgendeine krankhafte Form von Loyalität? Oder hatten Sie Angst, dass Clive Sie in die Sache hineinziehen würde?»

«Das muss ich mir nicht anhören, Inspector. Wie Sie selbst sagen: Sie können mir nichts anhaben.»

Er stand auf und ging durch die offene Tür nach draußen. Vera sah, wie er die Wiese überquerte und dabei seiner Frau, die offenbar noch immer am Fenster stand, wie zur Beruhigung eine Kusshand zuwarf.

 

Um zehn Uhr am selben Vormittag setzten bei Ashworths Frau die Wehen ein. Gegen fünf rief er auf dem Revier an, um Vera zu erzählen, dass sie einen Sohn bekommen hatten. Jack Alexander. Er wog fast 4500 Gramm, ein richtiger kleiner Brummer. Vera war gerade im Begriff, das Revier zu verlassen, um endlich ins Bett zu kommen, ließ sich dann aber doch noch überreden, ihn auf ein Bier zu treffen. Sie feierte zwar nur ungern anderer Leute Kinder, aber das war immer noch besser, als stocknüchtern und allein in ein leeres Haus zurückzufahren. Am Ende schlug sie ihm sogar vor, sie doch auf dem Heimweg im alten Stationsvorsteherhäuschen zu besuchen. Sie wusste, dass sie sich sowieso nicht auf zwei halbe Pints beschränken konnte, und so musste sie anschließend wenigstens nicht mehr fahren. Auf dem Heimweg fuhr sie beim Supermarkt vorbei und kaufte eine Flasche Champagner und einen riesigen Blumenstrauß für Sarah. Ashworth würde sich sicher darüber freuen. Außerdem legte sie noch ein indisches Fertiggericht und eine Flasche Grouse in den Einkaufswagen. Sie würde später etwas zum Einschlafen brauchen.

Ashworth traf fünf Minuten nach ihr ein. Vom Küchenfenster aus sah sie ihn aus dem Wagen springen, übernächtigt und strahlend. Sie hatte sich bereits einen großen Whisky genehmigt. Jetzt spülte sie das Glas aus und stellte es zurück auf das Tablett, damit Ashworth nicht merkte, dass sie schon etwas getrunken hatte.

Sie setzten sich nach draußen. Das Haus war noch viel unordentlicher als sonst, und Vera wollte nicht, dass er das Chaos sah. Sie hätte es nicht ertragen, dass er sie bemitleidete. Sie fühlte sich leicht benommen vom Schlafmangel. Während sie sich unterhielten, hörten sie die Tiere der Nachbarn: Schafe, Ziegen und der unvermeidliche Hahn.

«Sie hatten also doch recht», sagte Vera. «Stringer war ein echter Spinner.»

«Und Sie wussten schon die ganze Zeit, dass er es war?»

«Ich hielt es für eine reelle Möglichkeit.»

«Aber Sie haben nichts gesagt.»

«Ich hatte keine Beweise. Außerdem kannte ich in meiner Jugend etliche Typen wie Clive Stringer. Einzelgänger, Besessene. Die sind auch nicht alle zu Serienmördern geworden.»

«Und warum ausgerechnet er?»

«Er war nun mal romantisch», sagte Vera. «Er glaubte an glückliche Familien.»

«Das ist ja wohl kein Motiv.»

«Für ihn schon», gab sie zurück. «Für ihn hatte das alles eine eigene Logik.» Sie schaute in die Ferne und dachte sich, dass die Berge an diesem Abend gestochen scharf und nah wirkten. Das schöne Wetter würde wohl nicht mehr lange anhalten.

«Das müssen Sie mir erklären.» Auch Joe glaubte an glückliche Familien, und zwar schon früher, bevor er selbst eine hatte. Aber er war schließlich auch in einer groß geworden. Vera merkte, dass er sie ansah, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.

«Clive war ein Einzelgänger», sagte sie. «Kein Vater. Keine Freunde. Nur diese Hexe von Mutter, die alles Leben aus ihm herausgesaugt hat. Er hatte zwei Ersatzfamilien: die Sharps und Peter Calvert und seine Vogelfreunde. Beide Morde sollten dazu dienen, diese Familien zu schützen. Er fühlte sich Tom Sharp sehr nahe, hat auf ihn aufgepasst, als er noch klein war, und Luke gab er die Schuld an Toms Tod. Die Calverts waren für ihn das perfekte Paar. Er hat Peter vergöttert und glaubte, in Felicity verliebt zu sein. Er wollte nicht, dass sie verletzt wird, indem sie von der Affäre ihres Mannes erfährt.»

