Kapitel 20
Über Wilhelms Kopf funkelten hell die Sterne des
he raufziehenden Winters, als er über die abschüssige Wiese von
Fleckham hastete und dabei die Knöpfe des dicken Wollhemds
zuknöpfte. Ansonsten trug er nur Stiefel und eine enge Hose, die er
hastig dort aufgelesen hatte, wo er sie ein paar Stunden zuvor
achtlos hatte fallen lassen.
Mit einer schaukelnden Öllampe in der Hand
hastete der Stallbursche vor ihm her. Einer der Oc-Hunde bellte,
doch als Wilhelm einen Befehl zischte, winselte der Hund und
schlich zurück in seine Hütte.
Der Stall hinter dem Buchenhain roch immer noch
nach frischer Farbe. Drei Stuten schoben die Köpfe aus ihren
Ställen. Das Licht der Laterne spiegelte sich in ihren Augen.
Wilhelm ignorierte sie. Was er wollte und worauf er seit Monaten
gewartet hatte, befand sich in dem letzten Stall auf der linken
Seite.
»Verschwinde, Jinson«, befahl er harsch.
»Überlass das hier mir.«
»Hoheit«, antwortete der Stallbursche ängstlich.
»Ich glaube nicht, dass er das aushält.«
»Es ist doch ein Fohlen?«, erkundigte sich
Wilhelm eifrig. »Ein Hengst?«
»O ja, Hoheit, und ein Hübscher dazu. Aber ich
glaube nicht, dass er Ihnen erlauben wird zu …«
»Keine Angst, Jinson. Bei mir ist das etwas
anderes, verstehst du das? Es wird alles ganz anders sein.«
Der Stallbursche, ein Jüngling an der Schwelle
zum Mann, hob die Lampe, hielt sich jedoch von dem Stall fern.
Wilhelm ging auf die Box zu und verlangsamte ganz bewusst seine
Schritte, um den Augenblick zu genießen. Dieses Verlangen war wie
die Sehnsucht nach einer Gefährtin. Es war reine Begierde; sie
trocknete seinen Mund aus und erregte seine Lenden, wie keiner Frau
das jemals gelingen konnte. Dies hier war der Sieg über die Fesseln
der Tradition. Das Fohlen würde ihn sowohl von der sklavischen
Ergebenheit eines alten, der Vergangenheit verhafteten Mannes
befreien als auch von der Herrschaft der Pferdemeisterinnen von Oc
…
»Häng die Lampe an den Haken, Jinson. Geh zurück
ins Haus und hol mir Bettzeug, ein Nachthemd und eine Flasche
Branntwein. Ich werde heute hier nächtigen.«
Jinson sah seinen Herrn zweifelnd an, tat
jedoch, wie ihm geheißen wurde. Als er in der Dunkelheit
verschwunden war, trat Wilhelm in den dämmrigen Lichtschein und
spähte in die Stallbox.
Das Fohlen war so hell, dass es in der
Dunkelheit fast so aussah, als leuchteten Sterne auf seinem Fell.
Sein Vater war ein eleganter Apfelschimmel. Wilhelm kannte ihn wie
auch den anderen Hengst, und er wusste, dass er geflügelte Fohlen
von nicht geflügelten Stuten zeugte. Und dieses Fohlen, dieses
zitternde, geheimnisvolle Silberwesen, auf dessen Fell noch feucht
die Nachgeburt schimmerte, hatte richtige kleine Flügel auf beiden
Seiten.
Wilhelm glitt durch das Gatter, lehnte sich an
die Wand der Box und bestaunte das Wunder. Das Fohlen suchte die
Zitze der Mutter, während die Stute damit beschäftigt war,
ihr Kleines sauber zu lecken. Sie beide waren so versunken, dass
sie Wilhelm kaum bemerkten; die Stute spitzte lediglich kurz die
Ohren, entspannte sie aber gleich wieder.
