Kapitel 18
Als die Mädchen nach dem Frühstück in den Sonnen
schein hinausliefen, hielt Hester Lark am Arm zurück. »Mamá ist
hier«, sagte sie. »Im Hof steht unsere Kutsche.«
Lark lachte. »Du bekommst wohl immer, was du
willst, oder?«
Hester grinste. »Wozu soll es gut sein, die
Tochter von Baron und Baronin Beeht zu sein, wenn man nicht hin und
wieder ein paar Strippen ziehen kann?«
Sie standen im Eingang, während die anderen
Schülerinnen zu den Ställen gingen oder durch die Halle in den
Klassenzimmern verschwanden. »Aber Hester … was ist mit Meisterin
Stark? Sie sollte mir heute Morgen Umgangsformen beibringen.«
Hester winkte abfällig. »Ach, mach dir deshalb
keine Sorgen. Mamá spricht mit der Leiterin. Es wird sich schon
alles klären.«
»Und Tup?«
»Du hast doch die kleine Ziege bei ihm gelassen,
oder? Molly?«
»Ja, natürlich.«
»Und mein Goldener Morgen hat ihren Oc-Hund. Sie
werden uns bis heute Abend nicht vermissen!«
Lark betrachtete die vornehme Kutsche, die vor
der breiten Außentreppe stand. Zwei Apfelschimmel mit riesigen
Hufen und einem Federbusch auf dem Kopf warteten geduldig
in ihrem Geschirr. Auf dem Bock saß ein Kutscher in dunkelroter
Livree und hielt locker die Zügel in Händen. Ein weiterer
livrierter Lakai stand gelangweilt neben dem offenen Schlag der
Kutsche, deren Polster von dicken Kissen übersät waren.
In dem Moment ging Petra Süß mit einer Kameradin
an ihnen vorbei. Petra warf Lark und Hester einen Blick zu. Der
Ausdruck in ihren Augen überraschte Lark. Natürlich wirkte Petra
eifersüchtig, aber irgendwie schien sie auch … verwirrt zu sein,
als könne sie die Situation nicht ganz einordnen. Im selben
Augenblick trat die Leiterin mit einer großen, elegant gekleideten
Dame an ihrer Seite aus der Halle. Die Frau lächelte Hester an und
küsste sie auf die Wange. Petra drehte sich auf dem Absatz um und
marschierte steifbeinig zu den Stallungen.
Lark wurde Baronin Beeht vorgestellt. Die
markanten Gesichtszüge der Frau und ihr fröhliches Lächeln
erinnerten sie sehr an Hester. Die Mädchen trugen natürlich ihre
Tracht, die Baronin jedoch hatte sich stadtfein gemacht, und über
ihrer gegürteten Weste hing eine Perlenkette bis zur Hüfte hinab.
Sie betrachtete Lark einen Augenblick, dann nickte sie.
»Ja«, sagte sie leise zu ihrer Tochter, »ich
verstehe das Problem vollkommen.« Larks Hand zuckte zu ihren
unordentlichen Haaren, und sie errötete vor Scham.
Anabel schüttelte der Baronin artig die Hand,
kletterte dann in die Kutsche und machte es sich zwischen den
Kissen und neben Lark bequem. Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an,
und als die Pferde in einen schweren, gleichmäßigen Trab fielen,
begannen Hester und ihre Mutter eine Unterhaltung. Durch die
Gardine vor dem Fenster sah Lark den Livrierten auf dem Trittbrett
stehen. Sie blickte durch
das andere Fenster hinaus. Die Hecken davor flogen erstaunlich
schnell vorbei. Am liebsten hätte sie vorn auf dem Kutschbock
gesessen und zugesehen, wie die Pferde kraftvoll trabten, mit den
Köpfen nickten und wie der Kutscher die Zügel hielt, aber
vermutlich war das wenig damenhaft. Dabei hatte sie so viele Fragen
über die Fütterung, die Pflege und die Eigenschaften von
Kutschpferden. Sie drehte sich um und wollte der Baronin ihre
Fragen stellen, schwieg jedoch, als sie hörte, wie sich Hester und
ihre Mamá ernst über eine Angelegenheit unterhielten, die mit dem
Rat der Edlen zu tun hatte.
