Kapitel 20
Über Wilhelms Kopf funkelten hell die Sterne des he raufziehenden Winters, als er über die abschüssige Wiese von Fleckham hastete und dabei die Knöpfe des dicken Wollhemds zuknöpfte. Ansonsten trug er nur Stiefel und eine enge Hose, die er hastig dort aufgelesen hatte, wo er sie ein paar Stunden zuvor achtlos hatte fallen lassen.
Mit einer schaukelnden Öllampe in der Hand hastete der Stallbursche vor ihm her. Einer der Oc-Hunde bellte, doch als Wilhelm einen Befehl zischte, winselte der Hund und schlich zurück in seine Hütte.
Der Stall hinter dem Buchenhain roch immer noch nach frischer Farbe. Drei Stuten schoben die Köpfe aus ihren Ställen. Das Licht der Laterne spiegelte sich in ihren Augen. Wilhelm ignorierte sie. Was er wollte und worauf er seit Monaten gewartet hatte, befand sich in dem letzten Stall auf der linken Seite.
»Verschwinde, Jinson«, befahl er harsch. »Überlass das hier mir.«
»Hoheit«, antwortete der Stallbursche ängstlich. »Ich glaube nicht, dass er das aushält.«
»Es ist doch ein Fohlen?«, erkundigte sich Wilhelm eifrig. »Ein Hengst?«
»O ja, Hoheit, und ein Hübscher dazu. Aber ich glaube nicht, dass er Ihnen erlauben wird zu …«
»Keine Angst, Jinson. Bei mir ist das etwas anderes, verstehst du das? Es wird alles ganz anders sein.«
Der Stallbursche, ein Jüngling an der Schwelle zum Mann, hob die Lampe, hielt sich jedoch von dem Stall fern. Wilhelm ging auf die Box zu und verlangsamte ganz bewusst seine Schritte, um den Augenblick zu genießen. Dieses Verlangen war wie die Sehnsucht nach einer Gefährtin. Es war reine Begierde; sie trocknete seinen Mund aus und erregte seine Lenden, wie keiner Frau das jemals gelingen konnte. Dies hier war der Sieg über die Fesseln der Tradition. Das Fohlen würde ihn sowohl von der sklavischen Ergebenheit eines alten, der Vergangenheit verhafteten Mannes befreien als auch von der Herrschaft der Pferdemeisterinnen von Oc …
»Häng die Lampe an den Haken, Jinson. Geh zurück ins Haus und hol mir Bettzeug, ein Nachthemd und eine Flasche Branntwein. Ich werde heute hier nächtigen.«
Jinson sah seinen Herrn zweifelnd an, tat jedoch, wie ihm geheißen wurde. Als er in der Dunkelheit verschwunden war, trat Wilhelm in den dämmrigen Lichtschein und spähte in die Stallbox.
Das Fohlen war so hell, dass es in der Dunkelheit fast so aussah, als leuchteten Sterne auf seinem Fell. Sein Vater war ein eleganter Apfelschimmel. Wilhelm kannte ihn wie auch den anderen Hengst, und er wusste, dass er geflügelte Fohlen von nicht geflügelten Stuten zeugte. Und dieses Fohlen, dieses zitternde, geheimnisvolle Silberwesen, auf dessen Fell noch feucht die Nachgeburt schimmerte, hatte richtige kleine Flügel auf beiden Seiten.
Wilhelm glitt durch das Gatter, lehnte sich an die Wand der Box und bestaunte das Wunder. Das Fohlen suchte die Zitze der Mutter, während die Stute damit beschäftigt war, ihr Kleines sauber zu lecken. Sie beide waren so versunken, dass sie Wilhelm kaum bemerkten; die Stute spitzte lediglich kurz die Ohren, entspannte sie aber gleich wieder.
