Kapitel 10
Wilhelm trieb sein Pferd auf dem Weg zur Akademie kräftig an, rammte ihm die Sporen in die Flanke, wenn es langsamer wurde, und galoppierte an den wenigen anderen Passanten vorbei, die so früh morgens bereits unterwegs waren. Kutscher von Ochsenkarren, die offensichtlich nicht wussten, wen sie da verfluchten, drohten ihm mit erhobenen Fäusten. Eine Schweineherde stob vor den stampfenden Hufen des Wallachs auseinander, doch Wilhelm beachtete all das nicht weiter. Slathan hatte ihm die Neuigkeit heute Morgen auf dem Frühstückstablett serviert. Er war daraufhin aus dem Bett gesprungen, hatte Kaffee und Toast ignoriert, sich in die Kleidung vom Vorabend geworfen und war die Treppen hinunter und hinaus zu den Ställen geeilt. Er musste diesen verrückten Krisp aufhalten. Es blieb keine Zeit, so zu tun, als wolle er sich zuvor mit seinem Vater beraten. Er musste seine Entscheidung treffen und die Konsequenzen tragen. Bedauerlicherweise war Krisp schwer zu beeinflussen. Wilhelm würde sich etwas einfallen lassen müssen.
»Drei Tage!«, schimpfte Wilhelm leise vor sich hin und riss vor lauter Enttäuschung an den Zügeln. Einer würde dafür bezahlen müssen, dass man versäumt hatte, ihn zu informieren. Noch ein Tag später, und es wäre bereits geschehen. Doch über dieses Problem würde er später nachdenken.
Nach zwanzig Minuten scharfem Galopp erreichte er das Tor der Akademie, wo er das Tempo drosselte, um den Wallach abzukühlen und zu verbergen, wie eilig er hergekommen war. Die Hitze des Sommers ließ noch auf sich warten, und die Felder der Akademie lagen grün und friedlich unter dem leichten Morgennebel. Wilhelm ritt an der Weide mit den Jährlingen vorbei, wo die geflügelten Fohlen an den Zaun preschten, als sie ihn vorbeireiten sahen, und dann neben ihm hertrabten. Als er den Hof erreicht hatte, zog er die Zügel scharf an. »Herbert!«, rief er. »Herbert? Bist du da oben?«
An dem Fenster des Stallknechts im Dachgeschoss wurden die Vorhänge beiseite gezogen, und einen Augenblick später polterte der kleine Mann die Treppe herunter. Ein Oc-Hund folgte ihm auf dem Fuß, und eines der Stallmädchen, eine untersetzte sommersprossige junge Frau, steckte den Kopf aus der Sattelkammer.
»Hoheit.« Herbert deutete eine Verbeugung an. »Wir haben Sie nicht erwartet.«
Wilhelm schwang sich aus dem Sattel und zog seine Weste glatt. »Ich will Krisp sprechen.«
»Der ist noch nicht hier, Hoheit.«
»Wo ist das neue Fohlen? Das aus dem Hochland.«
Bei diesen Worten zögerte Herbert und richtete den Blick mit leicht geöffnetem Mund hinter Wilhelm auf die Halle. Wilhelm fühlte, wie die kalte Wut in ihm aufwallte. »Diese Pferde hier gehören alle mir … meinem Vater, Herbert, und ich handle in seinem Auftrag. Wenn ich das Fohlen sehen möchte, brauche ich niemandes Erlaubnis.«
Herbert stand immer noch zweifelnd da. »Gut, Hoheit. Rosella führt Sie zu dem Stall.«
»Ich will Eduard Krisp sprechen, sobald er hier auftaucht.«
»Wir erwarten ihn jeden Augenblick, Hoheit.«
»Gut. Ich werde im Saal frühstücken, solange ich warte.« Wilhelm ließ die Gerte auf seinen Oberschenkel knallen. »Aber erst sehe ich mir das Fohlen an.«
Auf einen Wink von Herbert trat ein Stallmädchen in Stiefeln, einem warmen Wams und Rock aus der Dunkelheit. Sie senkte den Blick, als sie vor Wilhelm stand. Offensichtlich hatte sie schon von ihm gehört. Also gut. Ein bisschen Angst konnte heute ganz hilfreich sein. Vielleicht bestand ja irgendeine Verbindung zwischen dieser Rosella und Krisp. Er musste versuchen, das herauszufinden. Wenn dem so war, konnte es ihm nutzen. Sie war nicht besonders attraktiv, aber das musste nicht bedeuten, dass sich niemand für sie interessierte.