«Wir werden nie mit Sicherheit wissen, was in seinem Kopf vorging, stimmt’s?» Ashworth sah von seinem Glas auf, und Vera spürte, dass er mit seinen Gedanken ganz bei seinem neugeborenen Sohn war, diesem runzligen, roten, brüllenden Geschöpf. Bevor er ihr erlaubt hatte, über die Mordfälle zu reden, hatte sie sich sämtliche Details der Geburt anhören müssen. Wie tapfer Sarah gewesen war. «Sie hat sich absolut nichts geben lassen, nur ein bisschen Sauerstoff und etwas Lachgas.» Ihm war es völlig gleichgültig, dass Clive Stringer zwei Menschen ermordet und einen dritten entführt hatte. Zumindest an diesem Abend. Die Erklärung «Spinner» genügte ihm völlig.

Doch Vera war das keineswegs gleichgültig. «Peter Calvert war sein großer Held. Clive hat genau das getan, was Peter wollte: Er hat seine Ehe gerettet, und Peter war Lily Marsh für immer los. Wissen Sie noch, wie wir Clive im Museum gefragt haben, ob er es uns verschweigen würde, wenn er herausfände, dass einer seiner Freunde einen Mord begangen hat? Er meinte, natürlich würde er schweigen. Aber wir hätten ihn eigentlich fragen sollen, ob er selbst für einen seiner Freunde einen Mord begehen würde.»

Fast sprach sie nur noch mit sich selbst. Sonne, Whisky und Schlafmangel versetzten sie in eine Art Trance. «Und wäre er das Ganze etwas einfacher angegangen, er wäre vielleicht sogar damit durchgekommen.»

Joe schaute wieder von seinem Glas auf. Jetzt war auch er plötzlich bei der Sache. «Wie meinen Sie das?»

«Sein eigentliches Opfer sollte Lily Marsh sein. Sie machte Calvert das Leben schwer. Wir wissen, dass er Schwierigkeiten mit ihr hatte. Deshalb ist sie ja beispielsweise auch bei den Calverts zu Hause aufgetaucht, um sich das Gartenhaus anzuschauen. Sie ging davon aus, dass Felicity ihrem Mann davon erzählen und er die darin enthaltene Drohung erkennen würde. Nimm mich zurück, sonst erzähle ich das alles deiner Frau. Sie rief Calvert ständig im Büro an. Sie hat sich sogar eingeredet, von ihm schwanger zu sein. Da hat Calvert sich schließlich Stringer anvertraut. Sie trafen sich einmal pro Woche zum Mittagessen. Calvert wusste, dass er Stringers großes Idol war, und verfügt außerdem über das nötige Selbstvertrauen, um davon auszugehen, dass ein echter Freund auch für ihn töten würde. Aber dafür können wir ihn natürlich nicht zur Verantwortung ziehen.»

Sie stellte sich vor, wie Calverts Worte Clive zu Hause in dem Bungalow in North Shields immer wieder durch den Kopf gegangen waren, wie er den Mord plante, während seine Mutter im Nebenzimmer Quizsendungen im Fernsehen schaute, wie er ebenso besessen davon war wie vom Vögelbeobachten oder von seinen Freundschaften. «Er spielte Schach», fuhr sie fort. «Er hat immer mit Calverts Sohn gespielt. Und in diesem speziellen Spiel hat er die Züge bereits im Voraus sorgfältig geplant.»

«Aber warum Luke Armstrong? Und wieso hat er ihn als Ersten getötet?»

«Das musste sein. Stringer wollte vermeiden, dass Calvert irgendwie mit den Morden in Zusammenhang gebracht wird. Er dachte sich, wenn er Luke Armstrong zum ersten Opfer macht, würden wir uns bei der Frage nach einem möglichen Motiv nur auf den Jungen konzentrieren.»

«Dann hätte das erste Opfer also praktisch jeder sein können? Hat Stringer sich einfach ganz willkürlich jemanden ausgesucht, um uns in die Irre zu führen?»

«Nein. Keineswegs willkürlich. Stringer hätte sich niemals dazu durchringen können, einen Mord zu begehen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass Calvert auf ihn angewiesen ist. Aber ich glaube, er war ganz froh um diesen Vorwand, Luke umbringen zu können. Immerhin gab er ihm die Schuld an Tom Sharps Tod. Wie übrigens auch noch manch anderer. Für Clive war Tom wie ein Bruder. Wie gesagt, die Sharps betrachtete er als eine Art Ersatzfamilie. Und er war dabei, als Gary von seinen Plänen erzählt hat, mit Julie auszugehen; er wusste also, dass sie an dem Mittwochabend nicht zu Hause sein würde. Vielleicht hat er das ja als Zeichen interpretiert und beschlossen, dass es an der Zeit ist, aktiv zu werden. Von Laura wusste er nichts, er hatte auch keine Ahnung, dass sie da ist, als Luke ihn hereingelassen hat. Erst später hat er von Gary erfahren, dass Luke eine Schwester hat, die an dem Abend ebenfalls im Haus war.»