Wilhelm wusste genau, was er zu tun hatte. Er
war neugierig und wütend um Philippa Winter herumgeschlichen,
damals, als sie noch Insehl geheißen hatte und in einer eisigen
Frühlingsnacht in den Ställen des Fürsten an ihr neugeborenes
Fohlen gebunden worden war. Fürst Friedrich war so stolz gewesen,
als wäre Philippa seine eigene Tochter. Wie immer hatte er Wilhelm
zugunsten von allem, was mit den geflügelten Pferden zu tun hatte,
vernachlässigt. Und dieser Mistkerl Mersin, Philippas Bruder, hatte
grinsend daneben gestanden und sich wegen seiner ausgezeichneten
Beziehungen zum Fürsten in Selbstzufriedenheit geaalt. Wilhelm
hatte sich geschworen, dass Mersin nie wieder einen Fuß in den
fürstlichen Palast setzen würde, sobald er selbst Fürst war.
Jetzt aber trugen seine Pläne Früchte. Bald war
er Eduard Krisps Einmischungen ledig, war frei von der Kritik
seines Vaters und hatte diese verfluchten Pferdemeisterinnen vom
Hals, die Macht über alles und jeden zu haben schienen, sogar über
den Fürsten. Schnell rief er sich ins Gedächtnis, was zu tun war.
Das letzte Fohlen war ihm zwar durch die Finger geglitten, aber
dieses war hier, in seinem eigenen Stall. Es war unter seiner
Kontrolle.
Er kniete sich behutsam ins Stroh und raunte dem
Fohlen leise etwas in das kleine Ohr.
Genau wie Lark erwartet hatte, überschüttete
Petra Süß sie mit Hohn und Spott wegen ihrer geschorenen Haare.
Aber der Tutorin blieb nur wenig Zeit, sie zu quälen. Denn die
Mädchen würden jetzt alle, bis auf Lark, ihren ersten Flugversuch
unternehmen.
Meisterin Stark blieb an Tups Stall stehen und
schlug Lark vor, auf die Flugkoppel zu kommen und das große
Ereignis mit anzusehen. »Es dauert noch etwas, bis Sie selbst dran
sind, Larkyn«, erklärte sie ungerührt. »Ihr Fohlen ist jetzt … wie
alt? Elf Monate? Er darf erst mit achtzehn Monaten mit einer
Reiterin in die Luft aufsteigen. Aber Sie sollten trotzdem den
anderen zusehen. Vielleicht verstehen Sie dann, warum Ihre Übungen
mit dem Pony so wichtig sind.«
»Ja, Meisterin Stark«, antwortete Lark demütig.
Rosella stand im Gang vor Tups Stall, und Lark vermied tunlichst,
sie anzusehen.
In ihrer Freizeit waren sie und Rosella mit
Schweinchen über die hintere Koppel galoppiert. Jede hatte eine
Runde gedreht, während die andere aufgepasst hatte, dass kein
Mädchen oder eine Lehrerin in die Nähe kamen. Herbert wusste
natürlich Bescheid und verdrehte Rosella gegenüber die Augen. Aber
Schweinchen gefiel es sehr. Allmählich konnte man seine Muskeln
unter dem Fett sehen, seine Beine wurden kräftiger und der Hals
schlanker.
»Niemand hier ist stolz auf ein fettes Pony«,
hatte Herbert genuschelt. »Also behalte ich Ihr Geheimnis für mich.
Sollte Meisterin Stark es jedoch herausfinden, werde ich Sie nicht
verteidigen.«
Natürlich würde Meisterin Stark Larks Reitstil
kritisieren. Denn sobald die Lehrerin die Koppel verließ, nahmen
die Mädchen Schweinchen den Sattel ab.
Ohne den knallharten Sattel, von dem Lark ein
ums andere Mal hinuntergeschleudert wurde, fühlte sich Lark wie ein
anderer Mensch. Sie drückte die Hacken fest an
Schweinchens Flanken, und ihr Gesäß schmiegte sich perfekt auf die
Krümmung seines Rückens. Sie hatte es sogar geschafft, Schweinchen
zu einer besonderen Figur zu überreden. Doch wenn Rosella wissen
wollte, wie sie das gemacht hatte, konnte Lark es nicht erklären.
Sie folgte ihrem Instinkt; es war für sie so natürlich, wie eine
Herde Ziegen zu hüten oder eine entflohene Henne in den Stall
zurückzulocken. So leicht es ihr auch fiel, das Pony ohne Sattel zu
reiten, so unmöglich schien es ihr mit diesem sperrigen Ding.