Er klemmte die Gerte unter den Arm und folgte ihr durch die Stallungen. Die geflügelten Pferde warfen die Köpfe hoch, als er an ihnen vorbeikam, und er wahrte umsichtig Abstand zu ihnen. Er wollte keine unnötigen Fragen aufkommen lassen.
Das Stallmädchen blieb neben einer bescheidenen Stallbox stehen. Sie mied immer noch seinen Blick und murmelte: »Das ist es, Hoheit. Das Fohlen aus dem Hochland.«
Wilhelm machte einen kleinen Schritt nach vorn, gerade so, dass er in den Stall sehen konnte, ohne so dicht an das Fohlen heranzukommen, dass das Stallmädchen misstrauisch wurde. Das Fohlen hob den Kopf und blickte ihn aus großen, intelligenten Augen an.
Sein Brustkorb bildete sich langsam aus, die Muskeln der Flügel zeichneten sich bereits auf seiner Brust ab. Seine Kruppe war flach, der Rücken kurz, die Beine makellos und zierlich. Es war enttäuschend klein, sein Kopf reichte kaum bis an Wilhelms Schulter heran.
Freilich war auch Königin Maus klein gewesen, eine hässliche Stute. Sie war eine dieser Ocmarin-Raritäten, die ohne erkennbaren Grund ohne Flügel geboren wurden. Doch der Hengst, der sie gedeckt hatte, war groß gewesen und dafür bekannt, Fohlen zu zeugen, die früh reif waren. Dennoch war dieses Fohlen sein erster geflügelter Nachkomme. Und es erlaubte Wilhelm, sich ihm weiter zu nähern, als jedes andere geflügelte Pferd zuvor. O ja, Isamar würde an diesem Fohlen hier sehr interessiert sein!
Er trat noch einen Schritt näher. Da bewegte sich in dem Stall etwas, und ein kleiner brauner Kopf mit hängenden Schlappohren und einem zotteligen Bärtchen erschien über dem Tor. Das Wesen schien ihn misstrauisch zu beäugen.
»In Kallas Namen! Was macht dieses Ding denn hier?«, fauchte er.
»Das ist eine Ziege, Hoheit«, erklärte Rosella überflüssigerweise.
»Ich weiß, dass das eine Ziege ist! Ich habe ja schließlich Augen im Kopf, Mädchen! Aber was hat sie im Stall des Fohlens zu schaffen?«
»Die Ziege hat es gesäugt und ihm Gesellschaft geleistet. Die junge Dame wollte sie nicht zurücklassen.«
»Die junge Dame.«
»Ja, Herr.« Zum ersten Mal zuckte Rosellas Blick kurz zu ihm, dann sah sie schnell wieder weg.
Wilhelm hielt die Gerte in seiner Hand fest umklammert und zügelte sein Temperament. »Und um was für eine ›junge Dame‹ handelt es sich da denn wohl?«, fragte er, wohl wissend, dass sich dieser täuschend seidige Ton in seine Stimme gemischt hatte, ein Ton, der selbst Slathan erschaudern ließ. Dieses Stallmädchen war offensichtlich zu dumm, es zu bemerken.
»Um Larkyn Hammloh. Sie ist an das Fohlen gebunden.«
»Das Ding ist wohl kaum eine Dame«, murmelte Wilhelm in sich hinein. »Ein Balg von einem Hof aus dem Hochland.« Rosella warf ihm erneut einen Blick zu, sah aber sofort wieder zu Boden.
Die Tür zur Halle wurde geöffnet, und der Klang heller Stimmen drang über den Hof. Das Frühstück musste vo rüber sein. Die Flugklassen würden gleich beginnen, und Krisp musste jeden Moment hier eintreffen. Wilhelm trat von dem Stall des Fohlens zurück, während sich seine Gedanken förmlich überschlugen. Das Fohlen war klein, das stimmte, aber er wollte es auf jeden Fall unversehrt. Es hatte Flügel, und das war alles, worauf es ankam.