«Und deshalb hat er sie dann entführt?»

«Ach was», sagte Vera. «Er hat einfach Spaß an der Sache bekommen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Macht.»

«Und die Idee mit den Blumen hatte er von der Gedenkfeier für Tom Sharp am Ufer des Tyne?»

«Möglich. Er wusste, dass er Calvert am besten aus allem raushält, wenn er der Polizei weismacht, dass die beiden Fälle zusammenhängen, dass es die wahllosen Morde eines Wahnsinnigen sind. Es musste also eine Verbindung geben. Daher die Blumen und das Wasser. Ich glaube nicht, dass Stringer einen Hang zum Theatralischen hatte. Die Inszenierung der Leichen und die Gestaltung des Fundorts waren einfach Teil seines Plans.»

«Man sollte gar nicht meinen, dass er so viel Phantasie gehabt hat», bemerkte Joe.

«Nun, er hat sich das alles ja auch nicht alleine ausgedacht, Herzchen.» Vera goss sich einen weiteren Whisky ein und hoffte dabei, dass Joe in Gedanken immer noch mit seinem Baby beschäftigt war und es nicht bemerkte. «Auf die Idee gebracht hat ihn diese bescheuerte Geschichte. Parrs Kurzgeschichte. Wir haben ja auch gedacht, Parr sei der Mörder, als wir sie gelesen haben. Darin wird das Opfer erdrosselt. Wie hat Parr das noch gleich beschrieben? ‹Wie eine Umarmung›? Und anschließend wird die Leiche ins Wasser gelegt. Ich habe das Buch in Clives Zimmer gesehen, als ich mich dort umgeschaut habe. Allerdings die Taschenbuchausgabe, eine ganz andere Ausgabe als die, die ich mir aus der Bibliothek geholt hatte. Mit einem anderen Umschlag. Mir ist das erst im Nachhinein aufgefallen. Außerdem hat er das Badeöl seiner Mutter entwendet, um es im Haus der Armstrongs ins Badewasser zu geben. Als ich im Badezimmer der Stringers war, habe ich dort nur Männerduschgel gesehen. Das hätte mir auch auffallen können.»

Sie griff nach dem Glas und trank es leer. War das jetzt ihr drittes gewesen? Oder schon ihr viertes? «Wie gesagt, es war alles geplant. Ganz sorgfältig. Er wusste, dass Calvert Lily eine Karte mit einer gepressten Blume geschickt hatte. Also hat er Luke auch so eine Karte geschickt.»

Von weitem hörte sie ihre Nachbarin die Hühner zusammenrufen, um sie für die Nacht in den Stall zu sperren. Sie lockte sie an, indem sie mit einem Löffel an die Futterschüssel schlug. Das dumme Weib gab jedem Huhn einen Namen und heulte jedes Mal, wenn einem davon der Hals umgedreht wurde. Vera nahm ihr die toten Hühner bereitwillig ab, um einen Schmortopf daraus zuzubereiten.

«Um hinzukommen, hat er einen Wagen gestohlen. Wir haben alle Autovermietungen abgeklappert, uns aber nicht um die gestohlenen Autos gekümmert. Ich habe mich von ihm hinters Licht führen lassen; ich hätte ihn nie für einen Dieb gehalten, aber er ist natürlich lange genug mit den Sharps herumgezogen, um zu wissen, wie man so was anstellt. Eine Zeit lang war er sogar mal richtig gut darin. Das habe ich aber heute erst erfahren. Als er noch zur Schule ging, hat er hin und wieder Autos für Davy Sharp organisiert. Aufgehört hat er damit erst, als Calvert ihm die Stelle im Museum verschafft hat. Nach dem Mord an Luke hat er den Wagen einfach wieder in North Shields abgestellt. Hätte er es dabei belassen, dann wären wir ihm niemals auf die Spur gekommen. Aber das war ja nicht sein eigentliches Ziel. Das bestand darin, Lily Marsh zu töten, Calverts Ehe zu retten und sich dadurch unentbehrlich zu machen.»

«Hat er sie wirklich in dem Gartenhaus in Fox Mill getötet?», fragte Ashworth. Er schien das alles immerhin so interessant zu finden, dass es ihm eine Zwischenfrage wert war. Gegen seinen Willen ließ er sich in die Geschichte hineinziehen.