Wilhelm wusste genau, was er zu tun hatte. Er war neugierig und wütend um Philippa Winter herumgeschlichen, damals, als sie noch Insehl geheißen hatte und in einer eisigen Frühlingsnacht in den Ställen des Fürsten an ihr neugeborenes Fohlen gebunden worden war. Fürst Friedrich war so stolz gewesen, als wäre Philippa seine eigene Tochter. Wie immer hatte er Wilhelm zugunsten von allem, was mit den geflügelten Pferden zu tun hatte, vernachlässigt. Und dieser Mistkerl Mersin, Philippas Bruder, hatte grinsend daneben gestanden und sich wegen seiner ausgezeichneten Beziehungen zum Fürsten in Selbstzufriedenheit geaalt. Wilhelm hatte sich geschworen, dass Mersin nie wieder einen Fuß in den fürstlichen Palast setzen würde, sobald er selbst Fürst war.
Jetzt aber trugen seine Pläne Früchte. Bald war er Eduard Krisps Einmischungen ledig, war frei von der Kritik seines Vaters und hatte diese verfluchten Pferdemeisterinnen vom Hals, die Macht über alles und jeden zu haben schienen, sogar über den Fürsten. Schnell rief er sich ins Gedächtnis, was zu tun war. Das letzte Fohlen war ihm zwar durch die Finger geglitten, aber dieses war hier, in seinem eigenen Stall. Es war unter seiner Kontrolle.
Er kniete sich behutsam ins Stroh und raunte dem Fohlen leise etwas in das kleine Ohr.
 
Genau wie Lark erwartet hatte, überschüttete Petra Süß sie mit Hohn und Spott wegen ihrer geschorenen Haare. Aber der Tutorin blieb nur wenig Zeit, sie zu quälen. Denn die Mädchen würden jetzt alle, bis auf Lark, ihren ersten Flugversuch unternehmen.
Meisterin Stark blieb an Tups Stall stehen und schlug Lark vor, auf die Flugkoppel zu kommen und das große Ereignis mit anzusehen. »Es dauert noch etwas, bis Sie selbst dran sind, Larkyn«, erklärte sie ungerührt. »Ihr Fohlen ist jetzt … wie alt? Elf Monate? Er darf erst mit achtzehn Monaten mit einer Reiterin in die Luft aufsteigen. Aber Sie sollten trotzdem den anderen zusehen. Vielleicht verstehen Sie dann, warum Ihre Übungen mit dem Pony so wichtig sind.«
»Ja, Meisterin Stark«, antwortete Lark demütig. Rosella stand im Gang vor Tups Stall, und Lark vermied tunlichst, sie anzusehen.
In ihrer Freizeit waren sie und Rosella mit Schweinchen über die hintere Koppel galoppiert. Jede hatte eine Runde gedreht, während die andere aufgepasst hatte, dass kein Mädchen oder eine Lehrerin in die Nähe kamen. Herbert wusste natürlich Bescheid und verdrehte Rosella gegenüber die Augen. Aber Schweinchen gefiel es sehr. Allmählich konnte man seine Muskeln unter dem Fett sehen, seine Beine wurden kräftiger und der Hals schlanker.
»Niemand hier ist stolz auf ein fettes Pony«, hatte Herbert genuschelt. »Also behalte ich Ihr Geheimnis für mich. Sollte Meisterin Stark es jedoch herausfinden, werde ich Sie nicht verteidigen.«
Natürlich würde Meisterin Stark Larks Reitstil kritisieren. Denn sobald die Lehrerin die Koppel verließ, nahmen die Mädchen Schweinchen den Sattel ab.
Ohne den knallharten Sattel, von dem Lark ein ums andere Mal hinuntergeschleudert wurde, fühlte sich Lark wie ein anderer Mensch. Sie drückte die Hacken fest an Schweinchens Flanken, und ihr Gesäß schmiegte sich perfekt auf die Krümmung seines Rückens. Sie hatte es sogar geschafft, Schweinchen zu einer besonderen Figur zu überreden. Doch wenn Rosella wissen wollte, wie sie das gemacht hatte, konnte Lark es nicht erklären. Sie folgte ihrem Instinkt; es war für sie so natürlich, wie eine Herde Ziegen zu hüten oder eine entflohene Henne in den Stall zurückzulocken. So leicht es ihr auch fiel, das Pony ohne Sattel zu reiten, so unmöglich schien es ihr mit diesem sperrigen Ding.