Besorgt, dass die Klasse vielleicht starten
könnte, bevor sie an der Koppel angelangt war, beeilte sie sich,
Tup sein neues Halfter anzulegen. Jenes, mit dem sie in der
Akademie angekommen waren, war ihm zu klein geworden, selbst wenn
man die Riemen auf das letzte Loch stellte. Tup maß jetzt zwölf
Handbreit bis zum Widerrist, und Beine und Brust waren sehr gut
ausgebildet. Er war immer noch klein, aber er sah schon mehr wie
das reife Pferd aus, das er eines Tages sein würde. Der Fall seiner
Mähne und seines Schweifs war lang und dicht, und seine Augen
blitzten intelligent und übermütig. Voller Zuneigung streichelte
Lark seine Nase, als sie das Halfter über seinen Kopf schob. »Tup«,
flüsterte sie. »Du bist das schönste Pferd der ganzen Akademie,
keine Frage!« Er warf den Kopf hoch, dass das Halfter klingelte,
und sie lachte.
Mit der kurzen Leine in der Hand führte Lark ihn
aus dem Stall zur Flugkoppel. Kaum schnupperte Tup frische Luft,
bockte er übermütig. Lark ermahnte ihn, sich zusammenzureißen. Treu
wie ein Oc-Hund trottete Molly hinter ihnen her. Die anderen Fohlen
waren der Gesellschaft der Hunde bereits entwachsen. Ein Oc-Hund
nach dem anderen zog sich in seine Hütte zurück und wartete darauf,
ein
neues Fohlen zu begleiten. Molly jedoch hatte kein Heim außerhalb
von Tups Stall. Die kleine Ziege folgte Tup und Lark
überallhin.
Auf dem Weg zur Flugkoppel begegneten die drei
Petra Süß, die gerade zu den Stallungen ging. »Ach, sieh an«, sagte
Petra zu ihrer Begleiterin, »die Ziegenhirtin und ihre
Herde.«
Das andere Mädchen kicherte. Lark blickte starr
auf den Boden und biss die Zähne zusammen, um die scharfe Bemerkung
zurückzuhalten, die ihr auf der Zunge lag. Beere trottete zu ihr,
und mit ihrer freien Hand strich sie über den schmalen Kopf des
Oc-Hundes. »Ja, Beere. Du bist so klug«, flüsterte sie.
Der Hund sah sie hechelnd an und verdrehte dann
fast den Hals, um Petra einen Blick zuzuwerfen.
Petra rief: »Hammloh! Passen Sie auf, dass Ihre
Heulsuse ruhig ist! Heute ist ein wichtiger Tag.«
Lark antwortete nicht, doch Beere fuhr herum,
den Schwanz aufgestellt und das Nackenhaar gesträubt. Lark
bemerkte, wie Petra mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen
den Oc-Hund anstarrte.
»Komm, Beere«, murmelte Lark. »Am besten
ignorierst du sie.« Sie gab ihm einen leichten Schubs, doch er
blieb noch einen Augenblick stehen, bevor er sich umdrehte und
hinter Lark und Tup hertrottete. Lark grinste ihn an und zog ihn
sanft an einem Ohr. »Du hast eine gute Menschenkenntnis, nicht?«
Beere ließ die Zunge aus dem Maul hängen und wedelte mit dem
Schwanz.
Lark sog mit geblähten Nasenflügeln genüsslich
den Geruch des Winters ein. Das Jahr öffnet die Hand, um die
Jahreszeiten zu verschenken, sagte man im Hochland. Die Mädchen der
Akademie würden bald für die Erdlin-Ferien
nach Hause fahren. Lark, Tup und Molly würden dann zehn kostbare
Tage auf dem Unteren Hof verbringen.