 
Philippa stand neben Margrets Schreibtisch, während Eduard Krisp sprach. Larkyn Hammloh stand ihm gegenüber und blickte den Zuchtmeister finster an. Eduard, ein stämmiger, rotgesichtiger Mann mit schütterem Haar, ignorierte das Mädchen schlichtweg.
»Margret!«, stieß er hervor. »Mit einer solchen Auseinandersetzung habe ich heute Morgen wirklich nicht gerechnet. Der Zuchtmeister ist mit derartigen Entscheidungen bereits seit den Tagen des alten Fürsten Frans betraut!«
Margret erhob sich steif von ihrem Stuhl. »Eduard. Sie ist erst seit drei Tagen hier und konnte sich bislang kaum an unsere Sitten gewöhnen.«
»Er ist noch zu jung, um schon kastriert zu werden!«, wiederholte Lark eigensinnig.
»Margret, seit wann sind Ihre Schülerinnen Expertinnen auf diesem Gebiet?«, stieß Eduard hervor.
Larkyn hob trotzig das schmale Kinn. »Ich habe den Mann gefragt, der die Postkutsche führt.«
Ohne sie anzusehen, sagte Eduard: »Selbst ein unerfahrenes Mädchen sollte verstehen, dass ein geflügeltes Pferd etwas vollkommen anderes ist als ein Gaul vor einem Kutschbock!«
»Mir scheint, Eduard, Larkyn dachte, so wie übrigens auch ich, dass diese Entscheidung nicht getroffen würde, bevor das Fohlen ein Jahr alt ist!«, schaltete sich Margret ein.
»Dieses Fohlen ist anders«, erklärte Krisp. »Es hat bereits Hoden wie ein Kämpfer, obwohl es zu klein für diese Blutlinie ist. An ihm ist alles falsch – seine Kruppe ist zu flach für einen Kämpfer, er ist schwarz wie ein Nobler, doch er hat den Körper eines Boten. Es gibt nichts an ihm, das wir im Stammbaum weitergeben möchten.«
»Sie urteilen ein bisschen voreilig, Eduard«, warf Philippa ein. »Es kann doch Merkmale geben, die sich erst noch entwickeln …«
»Nein. Ganz gewiss nicht. Ich habe den Tierarzt bestellt, und er wird innerhalb der nächsten Stunde hier sein.«
»Haben Sie denn auch ein Mittel gegen die Schmerzen? Den Ziegen geben wir jedenfalls immer eines«, mischte sich Lark ein.
Krisp weigerte sich immer noch, sie anzusehen. »Margaret, ich lasse mir von Ihren Schülerinnen nicht erzählen, wie ich meine Arbeit zu machen habe! Wieso lassen Sie zu, dass ich mich vor einem ungebildeten Bauernmädchen verteidigen muss?«
Philippa versuchte, den Zuchtmeister zu beruhigen. »Kommen Sie schon, Eduard …«, begann sie, doch Margret schaltete sich dazwischen.
»Eduard«, sagte sie ruhig. »Unsere Mädchen bringen große Opfer und haben Respekt verdient.«
»Genau wie ich!«, fuhr er hoch.
Während dieses Wortwechsels hatte Larkyn mit brennenden Wangen dagestanden. Philippa hatte ihr Mienenspiel bereits zu deuten gelernt, und sie ahnte, dass ihr Schützling kurz vor einem Wutausbruch stand.
»Eduard«, sagte sie rasch, »es ist doch ganz natürlich, dass wir unsere Pferde schützen möchten.«
»Gut und schön«, erwiderte er. »Aber die Blutlinien liegen in meiner Verantwortung.«
»So wie die geflügelten Pferde in unserer«, erklärte Margret mit Nachdruck. »Philippa hat recht, Eduard. Larkyns Sorge ist vollkommen normal.«
»Würden Sie Ihrer Schülerin bitte erklären, dass ich kein grausamer Mensch bin?«
»Aber Tup ist …«, setzte Larkyn an.