Besorgt, dass die Klasse vielleicht starten könnte, bevor sie an der Koppel angelangt war, beeilte sie sich, Tup sein neues Halfter anzulegen. Jenes, mit dem sie in der Akademie angekommen waren, war ihm zu klein geworden, selbst wenn man die Riemen auf das letzte Loch stellte. Tup maß jetzt zwölf Handbreit bis zum Widerrist, und Beine und Brust waren sehr gut ausgebildet. Er war immer noch klein, aber er sah schon mehr wie das reife Pferd aus, das er eines Tages sein würde. Der Fall seiner Mähne und seines Schweifs war lang und dicht, und seine Augen blitzten intelligent und übermütig. Voller Zuneigung streichelte Lark seine Nase, als sie das Halfter über seinen Kopf schob. »Tup«, flüsterte sie. »Du bist das schönste Pferd der ganzen Akademie, keine Frage!« Er warf den Kopf hoch, dass das Halfter klingelte, und sie lachte.
Mit der kurzen Leine in der Hand führte Lark ihn aus dem Stall zur Flugkoppel. Kaum schnupperte Tup frische Luft, bockte er übermütig. Lark ermahnte ihn, sich zusammenzureißen. Treu wie ein Oc-Hund trottete Molly hinter ihnen her. Die anderen Fohlen waren der Gesellschaft der Hunde bereits entwachsen. Ein Oc-Hund nach dem anderen zog sich in seine Hütte zurück und wartete darauf, ein neues Fohlen zu begleiten. Molly jedoch hatte kein Heim außerhalb von Tups Stall. Die kleine Ziege folgte Tup und Lark überallhin.
Auf dem Weg zur Flugkoppel begegneten die drei Petra Süß, die gerade zu den Stallungen ging. »Ach, sieh an«, sagte Petra zu ihrer Begleiterin, »die Ziegenhirtin und ihre Herde.«
Das andere Mädchen kicherte. Lark blickte starr auf den Boden und biss die Zähne zusammen, um die scharfe Bemerkung zurückzuhalten, die ihr auf der Zunge lag. Beere trottete zu ihr, und mit ihrer freien Hand strich sie über den schmalen Kopf des Oc-Hundes. »Ja, Beere. Du bist so klug«, flüsterte sie.
Der Hund sah sie hechelnd an und verdrehte dann fast den Hals, um Petra einen Blick zuzuwerfen.
Petra rief: »Hammloh! Passen Sie auf, dass Ihre Heulsuse ruhig ist! Heute ist ein wichtiger Tag.«
Lark antwortete nicht, doch Beere fuhr herum, den Schwanz aufgestellt und das Nackenhaar gesträubt. Lark bemerkte, wie Petra mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen den Oc-Hund anstarrte.
»Komm, Beere«, murmelte Lark. »Am besten ignorierst du sie.« Sie gab ihm einen leichten Schubs, doch er blieb noch einen Augenblick stehen, bevor er sich umdrehte und hinter Lark und Tup hertrottete. Lark grinste ihn an und zog ihn sanft an einem Ohr. »Du hast eine gute Menschenkenntnis, nicht?« Beere ließ die Zunge aus dem Maul hängen und wedelte mit dem Schwanz.
Lark sog mit geblähten Nasenflügeln genüsslich den Geruch des Winters ein. Das Jahr öffnet die Hand, um die Jahreszeiten zu verschenken, sagte man im Hochland. Die Mädchen der Akademie würden bald für die Erdlin-Ferien nach Hause fahren. Lark, Tup und Molly würden dann zehn kostbare Tage auf dem Unteren Hof verbringen.