Auf der Koppel waren die Mädchen der ersten
Klasse bereits aufgesessen, als Lark und ihre kleine Gefolgschaft
dort ankamen. Eine Gruppe älterer Mädchen und ein paar Lehrerinnen
hatten sich in der Nähe des Tores versammelt. Die Stimme von
Meisterin Tänzer, der Lehrerin dieser ersten Klasse, hallte laut
und deutlich über die Koppel.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte sie. »Die
Pferde sollen ihre Stärke erproben, aber wir wollen sie nicht
ermüden. Ich werde mit Tänzer voranfliegen, und Sie werden mir
folgen … Hester als Erste, dann Beatrice, Lilian, Beryl, Isobel,
Grazia … Anabel. Ist alles in Ordnung, Anabel?«
Anabels schmaler Körper war über dem
Vorderzwiesel zusammengesackt, und sie sah aus, als wäre ihr
schlecht. Ihr graues Fohlen zappelte aufgeregt, und Anabel konnte
nur mit sichtlicher Anstrengung den Rücken straffen. Lark sah, dass
sie schwer schluckte, doch sie hob die Zügel, um Chance zu
beruhigen. »Mir geht es gut«, stieß sie hervor. Ihre Stimme
zitterte bei diesen Worten.
Alle Mädchen waren blass und hatten vor
Aufregung ganz große Augen. Im Schlafsaal hatte in der letzten
Nacht sehr viel Unruhe geherrscht. Die Mädchen hatten sich
herumgewälzt und im Traum vor sich hin gemurmelt. Anabel sah krank
aus vor Furcht. Lark bekam auf einmal Angst um sie.
Nur Hester wirkte selbstbewusst, fast lustvoll.
Sie drehte sich im Sattel von Goldener Morgen herum und grinste
ihre Klassenkameradinnen an. »Kommt schon, Mädels!«, rief sie.
»Goldie kann es kaum erwarten und ich auch nicht.« Ihr Fohlen
trampelte mit den Vorderläufen auf den Boden, und hier und da war
ein halbherziges Kichern zu hören.
Meisterin Tänzer trabte auf Himmelstänzer zügig
zum Ende der Flugkoppel, machte kehrt und galoppierte los. Hester
war direkt hinter ihr, die anderen Mädchen folgten der Reihe nach.
Anabel war die Letzte. Sie schien um ihr Gleichgewicht kämpfen zu
müssen, so heftig schlug sie gegen den Hinterzwiesel ihres
Flugsattels.
Vier Pfähle von dem Wäldchen am Ende der
Flugkoppel entfernt verfiel Himmelstänzer in den Handgalopp und
erhob sich dann mit einem kräftigen Flügelschlag in die Luft.
Goldener Morgen imitierte das Leittier in vollendeter Perfektion,
ihr Schweif wehte im Wind, ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Und
Hester … Hester, die auf dem Boden so knochig und klobig wirkte,
schien im Flug wie verzaubert. Ihre große Gestalt bewegte sich
geschmeidig im Rhythmus mit Goldies Flügelschlägen; dabei hielt sie
die Zügel locker in der Hand. Sie wirkte gertenschlank und leicht
wie eine Feder. Hester sah aus, als wäre sie ihr ganzes Leben lang
geflogen, und Lark strahlte vor Stolz.
Die anderen hoben etwas weniger anmutig vom
Boden ab. Die Pferde breiteten die Flügel aus, die Membranen
kräuselten sich, und die Flügelspitzen zitterten vor Anstrengung.
Einige schwankten, nachdem sie vom Boden abgehoben hatten, und
Pferd und Reiter suchten erneut das Gleichgewicht. Als Anabel dran
war, griff Lark nach der kleinen Kalla-Figur in ihrer Tasche und
umfasste sie so fest, dass ihre Finger schmerzten. Sie fand, dass
Anabel zu aufrecht saß und es Chance schwermachte abzuheben. Als
sie dann aufstiegen, rutschte Anabel im Sattel hin und her, und
Chance verlor den Rhythmus. Lark presste aus Solidarität die
Schenkel zusammen und hörte, wie einige um sie herum vernehmlich
nach Luft schnappten. Offenbar beobachteten auch andere Mädchen
Anabel. Bis Chance seinen Rhythmus
wiedergefunden hatte, Anabel wieder sicher im Sattel saß, die
Hacken nach unten durchdrückte und den Kopf hob, hielt Lark die
Luft an. Das Paar schwenkte links ab und reihte sich hinter den
anderen ein.
