KAPITEL NEUNZEHN
Am Montagmorgen wurde Gary geweckt, weil sein Pager piepste. Er war so eingestellt, dass er sich nur meldete, wenn es Großalarm gab, wenn also irgendwo im Land ein außergewöhnlich seltener Vogel gesichtet wurde. Es war erst sechs Uhr, doch hier im Norden war es um diese Jahreszeit schon seit über einer Stunde hell. Der Pager lag auf dem Fußboden neben dem Bett, und Gary angelte danach, drückte ein paar Knöpfe und kniff dann die Augen kurz zusammen, um die Nachricht lesen zu können. Inzwischen reiste er zwar längst nicht mehr durch halb England, um einen seltenen Vogel zu sehen, doch der übliche Adrenalinschub setzte trotzdem ein.
Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er da las. Sardengrasmücke im Naturschutzgebiet Deepden, Northumberland. Das war sein Gebiet. Der Ort, wo Clive und er von Peter und Samuel das Beringen gelernt hatten. Der einzige Ort, an dem es ihm je gelungen war, Emily eine Zeit lang zu vergessen. Schon spürte er den unvermeidlichen Neid. Das hätte ich sein müssen. Ich hätte sie entdecken sollen. Und wenn schon nicht ich, dann wenigstens einer von den anderen. Eigentlich hätte es ja Clive sein müssen, dachte er. Ihm bedeutet das von uns allen am meisten. Clive sprach so gut wie nie von seiner Mutter, aber man merkte ihm an, dass er eigentlich nur dank der Wochenenden in Deepden nicht durchgedreht war. Er war auch immer noch hingefahren, als die anderen sich schon längst mit anderen Dingen befassten.
Während Gary noch über all das nachdachte, war er bereits aus dem Bett gesprungen und hatte das Handy in der Hand. Er besaß als Einziger einen Pager. Die anderen behaupteten, das aus Prinzip abzulehnen. Schließlich interessierten sie sich ganz allgemein für Naturkunde und nicht nur dafür, seltene Vögel abzuhaken. Als Erstes wählte er Peters Nummer. Wenn man sie als Bande betrachtete, war Peter Calvert der Anführer; und obwohl es angeblich unter seiner Würde war, eine Liste der gesichteten Vögel zu führen, würde er das doch auf keinen Fall versäumen wollen. Schließlich hatte er zu der Gruppe gehört, die die Beobachtungsstation in Deepden in den sechziger Jahren begründet hatte.
Peter hörte sich Garys aufgeregtes Geschnatter an und fluchte dabei leise vor sich hin. «Ich habe um zehn eine Vorlesung. Aber wenn sie natürlich gut zu sehen ist und ich sie gleich entdecke …» Gary wusste, er würde hinfahren, Vorlesung hin oder her. «Ich rufe Sam an», fuhr Peter fort. «Er hat vor der Arbeit sicher noch Zeit genug, um hinzufahren.» Gary widersprach nicht. Er wusste, dass es außer Peter keiner von ihnen wagen durfte, den Schriftsteller Sam um diese Uhrzeit anzurufen.
Nachdem er aufgelegt hatte, rief er umgehend bei Clive an. Der würde mitkommen, da bestand kein Zweifel. Zur Not würde er auch einen Tag krankfeiern, die Nacht in der Station verbringen und es am nächsten Morgen wieder versuchen. Aber er brauchte natürlich eine Mitfahrgelegenheit. Als Clive schließlich abnahm und sich flüsternd meldete, weil seine schreckliche Mutter im Zimmer nebenan schlief, hatte Gary sich bereits den Feldstecher um den Hals und das Spektiv über die Schulter gehängt und war die erste Treppe hinunter.
Gary hatte die Gründungsgeschichte der Beobachtungsstation Deepden sicher schon tausend Mal gehört. Als sie als Jugendliche jedes Wochenende hinfuhren, hatten die älteren Mitglieder viel davon erzählt. Wenn sie nach einem Tag Vögelberingen abends bei Whisky oder Bier vor dem Kamin saßen, genossen sie noch einmal den Triumph, endlich das Geld aufgebracht zu haben, um der alten Frau, der es damals noch gehörte, das Haus abzukaufen. Sie erinnerten sich daran, wie sie den Garten angelegt, den Teich ausgehoben, Schneisen für die Fangnetze ins Unterholz geschlagen hatten. An die große Eröffnungsfeier der Beobachtungsstation, zu der alles kam, was im Bereich Naturkunde Rang und Namen hatte. Möglicherweise war aber, nachdem die Arbeit getan war, auch die Spannung verflogen, denn schon damals verbrachten sie mehr Zeit beim Teetrinken im Haus als draußen auf dem freien Feld. Inzwischen campierte eine neue Generation von Vogelbeobachtern in den beiden Schlafsälen. Sie torkelten spätnachts dorthin zurück, nachdem sie bis weit über die Sperrstunde im Fox and Hounds im Dorf Deepden gesoffen hatten, und spürten die seltenen Vögel auf.
