Prolog
Hinter dem einzigen, unverglasten Fenster der
Scheune dämmerte der Morgen herauf. In seinem kühlen Grau
verblassten die Sterne einer nach dem anderen. Die Kühe spendeten
sich gegenseitig Wärme und drängten sich dicht aneinander, Kopf an
Schwanz. Die Ziegen standen still in ihrem Gehege und lauschten
beunruhigt, wie die kleine Falbenstute in ihrem Stall kämpfte. Die
ganze Nacht hatten Char und ihre Besitzerin gemeinsam gehechelt und
gekeucht. Jetzt, wo der Himmel sich langsam aufhellte, war Chars
Zeit gekommen.
Die Stute presste. Larkyn Hammloh stemmte die
Stiefel in das nasse Stroh und zerrte. Ihr Wams und ihre
verhedderten Röcke waren von den Geburtssäften durchnässt, die den
Stall mit ihrem beißend-süßlichen Duft erfüllten, dem, wie Lark
wusste, Geruch des neuen Lebens, hinter dem dieselbe Kraft stand,
die das Getreide reifen ließ und das Kommen und Gehen des Mondes
bestimmte. Zugleich war es der Geruch des Todes, der die Zeiten
miteinander verschmolz. Larkyn Hammloh war ein Mädchen vom Land,
sie fühlte sich mit der Natur verbunden und war überwältigt von
diesem Moment, der Magie eines neuen Lebens, das um seine Existenz
rang.
»Komm, noch einmal, Char!«, feuerte sie die
Stute an. Salziger Schweiß brannte ihr in den Augen, aber sie hatte
keine Hand frei, um ihn fortzuwischen. Gerade wollte sie
ihr Gesicht an der Schulter reiben, als Char von einem heftigen
Krampf geschüttelt wurde. Lark stützte sich ab und zerrte an den
glitschigen Fesseln des Fohlens. »Braves Mädchen«, feuerte Lark sie
an. »Du bist mein tapferes Mädchen. Komm, noch einmal!«
Ein Schauer lief über die Flanken der Stute.
Obwohl Lark als einfaches Mädchen aus dem Hochland kein Recht
hatte, zu Kalla, der Göttin der Pferde, zu beten, tat sie es
dennoch. Lark flehte sie an, ihr genügend Kraft zu geben, und
umklammerte mit aller Macht die Fesseln des Fohlens. Sie tat es für
Char, ihre arme kleine Char, ihr Findelkind.
Bis auf das wenige, was sie von der Falbstute
gelernt hatte, wusste Lark nicht besonders viel über Pferde. Diese
Tiere waren selten im Hochland, und so hatte es weder auf dem
Unteren Hof noch in dem kleinen Örtchen Willakhiep jemals ein Pferd
gegeben. Lark hatte Char gefunden, als diese bis zu den Knöcheln im
eiskalten Wasser des Schwarzen Flusses gestanden hatte. Die Rippen
des Pferdes hatten wie die gebogenen Zinken einer Heugabel
hervorgestanden, und ihr Fell hatte die Farbe des Rauchs gehabt,
der aus den Kaminen quoll, wenn im Herbst die Brombeersträucher
verbrannt wurden. Weder Lark noch ihre Brüder ahnten damals, dass
Char ein Fohlen unter dem Herzen trug. Doch nun, wo der strenge
Winter im Hochland seinen eisigen Griff langsam lockerte, stand sie
vor der Geburt.
Das Fohlen lag falsch herum im Mutterleib, die
Hinterläufe kamen zuerst. Lark hatte mit allen erdenklichen Mitteln
versucht, es zu drehen, ohne Erfolg. Und nachdem die Geburt jetzt
begonnen hatte, konnte sie ihm einfach nur beistehen. Gemeinsam mit
Char schnappte sie nach Luft.
Sie zog, und Char stöhnte auf. Die Stute presste ein letztes Mal.
Begleitet von einem nassen Rauschen, glitt das Füllen schwach und
ungelenk, mit ausgestreckten Beinen auf das weiche Stroh.
Nase und Maul waren von einer gräulich roten
Schicht bedeckt. Lark zog an der gallertartigen Masse und säuberte
die winzige Schnauze. Sie beugte sich vor und blies kräftig in die
Nüstern des Fohlens. Es antwortete ihr mit einem Schnauben und
einem kleinen kläglichen Schrei. Als Lark das nasse Wesen in ihren
Armen wiegte, stieß auch sie einen staunenden Schrei aus. Das Fell
des Neugeborenen fühlte sich klebrig und rau an.
Als sie sicher war, dass das Tier regelmäßig
atmete, blickte sie hoch. »Char, sieh nur!«, sagte sie sanft. »Sieh
dir dein Kleines an!«
Gewöhnlich reagierte die Stute auf Larks Stimme.