Die jungen Pferde drifteten nach hier und dort
und versuchten, eine gerade Linie zu bilden. Wenn ein Paar ins
Schwanken geriet, lief ein Raunen durch die Zuschauer. Lark holte
ihre Figur aus der Tasche und drückte sie an die Brust. Es schien
ihr, als stabilisiere sich die ganze Klasse auf einmal. Sie flogen
in einer langen, beinahe geraden Linie und beschrieben einen großen
Bogen über den Anlagen der Akademie.
Molly meckerte klagend. Lark drehte sich um und
stellte fest, dass Tup nicht mehr neben ihr stand. In ihrer Sorge
um Anabel hatte sie seine Leine fallen lassen.
Sie wirbelte herum, stolperte über Beere und
fing sich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Tup mit hoch
erhobenem Kopf und aufgestellten Ohren über den Zaun sprang. Er
raste über das Gras, an der Gruppe der Zuschauer vorbei und sauste
mit fliegender Halfterleine auf das Wäldchen am Ende der Flugkoppel
zu. Lark schrie auf, als sich seine Flügel öffneten. Nicht nur,
dass sie seine Leine hatte fallen lassen – sie hatte auch noch
vergessen, seine Flügel zu befestigen!
Seine Hufe trommelten immer schneller und
schneller über das Gras. Selbst als er sich dem Wäldchen näherte,
machte er keine Anstalten, das Tempo zu verlangsamen, sondern zog
kurz davor die Hinterläufe an und schlug mit den Flügeln. Er erhob
sich mühelos in die Luft, seine schmalen Flügel bewegten sich ohne
sichtliche Anstrengung. Lark beobachtete mit trockenem Mund und
klopfendem Herzen, wie er der Klasse nachflog. Den schlanken
Hals hatte er lang gemacht und trat mit den Hufen. Die Leine des
Halfters verfing sich, vom Flugwind gepeitscht, in seiner Mähne.
Die Lehrerinnen und älteren Mädchen neben Lark schrien erschrocken
auf, doch Lark hörte sie nicht. Sie war vollkommen in Tups
wunderbaren Flug versunken.
Er flog so wunderschön. So schön, dass es
beinahe wehtat und man es nicht beschreiben konnte. Sie hätte nicht
die Kontrolle über ihn verlieren dürfen, sicher, aber im Augenblick
konnte sie nur daran denken, wie vollkommen er in der Luft wirkte.
Der Himmel war seine natürliche Heimat, jene Umgebung, für die
Kalla ihn geschaffen hatte. Sie hielt die Figur umklammert und
beobachtete die schlanke schwarze Gestalt ihres Fohlens, das am
blauen Himmel hinter den anderen herflog.
Tup neigte die Flügel und schob die Nase nah an
den Schweif von Chance. Anabel drehte sich um und riss vor
Überraschung weit den Mund auf. Sie hielt sich unwillkürlich am
Sattel fest und verlor nicht noch einmal den Halt. Angeführt von
Meisterin Tänzer, flog die Klasse einen großen Kreis. Tup folgte
ihnen und schlug mit sichtlichem Vergnügen und voller Leichtigkeit
mit den Flügeln.
Als sie auf der anderen Seite des Kreises
zurückflog, entdeckte ihn Meisterin Tänzer. Auch ihr fiel fast die
Kinnlade herunter, und sie schrie etwas. Dann hob sie den Arm und
machte eine Geste mit der Reitgerte, als wolle sie etwas
befehlen.
Tup schwankte kurz, kam aus dem Rhythmus und
schlug verzweifelt mit den Vorderläufen in der Luft. Lark schrie
auf und presste Kalla an ihre Brust. Tup warf den Kopf hoch, so wie
sie es von ihm kannte, und bog den Hals. Er hörte auf, mit den
Flügeln zu schlagen, sank fünf Meter,
zehn Meter, fünfzehn Meter, bis er weit unter der Klasse schwebte.