Die vier Freunde hatten ihre regelmäßigen Besuche dort erst vor ein paar Jahren eingestellt. Es war ein Statement gewesen. Ein Protest. Gary hatte sich damals schon mehr für Seevögel interessiert und sich entsprechend rargemacht. Er erinnerte sich nicht einmal mehr genau, worum die Auseinandersetzung sich gedreht hatte. Es mussten wohl irgendwelche politischen Fragen innerhalb des Trägervereins gewesen sein. Vielleicht hatte Peter auch einfach nur gefunden, dass man ihm nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Jedenfalls war er als Vorsitzender zurückgetreten, und die anderen drei hatten sich hinter ihn gestellt. Und damit hatten die rituellen Wochenendaufenthalte in der Beobachtungsstation ein Ende. Clive nahm es damals schwerer als die anderen. Er hatte ja sonst kein Leben – es sei denn, er führte irgendein Doppelleben, das er vor ihnen geheim hielt. Gary traute ihm das durchaus zu. Natürlich schauten sie immer noch hin und wieder in Deepden vorbei, aber es war doch ziemlich merkwürdig, nicht mehr dazuzugehören.
Clive wartete bereits draußen vor dem einstöckigen Haus seiner Mutter. «Wir hätten gestern, nachdem wir in Fox Mill waren, noch hinfahren sollen.» Es war das Erste, was er sagte, noch bevor er Gary begrüßt hatte oder in den Wagen gestiegen war. Die ganze Fahrt nach Norden blieb er angespannt, hockte vorgebeugt, mit hochgezogenen Schultern, auf dem Beifahrersitz. Gary erzählte ihm von Julie, von ihrem Sohn, der getötet worden war. Sie redeten alle gern mit Clive, weil sie wussten, dass er Geheimnisse für sich behalten konnte.
«Was muss das für ein Albtraum sein», sagte er. «Stell dir das nur mal vor, den eigenen Sohn so zu verlieren! Und für die Schwester erst. Die hat im Nebenzimmer geschlafen, als es passiert ist.»
Clive schwieg und zeigte erst wieder eine Regung, als das rote Lämpchen an Garys Pager aufblinkte und es Neues von der Grasmücke gab.
Die Beobachtungsstation war für die Zugvögel der erste Ort, den sie ansteuerten, wenn sie die Küste erreichten. Der flache Bungalowbau lag einen knappen halben Kilometer landeinwärts. Er war noch vor dem Krieg als Ferienhaus erbaut worden und umgeben von mehr als viertausend Quadratmetern Garten, dem eigentlichen Vogelschutzgebiet. Vor allem die Lage des Hauses hatte für die Gründer den Ausschlag gegeben. Der Bungalow selbst hätte gut auch in ein Küstenstädtchen gepasst: ein niedriges, nicht sehr ansehnliches Gebäude aus weiß verputztem Backstein, das nur durch die gerade erblühenden Klematis auf der Terrasse ein bisschen ansprechender wirkte.
Sie waren von der A1 nach Osten abgebogen und der Morgensonne entgegen eine schmale Straße entlanggefahren, hatten ein hässliches Dörfchen durchquert und schließlich einen Feldweg genommen. Die Station befand sich am Ende dieses Weges. Dort parkten bereits ein halbes Dutzend Wagen. Gary entdeckte Peters Volvo und den kleinen VW-Sportwagen, den Samuel sich kürzlich geleistet hatte. Clive war bereits aus dem Wagen, bevor Gary den Motor ausgestellt hatte, stürmte durch das hölzerne Tor in den Garten und überließ es Gary, ihm nachzukommen und das Tor hinter sich zu schließen. Der Garten selbst war eine Oase in dem flachen, wüsten Land rings um das Haus. Landeinwärts erstreckte sich ein großes Tagebaugebiet, eine Mondlandschaft aus felsigen Plateaus und Gruben, über die bereits gewaltige Laster mit riesigen Reifen krochen. Zwischen dem Haus und der Dünenkette, hinter der die Küste begann, grasten Kühe auf einer schmalen Weide.