«Es kann gar nicht anders gewesen sein. Wie hätte er eine solche Frau denn sonst allein zu fassen kriegen sollen? Vielleicht hat er ihr einen Brief geschrieben, hat Calverts Handschrift gefälscht oder den Brief gleich am Computer verfasst. Das werden wir vermutlich nie erfahren. Aber ich bin überzeugt davon, dass er dort war. Heute Nachmittag habe ich noch mit Felicity Calvert telefoniert. Auf intensive Nachfragen hin hat sie schließlich zugegeben, dass sie einen weißen Landrover auf der Straße gesehen hat, als sie James an dem Tag von der Schule abholte. Wenn die Spurensicherung sich noch ein bisschen Mühe gibt, lässt sich sicher auch nachweisen, dass er dort war.»

«Der weiße Landrover», sagte Ashworth. «Der dem Wasserwerk gestohlen wurde. Damit hat er die Leiche also zu dem Tümpel transportiert.»

«Er hat ihn direkt aus dem Depot geklaut», brummte Vera ärgerlich. «Und kein Mensch hat ihn vermisst, bis ich sie aufgefordert habe, doch mal nachzuschauen. Deshalb hat auch Davy Sharp gestern bei mir angerufen. Er hatte mitbekommen, dass Clive neuerdings wieder klaut. Das konnte er gar nicht verstehen, wo doch so viel für ihn auf dem Spiel stand. Und er hatte auch gehört, dass ein Mädchen entführt worden ist. Mit dem Landrover war es natürlich kein Problem für Clive, über Steine und Gras bis zu dem Tümpel zu gelangen. Deshalb hat ihn auch niemand mit Lilys Leiche gesehen.»

Langsam wurde sie wirklich müde, und die Anspannung ließ nach. Noch ein letztes Glas Whisky, dann würde sie in der Nacht wenigstens schlafen können. «Clive muss wohl wieder nach Seaton zurückgekehrt sein und das Haus beobachtet haben, möglicherweise von dem Weg aus, der am See vorbeiführt. Da hat er dann Laura gesehen. Er war häufig dort, schließlich hat er schon als Jugendlicher in der Gegend Vögel beobachtet. Wenn ihn jemand mit seinem Feldstecher sah, fiel das gar nicht weiter auf. Vogelkundler gehören dort ja praktisch zum Inventar. Am Tag der Entführung muss er ihr fast bis zur Bushaltestelle gefolgt sein und einen Moment abgepasst haben, als die Straße ganz frei war. Laura ist klein und schmal, es kann nicht weiter schwierig sein, sie zu überwältigen. Und Clive hat nie eine Freundin gehabt. Man kann sich die Phantasien vorstellen, die ihm durch den Kopf spukten, wenn er nachts wach lag und diese Geschichte las. Wahrscheinlich hat Laura ihn einfach fasziniert, zumal sie der Figur aus Parrs Geschichte sehr ähnlich war. Vor sich selbst wird er das alles damit gerechtfertigt haben, dass sie ihn in der Nacht, als er bei Luke war, schließlich gesehen haben konnte. Vielleicht wollte er auch erreichen, dass wir unsere Ermittlungen wieder auf die Familie Armstrong konzentrieren, nachdem wir uns plötzlich so intensiv mit Calvert beschäftigt haben. Aber das war alles nicht der eigentliche Grund, dass er sie so früh am Morgen entführt hat, als sie gerade auf dem Weg zur Schule war. Er hat sie am Leben gelassen, weil ihm der Gedanke gefiel, sie ganz für sich zu haben. Er hat sie in den Kofferraum des gestohlenen Wagens gesperrt und ist zur Arbeit gegangen, um sich ein Alibi zu verschaffen. Und dabei hat er die ganze Zeit den Mord geplant, sich ausgemalt, wie es wohl aussehen würde. Wie schön sie sein würde, wenn sie erst einmal tot wäre. Er hat das Büro früher verlassen als sonst, dann ist er mit ihr an die Küste nach Deepden gefahren und hat sie dort in der Beringungshütte eingesperrt.»

«Hatte er denn überhaupt vor, sie zu töten?»

«Aber sicher. Er hatte ja schon die Blumen parat.»

Ashworth trank sein Glas aus und warf einen Blick auf die Uhr. «Ich muss los. Noch einen schnellen Besuch im Krankenhaus. Und Sarahs Mutter hat den ganzen Nachmittag über Katie gehütet. Bin ich froh, wenn wir morgen endlich wieder alle zusammen zu Hause sind.»

Vera sah ihm nach, als er zum Wagen ging, den Champagner in der einen, die Blumen in der anderen Hand. Wenn sie mit einem Mann wie Joe Ashworth verheiratet wäre, dachte sie sich, würde sie sich derart zu Tode langweilen, dass sie irgendwann wahrscheinlich selbst einen Mord begehen müsste.