Dann schlug er erneut mit den Flügeln, aber viel schneller als
zuvor. Er stieg hoch, immer höher, weit über die anderen hinweg,
bis er über ihren Köpfen kreiste. Lark meinte in seinen
aufblitzenden Zähnen ein Lachen zu erkennen und sah seinen wehenden
Schweif. Er drehte verspielt Kreise über der Klasse, schoss
hinunter auf die anderen Flieger zu, hob sich, berauscht von seiner
eigenen Energie und Kraft, im letzten Moment wieder hoch in die
Luft und genoss seine neu gewonnene Freiheit.
Es konnte nur eine kurze Zeit gedauert haben,
doch der Flug erschien Lark unendlich. Mit wutentbranntem Gesicht
führte Meisterin Tänzer die Pferde zur Landung. Alle Zuschauer
wandten sich der Landekoppel zu, um zu sehen, wie sie auf den Boden
zurückfanden.
Himmelstänzer schwebte hoch oben, während
Meisterin Tänzer Anweisungen gab. Hester und Goldener Morgen
landeten so geschmeidig auf dem Boden, als hätten sie es bereits
hundertmal gemacht. Sie glitten über die Baumwipfel hinweg und
galoppierten die Koppel zu den Ställen hinunter. Das nächste Pferd
stolperte, fing sich jedoch wieder. Beatrice klammerte sich zwar an
die Mähne, hatte aber ihre Haltung wiedergewonnen, als sie auf das
Ende der Koppel zugaloppierte und schwer atmend neben Goldener
Morgen stehen blieb. Auch die nächsten drei mussten schwierige
Situationen meistern, gerieten in ein leichtes Schwanken, bevor sie
den Boden erreichten. Liliane wurde durch einen Stoß gegen den
Hinterzwiesel ihres Sattels geworfen, und Grazias Reittier
versetzte ihr mit einem extrem unruhigen Trab einen Schrecken. Zum
Schluss kamen Anabel und Chance. Als Chance sich absenkte, beugte
sich Anabel zu weit nach vorn. Erst im letzten Augenblick setzte
sie sich wieder aufrecht hin. Einen Atemzug lang sah es so aus,
als verliere Chance das Gleichgewicht und würde auf die Knie
fallen, doch er landete mit den Vorderläufen fest auf dem Boden und
brachte gerade noch rechtzeitig die Hinterläufe in Position. Als er
die Koppel hinuntergaloppierte, schien Anabel vor Erleichterung
einer Ohnmacht nah zu sein.
Dann kam Tup. Ohne Reiter schwebte er mit
wehendem Schweif über das Wäldchen hinweg. Perfekt abgestimmt
landeten erst seine Vorderläufe und dann seine Hinterläufe auf dem
Boden. Er galoppierte, trabte und tänzelte ein bisschen, bis er
schnaubend und mit vor Stolz leuchtenden Augen vor Lark stehen
blieb.
»Oh, Tup«, flüsterte Lark. »Oh Tup! Wir schaffen
es, du und ich.« Sie öffnete das Tor und packte etwas verspätet die
Leine seines Halfters. Dann senkte sie den Blick auf ihre Stiefel
und hoffte inständig, Tup schnellstmöglich wegführen zu können,
bevor irgendjemand sie ausschimpfte. Natürlich funkte ihr Petra Süß
dazwischen.
Ihre Tutorin eilte auf sie zu. »Hammloh!«,
zischte sie. »Ihre Heulsuse hätte jemanden das Leben kosten
können!«
»Ich weiß. Es tut mir leid«, murmelte Lark
zerknirscht.
»Es tut Ihnen leid?« Petra erhob die Stimme.
»Was bringt das, hm? Sie sind eine Schande! Nichts machen Sie
richtig, Sie sprechen wie ein Bauer und sehen aus wie ein
dahergelaufener Gassenjunge. Wenn ich hier Leiterin wäre, würde ich
Sie auf der Stelle hinauswerfen!«
Lark versuchte mit aller Macht die Welle von
Wut, die ihre Wangen erhitzte, hinunterzuschlucken. Da kam Molly
herangetrottet und meckerte erleichtert.
Petra schrie auf. »Oh, bei Kallas Fersen, jetzt
jammert die verfluchte Ziege auch noch! Das ist ja wie in einem
verdammten
Kindergarten!« Einige Mädchen kicherten. Beere knurrte, und Lark
verlor die Beherrschung.