Der Garten war so angelegt, dass Vögel und Insekten gern dorthin kamen. Sie hatten den Rasen umgegraben und stattdessen einen Teich angelegt, der inzwischen so von Pflanzen um- und überwuchert war, dass man die Wasserfläche kaum noch sehen konnte. Seerosen breiteten ihre flachen, glänzenden Blätter darüber, Schilf wuchs dicht an dicht. Und anstelle der einstigen Rabatten wucherten jetzt große, stachlige Buddleiabüsche für die Schmetterlinge ringsum und Sträucher, die im Herbst Beeren trugen und Drosseln anlockten.
Die Fangnetze waren ausgebreitet, es musste also eine Gruppe zum Beringen dort sein. Wahrscheinlich hatten sie die Sardengrasmücke beim ersten Kontrollgang an den Netzen entdeckt. Im Obstgarten hinter dem Haus hatten sich die Vogelfreunde versammelt.
Die Sardengrasmücke war auf einer Weißdornhecke gesichtet worden, die das Naturschutzgebiet begrenzte. Die Vogelbeobachter standen im Halbschatten der Apfelbäume und schauten angestrengt durch ihre Feldstecher. Es ließ sich nicht erkennen, ob der Vogel tatsächlich zu sehen war oder ob sie nur nach ihm Ausschau hielten. Als Gary in den Garten kam, hatte Clive sein Stativ bereits aufgebaut und das Spektiv in Anschlag gebracht.
«Vor zehn Minuten ist sie wieder im Gebüsch verschwunden», berichtete er. «Und kein Mensch kann mir sagen, wohin genau.» Seine Stimme klang, als wollte er gleich jemanden umbringen.
Gary vermutete, dass sie wohl alle im Gespräch gewesen sein mussten, als die Grasmücke weggeflogen war. Weiter hinten entdeckte er Peter und Samuel, die entspannt lächelten und mit den anderen plauderten. Wenn man den Vogel einmal gesehen hatte, ließ die Anspannung nach, man passte nicht mehr so genau auf. Er hielt das Fernglas auf die Hecke gerichtet und spürte die Unruhe wie einen schmerzhaften Knoten im Magen. Diese Art des Vogelbeobachtens mochte er überhaupt nicht. Es war ihm einfach zu viel Stress, zu warten, wenn man zwar wusste, dass der Vogel da gewesen war, aber nicht, ob er immer noch da war. Seit der Sache mit Emily konnte er Stress nicht mehr gut verkraften. Deshalb beobachtete er auch lieber das Meer. Für ihn gab es nichts Entspannenderes, als im Ausguck neben dem Leuchtturm zu sitzen. Ob dort Vögel vorbeikamen oder nicht, konnte man ohnehin nicht beeinflussen, es gab also keinen Grund, nervös zu werden. Jetzt allerdings spürte er, wie ihm das Herz immer schneller schlug, er musste sich zwingen, seinen Atem ruhig zu halten, und fragte sich, ob es richtig gewesen war herzukommen.
«Da ist sie.» Clive stand immer noch über sein Spektiv gebeugt und sprach so leise, dass nur Gary ihn hören konnte. «Etwa vier Meter vom Zaun in unsere Richtung, ganz oben auf dem kahlen Ast.» Dann hatte auch Gary sie gefunden. Sie nahm das ganze Sichtfeld seines Spektivs ein. Er sah die Innenseite des Schnabels, als die Grasmücke zu rufen begann, er sah sogar ihre Augenfarbe. Der Wahnsinn. Erst die sechste Sichtung in ganz Großbritannien, und das ausgerechnet hier in Deepden. Das war es doch wert gewesen, um sechs Uhr früh aus dem Bett geworfen zu werden, und auch die lange Anfahrt und der ganze Stress hatten sich gelohnt.
Diejenigen, die bei Gary und Clive standen, hatten die Aufregung mitbekommen und den Vogel jetzt ebenfalls entdeckt. Dann verschwand die Grasmücke wieder hinter der Hecke, und alle standen da und strahlten. Ein paar verabschiedeten sich bereits wieder und sagten etwas von Schinkensandwiches und Büro. Clive blieb konzentriert, und als der Vogel sich erneut zeigte, ein Stück weiter weg auf einem abgestorbenen Baum am Rand des Feldwegs, entdeckte er ihn.