Auf der Koppel waren die Mädchen der ersten Klasse bereits aufgesessen, als Lark und ihre kleine Gefolgschaft dort ankamen. Eine Gruppe älterer Mädchen und ein paar Lehrerinnen hatten sich in der Nähe des Tores versammelt. Die Stimme von Meisterin Tänzer, der Lehrerin dieser ersten Klasse, hallte laut und deutlich über die Koppel.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte sie. »Die Pferde sollen ihre Stärke erproben, aber wir wollen sie nicht ermüden. Ich werde mit Tänzer voranfliegen, und Sie werden mir folgen … Hester als Erste, dann Beatrice, Lilian, Beryl, Isobel, Grazia … Anabel. Ist alles in Ordnung, Anabel?«
Anabels schmaler Körper war über dem Vorderzwiesel zusammengesackt, und sie sah aus, als wäre ihr schlecht. Ihr graues Fohlen zappelte aufgeregt, und Anabel konnte nur mit sichtlicher Anstrengung den Rücken straffen. Lark sah, dass sie schwer schluckte, doch sie hob die Zügel, um Chance zu beruhigen. »Mir geht es gut«, stieß sie hervor. Ihre Stimme zitterte bei diesen Worten.
Alle Mädchen waren blass und hatten vor Aufregung ganz große Augen. Im Schlafsaal hatte in der letzten Nacht sehr viel Unruhe geherrscht. Die Mädchen hatten sich herumgewälzt und im Traum vor sich hin gemurmelt. Anabel sah krank aus vor Furcht. Lark bekam auf einmal Angst um sie.
Nur Hester wirkte selbstbewusst, fast lustvoll. Sie drehte sich im Sattel von Goldener Morgen herum und grinste ihre Klassenkameradinnen an. »Kommt schon, Mädels!«, rief sie. »Goldie kann es kaum erwarten und ich auch nicht.« Ihr Fohlen trampelte mit den Vorderläufen auf den Boden, und hier und da war ein halbherziges Kichern zu hören.
Meisterin Tänzer trabte auf Himmelstänzer zügig zum Ende der Flugkoppel, machte kehrt und galoppierte los. Hester war direkt hinter ihr, die anderen Mädchen folgten der Reihe nach. Anabel war die Letzte. Sie schien um ihr Gleichgewicht kämpfen zu müssen, so heftig schlug sie gegen den Hinterzwiesel ihres Flugsattels.
Vier Pfähle von dem Wäldchen am Ende der Flugkoppel entfernt verfiel Himmelstänzer in den Handgalopp und erhob sich dann mit einem kräftigen Flügelschlag in die Luft. Goldener Morgen imitierte das Leittier in vollendeter Perfektion, ihr Schweif wehte im Wind, ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Und Hester … Hester, die auf dem Boden so knochig und klobig wirkte, schien im Flug wie verzaubert. Ihre große Gestalt bewegte sich geschmeidig im Rhythmus mit Goldies Flügelschlägen; dabei hielt sie die Zügel locker in der Hand. Sie wirkte gertenschlank und leicht wie eine Feder. Hester sah aus, als wäre sie ihr ganzes Leben lang geflogen, und Lark strahlte vor Stolz.
Die anderen hoben etwas weniger anmutig vom Boden ab. Die Pferde breiteten die Flügel aus, die Membranen kräuselten sich, und die Flügelspitzen zitterten vor Anstrengung. Einige schwankten, nachdem sie vom Boden abgehoben hatten, und Pferd und Reiter suchten erneut das Gleichgewicht. Als Anabel dran war, griff Lark nach der kleinen Kalla-Figur in ihrer Tasche und umfasste sie so fest, dass ihre Finger schmerzten. Sie fand, dass Anabel zu aufrecht saß und es Chance schwermachte abzuheben. Als sie dann aufstiegen, rutschte Anabel im Sattel hin und her, und Chance verlor den Rhythmus. Lark presste aus Solidarität die Schenkel zusammen und hörte, wie einige um sie herum vernehmlich nach Luft schnappten. Offenbar beobachteten auch andere Mädchen Anabel. Bis Chance seinen Rhythmus wiedergefunden hatte, Anabel wieder sicher im Sattel saß, die Hacken nach unten durchdrückte und den Kopf hob, hielt Lark die Luft an. Das Paar schwenkte links ab und reihte sich hinter den anderen ein.