Jetzt endlich wandte sich Eduard direkt an das Mädchen. »Hören Sie endlich auf, diesen Namen zu gebrauchen!«
Lark beugte sich vor, um den Zuchtmeister zu zwingen, ihr in die Augen zu sehen. »Mein Fohlen bekommt ein Schmerzmittel, oder ich lasse nicht zu, dass Sie es kastrieren«, verkündete sie mit ihrem starken Dialekt.
»Sie lassen es nicht zu!« Krisp wirbelte vollends zu ihr herum. »Sie haben in dieser Angelegenheit nicht das Geringste zu entscheiden! Außerdem versichere ich Ihnen, junge Dame, dass es keineswegs wehtut!«
»Es tut nicht weh?«, entgegnete das Mädchen lautstark. Sie stand so gerade, als hätte sie einen Stock verschluckt, und ihre lebhaften blauen Augen blitzten. »Und woher wollen Sie das wissen, Herr? Sprechen Sie vielleicht aus eigener Erfahrung?«
Eduard Krisp starrte das Mädchen aus dem Hochland mit offenem Mund an.
»Larkyn!«, stieß Philippa keuchend hervor.
»Still, Mädchen!«, befahl Margaret.
Lark starrte beide an, ihre Lippen waren ganz weiß geworden. Sie warf Krisp einen letzten, gequälten Blick zu, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und aus dem Büro stürmte. Der Zuchtmeister verschränkte die Arme und blickte Margret finster an. Die Leiterin der Akademie hüstelte und bedeckte den Mund mit einer Hand. Philippa sah sie neugierig an.
Eduard warf Philippa einen bösen Blick zu. »Das ist kein guter Anfang«, knurrte er.
Philippa zuckte mit den Schultern. »Na ja, wir haben größere Sorgen als das.«
»Ich verlange eine Entschuldigung«, erklärte der Zuchtmeister.
Margret ließ die Hand sinken und kniff die Augen zusammen. »Hüten Sie Ihre Zunge, Eduard. Wir sind weder fromme Schwestern noch hilflose Töchter. Die Pferde des Fürsten sind wertlos ohne ihre Reiterinnen.«
Er warf ihr einen bösen Blick zu. »Es gibt noch andere Reiterinnen.«
»Nicht für diese Pferde, Eduard. Sie alle sind bereits eine Bindung eingegangen.«
Dem konnte er nicht widersprechen. Als Philippa sah, wie sehr Eduard bemüht war, sich zu beherrschen, empfand sie fast ein bisschen Mitleid für ihn. Er warf ihnen einen vielsagenden Blick zu, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und hocherhobenen Hauptes aus dem Raum marschierte.
Erleichtert folgte ihm Philippa und schloss die Tür hinter ihm. Als sie sich wieder herumdrehte, saß Margret mit bebenden Schultern zusammengesunken in ihrem Sessel und hielt den Kopf in Händen.
»Margret! Margret, meine Liebe, geht es dir nicht gut?« Margret hob den Kopf, und nun sah Philippa, dass sie lachte.
»Margret …? Wieso …? Du lachst doch nicht etwa über den armen Eduard?«
»Es ist dieses Mädchen …«, prustete Margret und brachte vor lauter Lachen kein weiteres Wort zustande. Sie lachte, bis ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen und sie nach Luft rang. »Ich dachte schon, ich würde einen Lachkrampf bekommen, als dieses schmale Ding dem großen Zuchtmeister von Oc die Leviten gelesen hat! Oh, bei Kallas Fesseln, was für ein Anblick!« Wieder gluckste sie lauthals. Philippa musste ebenfalls kichern.
Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: »Es ist komisch, Margret. Aber wir können nicht zulassen, dass Larkyn sich so benimmt. Was dieses Kind für einen Ton am Leib hat!«
»Ich weiß.« Margrets Lippen zuckten immer noch. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und rieb sich die Augen. »Meine Güte, mein Zwerchfell schmerzt!« Sie holte tief Luft und schüttelte energisch den Kopf. »Also gut, das ist genug.«
»Lachen tut dir gut. Ich hoffe nur, dass das Ganze kein Nachspiel hat, weder für Larkyn noch für uns«, meinte Philippa.