Peter Calvert konnte gar nicht aufhören zu reden; man hätte meinen können, er hätte die Sardengrasmücke höchstpersönlich als Erster gesichtet.
«Wir haben hier jedes Jahr mindestens einen Vogel, der auf der britischen Seltenheitsliste steht. In diesem kleinen Naturschutzgebiet. Dabei haben sie uns, als wir anfingen, alle noch erklärt, wir würden unsere Zeit verschwenden.» Gary nahm belustigt zur Kenntnis, dass Peter sich immer noch mit Verdiensten brüstete, die inzwischen vierzig Jahre zurücklagen. Ihn störte das ja nicht, aber er konnte verstehen, dass manche Leute solche Reden in den falschen Hals bekamen.
«Ich muss los», sagte Peter jetzt. «Ich muss zu meiner Vorlesung. Ich kann die Studenten ja schließlich nicht hängenlassen. Was ist mit dir, Clive? Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?»
Und obwohl man Clive ansah, dass er gern noch ein wenig Zeit mit dem Vogel verbracht hätte, klappte er die Beine des Stativs zusammen und folgte Peter zum Wagen. Peter war immer noch sein großer Held. Wahrscheinlich, dachte Gary, würde Clive auch in ein brennendes Haus laufen, wenn Peter das von ihm verlangte. Draußen auf dem Feldweg kamen immer noch mehr Autos an. Ein Vorstandsmitglied der Beobachtungsstation postierte sich mit einem Eimer am Gartentor und verlangte Eintritt von den Neuankömmlingen.
Samuel und Gary gingen ins Haus. Sie waren schließlich immer noch zahlende Mitglieder. Als er über die Schwelle trat, fühlte Gary sich sofort in die Zeit zurückversetzt, als sie noch regelmäßig herkamen. Drinnen roch es nach Holzfeuer, obwohl wahrscheinlich schon seit Monaten keines mehr gebrannt hatte. Nach Holzfeuer und nach dem Imprägniermittel, das man für Barbourjacken und Lederstiefel verwendete. Sie machten sich einen Tee, stibitzten jeder zwei Kekse aus der Dose im Küchenschrank und setzten sich dann auf zwei rostige, schmiedeeiserne Stühle am Teichufer.
«Was hältst du denn eigentlich von dieser Sache am Freitagabend?», fragte Samuel.
Gary brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Samuel von der toten Frau am Leuchtturm sprach. «Diese Sache» – das schien ihm nicht ganz die richtige Bezeichnung für einen Leichenfund.
«Keine Ahnung. Am Samstag stand diese Polizistin nochmal bei mir vor der Tür, die dicke Frau, die schon in Fox Mill war. Der tote Junge aus Seaton, das war Julies Sohn. Wir hatten uns am Mittwochabend in der Stadt getroffen, und als sie nach Hause gekommen ist, hat sie ihn gefunden. Ist schon ein irrer Zufall, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, sie glaubt mir, dass ich nichts mit dem Mädchen zu tun habe.»
Samuel antwortete nicht gleich. Gary hatte ein paar von seinen Kurzgeschichten gelesen, und er erschrak jedes Mal wieder, wenn er feststellte, dass Samuel, der doch so gutmütig und durchschnittlich wirkte, so etwas schreiben konnte. Geschichten, die einen bis in den Schlaf verfolgten, sodass man nachts hochschreckte und die Bilder immer noch im Kopf hatte. Sein Schreiben beeindruckte Gary, machte ihm aber auch ein wenig Angst.
«Und du hast Lily Marsh ganz sicher nicht gekannt?», fragte Samuel schließlich.
«Natürlich nicht! Ich hatte sie noch nie im Leben gesehen.»
Samuel schien mit dieser Reaktion zufrieden zu sein. «Vielleicht sollten wir wieder öfter herkommen», sagte er. «Ihnen zeigen, wie man’s richtig macht.»
Doch bei Gary weckte Deepden zu viele Erinnerungen, Erinnerungen an die Zeit, als er fast durchgedreht war, weil Emily ihn verlassen hatte. Damals hatte er die Station gebraucht und die drei guten Freunde, die ihm Halt gaben. Aber jetzt, dachte er, war es Zeit, sich neuen Dingen zuzuwenden. Und obwohl er erst nachmittags im Sage sein musste, sagte er Samuel, er müsse jetzt langsam zur Arbeit. Er brachte seinen Teebecher zurück ins Haus und ging zu seinem Transporter. Am Feldweg parkten jetzt so viele Autos, dass er allein zum Wenden fast eine halbe Stunde brauchte.