Die jungen Pferde drifteten nach hier und dort und versuchten, eine gerade Linie zu bilden. Wenn ein Paar ins Schwanken geriet, lief ein Raunen durch die Zuschauer. Lark holte ihre Figur aus der Tasche und drückte sie an die Brust. Es schien ihr, als stabilisiere sich die ganze Klasse auf einmal. Sie flogen in einer langen, beinahe geraden Linie und beschrieben einen großen Bogen über den Anlagen der Akademie.
Molly meckerte klagend. Lark drehte sich um und stellte fest, dass Tup nicht mehr neben ihr stand. In ihrer Sorge um Anabel hatte sie seine Leine fallen lassen.
Sie wirbelte herum, stolperte über Beere und fing sich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Tup mit hoch erhobenem Kopf und aufgestellten Ohren über den Zaun sprang. Er raste über das Gras, an der Gruppe der Zuschauer vorbei und sauste mit fliegender Halfterleine auf das Wäldchen am Ende der Flugkoppel zu. Lark schrie auf, als sich seine Flügel öffneten. Nicht nur, dass sie seine Leine hatte fallen lassen – sie hatte auch noch vergessen, seine Flügel zu befestigen!
Seine Hufe trommelten immer schneller und schneller über das Gras. Selbst als er sich dem Wäldchen näherte, machte er keine Anstalten, das Tempo zu verlangsamen, sondern zog kurz davor die Hinterläufe an und schlug mit den Flügeln. Er erhob sich mühelos in die Luft, seine schmalen Flügel bewegten sich ohne sichtliche Anstrengung. Lark beobachtete mit trockenem Mund und klopfendem Herzen, wie er der Klasse nachflog. Den schlanken Hals hatte er lang gemacht und trat mit den Hufen. Die Leine des Halfters verfing sich, vom Flugwind gepeitscht, in seiner Mähne. Die Lehrerinnen und älteren Mädchen neben Lark schrien erschrocken auf, doch Lark hörte sie nicht. Sie war vollkommen in Tups wunderbaren Flug versunken.
Er flog so wunderschön. So schön, dass es beinahe wehtat und man es nicht beschreiben konnte. Sie hätte nicht die Kontrolle über ihn verlieren dürfen, sicher, aber im Augenblick konnte sie nur daran denken, wie vollkommen er in der Luft wirkte. Der Himmel war seine natürliche Heimat, jene Umgebung, für die Kalla ihn geschaffen hatte. Sie hielt die Figur umklammert und beobachtete die schlanke schwarze Gestalt ihres Fohlens, das am blauen Himmel hinter den anderen herflog.
Tup neigte die Flügel und schob die Nase nah an den Schweif von Chance. Anabel drehte sich um und riss vor Überraschung weit den Mund auf. Sie hielt sich unwillkürlich am Sattel fest und verlor nicht noch einmal den Halt. Angeführt von Meisterin Tänzer, flog die Klasse einen großen Kreis. Tup folgte ihnen und schlug mit sichtlichem Vergnügen und voller Leichtigkeit mit den Flügeln.
Als sie auf der anderen Seite des Kreises zurückflog, entdeckte ihn Meisterin Tänzer. Auch ihr fiel fast die Kinnlade herunter, und sie schrie etwas. Dann hob sie den Arm und machte eine Geste mit der Reitgerte, als wolle sie etwas befehlen.
Tup schwankte kurz, kam aus dem Rhythmus und schlug verzweifelt mit den Vorderläufen in der Luft. Lark schrie auf und presste Kalla an ihre Brust. Tup warf den Kopf hoch, so wie sie es von ihm kannte, und bog den Hals. Er hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen, sank fünf Meter, zehn Meter, fünfzehn Meter, bis er weit unter der Klasse schwebte. Dann schlug er erneut mit den Flügeln, aber viel schneller als zuvor. Er stieg hoch, immer höher, weit über die anderen hinweg, bis er über ihren Köpfen kreiste. Lark meinte in seinen aufblitzenden Zähnen ein Lachen zu erkennen und sah seinen wehenden Schweif. Er drehte verspielt Kreise über der Klasse, schoss hinunter auf die anderen Flieger zu, hob sich, berauscht von seiner eigenen Energie und Kraft, im letzten Moment wieder hoch in die Luft und genoss seine neu gewonnene Freiheit.