Margret holte tief Luft und legte die Hände flach auf den Schreibtisch. »Nun, davon gehe ich aus. Aber damit werden wir irgendwie fertig werden. Für den Augenblick sollten wir lieber zu den Ställen gehen und zusehen, dass es richtig gemacht wird, wenn es schon sein muss.«
Philippa hob beide Brauen. »Wenn es sein muss? Bist du nicht der Ansicht, dass das Fohlen kastriert werden sollte?«
»Ich denke, Philippa, dass Eduard mehr daran interessiert ist, dass dieses mysteriöse Fohlen keine Nachkommen zeugt, als daran, wo es herkommt. Er hätte viel früher alarmiert sein müssen. Er hätte sich ins Hochland begeben müssen, um das Fohlen zu begutachten, und genau wie du versuchen müssen, mit Friedrich zu sprechen«, erwiderte Margret ernst.
»Man hätte es ihm verwehrt.«
»Das wissen wir nicht.« Margret schritt zur Tür. »Ich traue ihm nicht wirklich zu, dass er sich richtig darum kümmert. Und ich gebe dir Recht, dass es ein merkwürdiges kleines Fohlen ist, aber es ist dennoch eines von Kallas Wesen. Jedes ist ein Geschenk. Sorgen wir dafür, dass es schnell und sauber gemacht wird.«
»Sollen wir zusehen, dass Larkyn nicht in der Nähe ist?«
»Nicht unbedingt. Vermutlich weiß das Mädchen mehr über diese Dinge als wir alle zusammen.«
Philippa schnaubte. »Und wenn sie vor Krisp und dem Arzt in Ohnmacht fällt?«
Margret hatte die Hand auf den Türknauf gelegt und zögerte. »Es würde mich überraschen, Philippa, wenn Larkyn Hammloh schon einmal ohnmächtig geworden wäre. Oder überhaupt dazu fähig wäre.«
 
Sie fanden Larkyn in Tups Stallbox, wo sie über das Gatter hinweg den Arzt und seine Sammlung erschreckend aussehender Gerätschaften anstarrte. Neben ihr stand Rosella mit einer Schale und einem Stapel sauberer Tücher bereit. Über der Schulter trug sie ein aufgerolltes Seil. Alarmiert durch die Nähe des Arztes und des Zuchtmeisters, reckte das Fohlen den Kopf hoch in die Luft. Der Arzt war ein dürrer Mann mit grauen Haaren und dreckigen Fingernägeln. Philippa biss bei seinem Anblick die Zähne zusammen. Krisp weigerte sich standhaft, einer Frau beizubringen, wie eine Kastration durchzuführen war. Und er war längst nicht der Einzige, der Frauen ungeeignet für eine derart blutige Arbeit hielt. Doch nun stand die junge Larkyn neben ihm und legte beruhigend eine Hand auf den Hals des Fohlens. Krisp musterte sie, als solle sie sich jeden Moment aus dem Staub machen.
Sie ist wie eine zähe kleine Stute, dachte Philippa, die sich mutig zeigt, weil sie es sein muss. Wenigstens sah sie in der Uniform der Akademie schon deutlich besser aus und hatte offenbar versucht, sich das ungebärdige Haar zurückzubinden. Ihre ländlichen Wurzeln kamen nur noch zum Vorschein, wenn sie sprach, doch jetzt schwieg sie.
Tage wie dieser waren nie sonderlich erfreulich. Die Nähe der Männer versetzte die Fohlen geradezu in Hysterie. Sie mussten gefesselt und von jedem verfügbaren Helfer festgehalten werden. Die Mädchen führten sich fast ausnahmslos ebenso hysterisch auf, versteckten sich im Schlafsaal, schluchzten und hielten sich die Ohren zu, um die verzweifelten Schreie ihrer Fohlen nicht zu hören. Alle Lehrerinnen fürchteten diese Kastrationen und waren sehr erleichtert, wenn sie endlich vorbei waren.