Das hatte sie bereits am ersten Tag getan, als sie sich vor
Schwäche kaum auf den Beinen hatte halten können und Lark sie einen
wackeligen Schritt nach dem anderen durch die Felder zur Scheune
gelockt hatte. Jetzt jedoch lag Char vollkommen erschöpft da. Ihre
Flanken bewegten sich kaum noch, und ihr schwarzer Stirnschopf
hatte sich in den langen Wimpern verfangen. Obwohl Lark mit ihr
sprach, atmete die kleine Stute immer flacher und starrte mit ihren
dunklen Augen auf einen Punkt, den nur sie sehen konnte.
»O nein«, flüsterte Lark.
Lark war ein Mädchen vom Land. Sie hatte bei
Schlachtungen, Unfällen und nicht zuletzt während der Krankheit
ihrer Mutter hinlänglich Bekanntschaft mit dem Tod gemacht. Deshalb
wusste sie, was es bedeutete, als die Augen der Stute langsam trübe
wurden, sie einen letzten rasselnden
Atemzug von sich gab, der fast erleichtert klang, bevor ihr Blick
brach.
Lark, selbst fast noch ein Kind, drückte das
mutterlose Hengstfohlen an ihre Brust und weinte. Jetzt gab sie
sich dem Kummer hin, der Erschöpfung und dem Schock, und schluchzte
hemmungslos.
Das Fohlen in ihren Armen begann zu wimmern und
zu zappeln und erinnerte sie daran, wie kalt es in der
Morgendämmerung war. Ihre nasse Kleidung fühlte sich eisig an und
auch das Fohlen war nass und kalt. Sie musste es trocken
reiben.
Als ihr klar gewesen war, dass Chars Niederkunft
bevorstand, hatte sie einen Stapel alter Handtücher in die Scheune
gebracht. Jetzt nahm sie eines und rieb vorsichtig Kopf und Hals
des Fohlens ab. Das rappelte sich mühsam auf die langen Beine auf,
lehnte sich zitternd vor Schwäche an sie und blickte sie aus großen
Augen an. Mit einer Hand stützte Lark es, mit der anderen rieb sie
über Widerrist und Rückgrat, um die letzten Reste der Fruchtblase
zu entfernen.
Lark spürte, wie die ersten Strahlen der Sonne
durch das Fenster auf ihre Wangen schienen. Sie glitzerten auf den
gefrorenen Gräsern auf dem nördlichen Weideland, schimmerten im
Süden auf den Brachäckern, fielen auf das Schieferdach des
Wohnhauses und ließen die letzten Schneereste silbern funkeln. Und
sie erhellten auch allmählich das Innere des Stalls. In ihrem Licht
konnte Lark erkennen, dass das Hengstfohlen so schwarz war wie die
Steine des Hochlandes, denen der Fluss seinen Namen
verdankte.
Sie fuhr mit dem Handtuch über die Rippen des
Füllens, über seinen Rücken, und hielt plötzlich inne, als sie
unter dem Handtuch etwas Festes spürte, das ihr Widerstand
leistete.
Das Fohlen wimmerte erneut; es klang fast wie
ein Schluchzen. Vorsichtig schob Lark das Tier ein Stück von sich
weg, um zu sehen, was da unter dem Widerrist direkt hinter den
Schultern wuchs.
Was sie sah, erfüllte sie mit Ehrfurcht.
Ein solches Lebewesen gehörte allein dem
Fürsten, das wusste jeder. Oc war ein winziges, von Feinden
umringtes Fürstentum, das nur wenige Reichtümer besaß. Seine raue
Küste lag ungeschützt da, offen für die Handelswege, die von
anderen, größeren Fürstentümern beansprucht wurden. Lebewesen wie
dieses Fohlen waren eine besondere Gabe der Göttin Kalla und das
wertvollste Gut, das Oc besaß. Ob Fürst, Prinz oder König, sie alle
neideten Oc seine geflügelten Pferde. An der Blutlinie dieser
Pferde herum zupfuschen kam Hochverrat gleich. Hätte einer aus
ihrer Familie das bemerkt …
Aber das hatten sie natürlich nicht, wie auch?
Keiner hatte geahnt, dass die kleine Char ein solches Wunder in
sich trug. Die Geburt eines solchen Wesens auf dem Unteren Hof war
ein derart gewichtiges Ereignis, dass Lark es kaum fassen
konnte.
Mit zitternden Fingern streichelte sie den
schmalen Kopf des Hengstfohlens, drückte ihn an sich und schlang
vorsichtig die Arme um seinen zierlichen Hals.
»Bei Zitos Ohren, mein Kleiner!«, hauchte sie.
»Du hast ja Flügel!«