Es konnte nur eine kurze Zeit gedauert haben, doch der Flug erschien Lark unendlich. Mit wutentbranntem Gesicht führte Meisterin Tänzer die Pferde zur Landung. Alle Zuschauer wandten sich der Landekoppel zu, um zu sehen, wie sie auf den Boden zurückfanden.
Himmelstänzer schwebte hoch oben, während Meisterin Tänzer Anweisungen gab. Hester und Goldener Morgen landeten so geschmeidig auf dem Boden, als hätten sie es bereits hundertmal gemacht. Sie glitten über die Baumwipfel hinweg und galoppierten die Koppel zu den Ställen hinunter. Das nächste Pferd stolperte, fing sich jedoch wieder. Beatrice klammerte sich zwar an die Mähne, hatte aber ihre Haltung wiedergewonnen, als sie auf das Ende der Koppel zugaloppierte und schwer atmend neben Goldener Morgen stehen blieb. Auch die nächsten drei mussten schwierige Situationen meistern, gerieten in ein leichtes Schwanken, bevor sie den Boden erreichten. Liliane wurde durch einen Stoß gegen den Hinterzwiesel ihres Sattels geworfen, und Grazias Reittier versetzte ihr mit einem extrem unruhigen Trab einen Schrecken. Zum Schluss kamen Anabel und Chance. Als Chance sich absenkte, beugte sich Anabel zu weit nach vorn. Erst im letzten Augenblick setzte sie sich wieder aufrecht hin. Einen Atemzug lang sah es so aus, als verliere Chance das Gleichgewicht und würde auf die Knie fallen, doch er landete mit den Vorderläufen fest auf dem Boden und brachte gerade noch rechtzeitig die Hinterläufe in Position. Als er die Koppel hinuntergaloppierte, schien Anabel vor Erleichterung einer Ohnmacht nah zu sein.
Dann kam Tup. Ohne Reiter schwebte er mit wehendem Schweif über das Wäldchen hinweg. Perfekt abgestimmt landeten erst seine Vorderläufe und dann seine Hinterläufe auf dem Boden. Er galoppierte, trabte und tänzelte ein bisschen, bis er schnaubend und mit vor Stolz leuchtenden Augen vor Lark stehen blieb.
»Oh, Tup«, flüsterte Lark. »Oh Tup! Wir schaffen es, du und ich.« Sie öffnete das Tor und packte etwas verspätet die Leine seines Halfters. Dann senkte sie den Blick auf ihre Stiefel und hoffte inständig, Tup schnellstmöglich wegführen zu können, bevor irgendjemand sie ausschimpfte. Natürlich funkte ihr Petra Süß dazwischen.
Ihre Tutorin eilte auf sie zu. »Hammloh!«, zischte sie. »Ihre Heulsuse hätte jemanden das Leben kosten können!«
»Ich weiß. Es tut mir leid«, murmelte Lark zerknirscht.
»Es tut Ihnen leid?« Petra erhob die Stimme. »Was bringt das, hm? Sie sind eine Schande! Nichts machen Sie richtig, Sie sprechen wie ein Bauer und sehen aus wie ein dahergelaufener Gassenjunge. Wenn ich hier Leiterin wäre, würde ich Sie auf der Stelle hinauswerfen!«
Lark versuchte mit aller Macht die Welle von Wut, die ihre Wangen erhitzte, hinunterzuschlucken. Da kam Molly herangetrottet und meckerte erleichtert.
Petra schrie auf. »Oh, bei Kallas Fersen, jetzt jammert die verfluchte Ziege auch noch! Das ist ja wie in einem verdammten Kindergarten!« Einige Mädchen kicherten. Beere knurrte, und Lark verlor die Beherrschung.