Die Mädchen, die ihre Pferde am Morgen aus den Ställen geholt hatten, waren ruhig und bedrückt gewesen. Offenbar hatte sich die Angelegenheit bereits herumgesprochen, und jede wollte anscheinend möglichst weit weg vom Ort des grausamen Geschehens sein. Philippa sah, dass Rosella den hellbraunen Wallach und den Fuchs vor die Ställe gebracht hatte, weg von den fremdartigen Gerüchen, die Herbert und Eduard Krisp absonderten. Philippa trat näher an Tups Box heran. Die braune Ziege hatte sich zwischen das Fohlen und die gegenüberliegende Wand gequetscht, so weit weg von den Menschen, wie sie nur konnte. Ihr kleines Bärtchen zitterte wie Espenlaub.
Philippa bemühte sich, freundlich zu klingen. »Vielleicht gehen Sie besser in den Schlafsaal, Larkyn.«
Das Mädchen ließ Krisp nicht aus den Augen. »Tup braucht mich«, erklärte sie.
Eduard fluchte leise vor sich hin, als er den Namen hörte, was ihm einen gereizten Blick von Philippa einbrachte. »Hüten Sie Ihre Zunge, Eduard. Sie haben ihr keinen anderen Namen gegeben, bei dem sie es rufen könnte!«, zischte sie.
Er öffnete den Mund, doch ihm kam kein Wort über die Lippen. Jemand hatte den Stall betreten, und Krisp rappelte sich hastig auf, um sich anschließend tief vor ihm zu verbeugen. Überrascht von Krisps Verhalten und aus antrainierter Vorsicht, schwieg Philippa ebenfalls. Nur Margret besaß genug Geistesgegenwart, den fürstlichen Besucher zu begrüßen.
»Prinz Wilhelm.« Sie neigte den Kopf. »Man hat uns nicht über Ihren Besuch unterrichtet.«
Wilhelm deutete eine knappe Verbeugung an. »Man war immerhin so freundlich, mir in Gesellschaft Ihrer reizenden Schülerinnen ein Frühstück im Speisesaal zu servieren, Leiterin.« Sein Blick glitt über Philippa und Rosella und landete schließlich bei dem Zuchtmeister. »Krisp.«
Der Zuchtmeister trat dichter an den Stall heran, was dazu führte, dass das Fohlen die Ohren anlegte und zurückschreckte; die kleine Ziege wurde noch dichter gegen die Wand gedrängt. »Das ist das Fohlen aus dem Hochland, Hoheit«, sagte er, während er auf Tup deutete. »Wir kastrieren es heute.«
»Ein bisschen früh, finden Sie nicht, Krisp?«, erkundigte sich Wilhelm beiläufig, zupfte die weiten Ärmel seines Hemdes glatt und zog seine bestickte Weste zurecht. »Be vor wir überhaupt wissen, wer sein Erzeuger ist?«
Krisps fleischige Wangen bebten vor Empörung. »Sie sehen doch selbst, Hoheit, dass das Fohlen nicht reinrassig ist. Soweit wir wissen, dürfte es sich um einen Rückfall handeln.«
»Unsinn«, widersprach Wilhelm. »Es hat seit Jahrhunderten keinen Rückfall gegeben.«
Krisp ließ sich kein bisschen einschüchtern. »Hoheit, der Punkt ist, dass wir nicht wissen, wo es herkommt und warum es von einer unbekannten Stute zur Welt gebracht wurde. Meine Aufgabe ist es, die Blutlinien der geflügelten Pferde des Fürsten zu schützen, und so, wie ich das sehe, bin ich deshalb gezwungen, unverzüglich zu handeln.«
Philippa senkte den Kopf und verfolgte die Szene so unauffällig wie möglich. Offensichtlich hatte Eduard von dem Prinzen nichts zu befürchten. Er legte im Gespräch mit Wilhelm dieselbe Sturheit an den Tag, mit der er bereits Margret und sie selbst verärgert hatte. Philippa war überzeugt, dass nicht viele Menschen in Oc es wagten, sich dem ältesten Sohn des Fürsten so entschieden entgegenzustellen.