Sie blieb so plötzlich stehen, dass Tup ihr
beinahe in die Hacken getreten wäre. Sie hob das Kinn und sah Petra
direkt in die Augen. »Offensichtlich sorgen Sie hier für die meiste
Unruhe, Süß«, erwiderte sie. »Sie schnattern wie eine Ente, nicht
wahr? Haben schlechte Eigenschaften, diese Enten.«
Petras hartes Gesicht lief rot an. »Wie können
Sie es wagen!«, setzte sie an, doch ein anderes Mädchen packte
ihren Arm und flüsterte ihr etwas zu. Petra sah über Larks Schulter
und trat einen Schritt zurück. Lark bemerkte ihr Lächeln, und ihr
rutschte fast das Herz in die Hose. Als Petra sie wieder ansah,
grinste sie höhnisch und zuckte mit den Schultern. »Viel Glück,
Ziegenhirtin. Um nichts in der Welt möchte ich jetzt mit Ihnen
tauschen!«
Es war nicht Meisterin Stark, die auf sie zukam,
sondern Meisterin Winter. Sie marschierte auf Lark und Tup zu und
knetete ihre bedauernswerten Reithandschuhe zwischen den Fingern.
Beere trottete neben Lark, Molly schmiegte sich an Larks
Oberschenkel, und Tup wieherte, als Meisterin Winter näher
kam.
»Larkyn.« Die Stimme der Pferdemeisterin klang
eisig. »Schaffen Sie das Fohlen in den Stall, und kommen Sie dann
in die Halle. Ich erwarte Sie im Büro der Leiterin.«
Lark nickte stumm. Sie versuchte sich schuldig
zu fühlen. Schließlich war es ihr Fehler gewesen, und was immer
jetzt kam, hatte sie verdient. Aber, ach, Tup mit den anderen
Pferden fliegen zu sehen … war einfach wundervoll gewesen! Sie
brachte ihn in den Stall und legte ihre Wange gegen seinen Hals.
»Ich komme später wieder, um dich zu striegeln«, versprach sie.
»Was auch immer geschieht. Aber
du hast so wunderschön ausgesehen, Tup! So perfekt! Ich wünschte
nur, ich hätte mit dir fliegen können!«
Tup warf den Kopf hoch, und seine gefalteten
Flügel zitterten vor Erregung.
»Oh, ich weiß«, murmelte Lark. »Du solltest
stolz sein. Es war hinreißend!« Sie schlüpfte aus dem Tor und
sagte: »Ich komme wieder, sobald ich kann. Jetzt ist Molly bei dir,
und Beere ist im Gang. Du bist also nicht allein.«
Als sie die Stallungen verließ, hörte sie sein
leises Weinen, und sie wusste, dass er sie bei sich haben wollte,
um ihn zu beruhigen, nachdem er von dem heutigen Abenteuer ganz
aufgewühlt war. Es war ein großer Tag für Tup. Auch für sie, trotz
der Standpauke, die sie jetzt zweifellos erwartete.
Als sie über den Hof ging, versuchte sie sich
etwas zu ihrer Verteidigung zurechtzulegen. Schließlich hatte sie
Meisterin Winter und der Leiterin gesagt, dass Tup fliegen wollte.
Und sie hatte recht behalten! Dennoch, er hätte sich oder ein
anderes Pferd verletzen können, da gab es nichts zu beschönigen.
Und sie hatte ihre Lage sicher nicht gerade verbessert, als sie
ihre Tutorin beleidigt hatte. Und sich die Haare abgeschnitten
hatte und es einfach nicht schaffte zu lernen, wie man mit dem
Flugsattel umging …
Sie ging immer langsamer, dennoch erreichte sie
irgendwann unausweichlich die Halle. Sie musterte das Portal der
Doppeltür und machte sich Mut. Dann setzte sie den Fuß auf die
unterste Stufe und beschloss, die Schelte einfach über sich ergehen
zu lassen und ihre vorwitzige Zunge im Zaum zu halten. Sie hatte
Meisterin Winter schon genug Probleme bereitet. Zumindest dieses
eine Mal würde sie versuchen, es nicht noch schlimmer zu
machen.