Sie blieb so plötzlich stehen, dass Tup ihr beinahe in die Hacken getreten wäre. Sie hob das Kinn und sah Petra direkt in die Augen. »Offensichtlich sorgen Sie hier für die meiste Unruhe, Süß«, erwiderte sie. »Sie schnattern wie eine Ente, nicht wahr? Haben schlechte Eigenschaften, diese Enten.«
Petras hartes Gesicht lief rot an. »Wie können Sie es wagen!«, setzte sie an, doch ein anderes Mädchen packte ihren Arm und flüsterte ihr etwas zu. Petra sah über Larks Schulter und trat einen Schritt zurück. Lark bemerkte ihr Lächeln, und ihr rutschte fast das Herz in die Hose. Als Petra sie wieder ansah, grinste sie höhnisch und zuckte mit den Schultern. »Viel Glück, Ziegenhirtin. Um nichts in der Welt möchte ich jetzt mit Ihnen tauschen!«
Es war nicht Meisterin Stark, die auf sie zukam, sondern Meisterin Winter. Sie marschierte auf Lark und Tup zu und knetete ihre bedauernswerten Reithandschuhe zwischen den Fingern. Beere trottete neben Lark, Molly schmiegte sich an Larks Oberschenkel, und Tup wieherte, als Meisterin Winter näher kam.
»Larkyn.« Die Stimme der Pferdemeisterin klang eisig. »Schaffen Sie das Fohlen in den Stall, und kommen Sie dann in die Halle. Ich erwarte Sie im Büro der Leiterin.«
Lark nickte stumm. Sie versuchte sich schuldig zu fühlen. Schließlich war es ihr Fehler gewesen, und was immer jetzt kam, hatte sie verdient. Aber, ach, Tup mit den anderen Pferden fliegen zu sehen … war einfach wundervoll gewesen! Sie brachte ihn in den Stall und legte ihre Wange gegen seinen Hals. »Ich komme später wieder, um dich zu striegeln«, versprach sie. »Was auch immer geschieht. Aber du hast so wunderschön ausgesehen, Tup! So perfekt! Ich wünschte nur, ich hätte mit dir fliegen können!«
Tup warf den Kopf hoch, und seine gefalteten Flügel zitterten vor Erregung.
»Oh, ich weiß«, murmelte Lark. »Du solltest stolz sein. Es war hinreißend!« Sie schlüpfte aus dem Tor und sagte: »Ich komme wieder, sobald ich kann. Jetzt ist Molly bei dir, und Beere ist im Gang. Du bist also nicht allein.«
Als sie die Stallungen verließ, hörte sie sein leises Weinen, und sie wusste, dass er sie bei sich haben wollte, um ihn zu beruhigen, nachdem er von dem heutigen Abenteuer ganz aufgewühlt war. Es war ein großer Tag für Tup. Auch für sie, trotz der Standpauke, die sie jetzt zweifellos erwartete.
Als sie über den Hof ging, versuchte sie sich etwas zu ihrer Verteidigung zurechtzulegen. Schließlich hatte sie Meisterin Winter und der Leiterin gesagt, dass Tup fliegen wollte. Und sie hatte recht behalten! Dennoch, er hätte sich oder ein anderes Pferd verletzen können, da gab es nichts zu beschönigen. Und sie hatte ihre Lage sicher nicht gerade verbessert, als sie ihre Tutorin beleidigt hatte. Und sich die Haare abgeschnitten hatte und es einfach nicht schaffte zu lernen, wie man mit dem Flugsattel umging …
Sie ging immer langsamer, dennoch erreichte sie irgendwann unausweichlich die Halle. Sie musterte das Portal der Doppeltür und machte sich Mut. Dann setzte sie den Fuß auf die unterste Stufe und beschloss, die Schelte einfach über sich ergehen zu lassen und ihre vorwitzige Zunge im Zaum zu halten. Sie hatte Meisterin Winter schon genug Probleme bereitet. Zumindest dieses eine Mal würde sie versuchen, es nicht noch schlimmer zu machen.
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