Wilhelm ließ die Gerte durch seine Finger gleiten. »Seine Durchlaucht, mein Vater, würde gern mehr über dieses Fohlen erfahren, bevor wir irgendwelche drastischen Maßnahmen ergreifen. Und ich bin ganz seiner Ansicht, wenn ich das noch hinzufügen darf.« Er wandte sich an den Arzt. »Wir werden Sie und Ihre Messer heute wohl nicht brauchen, mein Freund.«
Philippa spürte mehr, als sie es hörte, wie Larkyn erleichtert aufatmete. Nur war sich die Pferdemeisterin keineswegs sicher, ob Wilhelm zu einer solchen Anordnung überhaupt berechtigt war. Sie bezweifelte stark, dass der Zuchtmeister die Anweisung des Prinzen als Friedrichs ausdrücklichen Wunsch akzeptieren würde.
Und richtig, Eduard bedeutete dem Arzt mit einer Geste, die Messer noch nicht wegzupacken. »Warten Sie, Hempel«, befahl er und fuhr an Wilhelm gewandt fort: »Ich habe nichts von Seiner Durchlaucht gehört. Aber es dürfte außer Frage stehen, dass wir die zweifelhaften Eigenschaften dieses Fohlens auf keinen Fall an die Blutlinien weitergeben wollen.«
»Also wirklich, Krisp«, erwiderte Wilhelm. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu seinem typischen schiefen Grinsen. »Bis es herangewachsen ist, können wir doch gar nicht wissen, ob seine Eigenschaften überhaupt zweifelhaft sind, oder? Alles, was wir wissen, ist …«
Er deutete mit der Gerte auf Lark. Philippa folgte seiner Geste und sah, wie Lark leichenblass und mit weit aufgerissenen Augen ihre Arme um den Hals des Fohlens schlang.
»… dass dieses Bauernmädchen eine Stute gefunden hat, die am Schwarzen Fluss entlangspazierte und mit einem geflügelten Fohlen trächtig war. Bis wir diesem kleinen Rätsel auf den Grund gegangen sind, schlage ich vor, dass wir das Fohlen in Ruhe lassen. Genauer gesagt, ich bestehe darauf, Zuchtmeister Krisp«, fügte er abschließend hinzu, um dem Widerspruch Einhalt zu gebieten, der sich bereits auf Eduards erzürnter Miene andeutete.
»Aber der Fürst …«
»Ich spreche im Namen meines Vaters.«
Eduard sah ihn schief an. »Ich weiß nicht recht, Hoheit. Der Rat wird …«
»Lassen Sie den Rat der Edlen meine Sorge sein, Krisp.« Wilhelm schlug knallend mit der Gerte in seine Handfläche und nickte Hempel noch einmal zu. »Sie werden hier heute nicht gebraucht«, wiederholt er. »Es sei denn, Zuchtmeister Krisp hätte noch etwas anderes für Sie zu tun.«
Eduards finstere Miene sprach Bände. »Wir können es vielleicht ein paar Wochen aufschieben, Hoheit, aber das Fohlen muss kastriert werden. Es entspricht keinem der Standards.«
»Keinem Ihrer Standards«, korrigierte Prinz Wilhelm hochmütig. »Vergessen Sie nicht, Krisp, dass die letzte Entscheidung, was den Schutz der Blutlinien angeht, meinem Vater obliegt. Und …«, er schenkte allen Anwesenden ein kühles Lächeln, »mir natürlich.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und gab damit deutlich zu verstehen, dass das Gespräch für ihn beendet war. Er verneigte sich kurz vor Margret, klemmte die Gerte unter den Arm, verließ mit ausgreifenden Schritten den Stall und zischte Rosella an, dass sie ihm sein Pferd bringen solle.
»Und?«, fragte Philippa den Zuchtmeister zögernd. »Was glauben Sie, wird der Rat dazu sagen?«
»Das alles ist außerordentlich befremdlich«, brummte der Zuchtmeister.
»Da haben Sie allerdings Recht, Eduard«, grübelte Margret. »Doch ich halte es für klüger, nicht ausgerechnet jetzt darüber zu diskutieren.«
Krisp sah der Reihe nach Herbert, Hempel, Larkyn und das Fohlen an. »Richtig. Doch diese Angelegenheit ist noch lange nicht zu Ende«, sagte er grimmig.
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