»Ist das nicht eine wunderschöne Kutsche?«,
flüsterte Anabel ihr ins Ohr. »Die von meinen Eltern ist nicht halb
so elegant.«
Lark lachte. »Wir haben nur einen Ochsenkarren!«
Anabel bekam runde Augen. »Ehrlich?«, hauchte sie. »Du fährst mit
einem Ochsenkarren? Das ist bestimmt sehr lustig!«
»Wenn du es gut findest, dass deine Knochen so
richtig durchgeschüttelt werden«, antwortete Lark. Sie deutete auf
die Landschaft vor dem Fenster, die nur so vorüberflog. »Und
natürlich fährt man so langsam, dass man alles sehen kann!«
Lark konnte gar nicht glauben, wie schnell die
zwei kräftigen Pferde die Entfernung zwischen der Akademie und
Oscham bewältigten. Unterwegs zeigte Hester ihnen die Abzweigung,
die zu ihrem Elternhaus führte. Ihr Familiensitz lag nicht einmal
eine Stunde von der Akademie entfernt. Das Schild an der Ecke
zeigte, dass hier der Weg zwischen den sauber geschnittenen Hecken
hindurch zum Anwesen der Beeht führte. Lark staunte über dieses
Zeichen von Hesters gesellschaftlicher Stellung. Ein eigenes
Straßenschild für den Sitz der Familie! Sie konnte es kaum
erwarten, Nikh oder Broh davon zu erzählen, wenn sie das nächste
Mal die Akademie besuchten.
Kaum eine Stunde später half der Lakai der
Baronin und den Mädchen aus der Kutsche. Lark starrte fasziniert
auf die Kuppeln und Türme der Weißen Stadt. Die zahlreichen
Schaufenster, welche die Straße säumten, wurden von weißen Markisen
vor der Sonne geschützt, und die Pflastersteine waren in einem
schwarzweißen Muster angeordnet.
»Schwarze Steine!«, murmelte sie und strich mit
der Schuhspitze über die dunklen Quadrate.
»So etwas interessiert Sie?«, fragte Baronin
Beeht erstaunt.
»Mein Bruder Edmar …«, begann Lark, verstummte
dann jedoch beschämt. Ihre Brüder waren so anders als ihre
gegenwärtige Begleitung.
»Was?«, erkundigte sich Hester. »Was ist mit
Edmar?«
»Hester, meine Süße«, mischte sich die Baronin
umsichtig ein. »Du solltest deine Freundin nicht bedrängen.«
»Keine Sorge, Mamá«, erwiderte Hester fröhlich.
»Lark versteht mich, oder, Hammloh?«
Lark lächelte. »Ja.« Sie deutete auf die
Pflastersteine. »Diese schwarzen Steine stammen aus dem Hochland«,
erklärte sie der Baronin. »Und mein Bruder Edmar arbeitet in einem
Steinbruch.«
»Wie beeindruckend!« Die Baronin klang herzlich.
»Auf der Rückfahrt müssen Sie mir alles über Ihre Familie erzählen,
Larkyn.« Sie rückte die kleine, mit Perlen besetzte Kappe auf ihren
sorgfältig frisierten braunen Haaren zurecht. »Jetzt jedoch …« Mit
einer graziösen Bewegung ihrer behandschuhten Rechten deutete sie
auf eine Reihe
Geschäfte vor ihnen, »wollen wir herausfinden, was die Weiße Stadt
uns heute zu bieten hat.«
Larks Erfahrungen mit Einkaufsbummeln
beschränkten sich auf die seltenen Ausflüge nach Park Dikkers, wo
sie im Herbst alles Notwendige für den Winter besorgt hatten. Wenn
sie aus ihren Kleidern herausgewachsen oder sie schlichtweg
abgetragen waren, machte Nikh für gewöhnlich mit dem Schneider von
Willakhiep ein Tauschgeschäft und besorgte so Ersatz. Allerdings
sah jedes neue Kleidungsstück genauso aus wie das vorherige.
Lark fand es zunächst wunderbar, die eleganten
Geschäfte von Oscham zu besuchen, doch bald fühlte sie sich
vollkommen überwältigt. Die Baronin nahm Haarspangen, Bürsten und
perlenbesetzte Klemmen in die Hand, bombardierte das Personal mit
Fragen und ließ dann alles wieder zurückgehen. Gelegentlich
probierte sie eine Spange an Larks Lockenmähne aus, legte dann
verächtlich den unpassenden Tand auf den Tresen zurück und führte
ihre kleine Gruppe in das nächste Geschäft.
Hester blinzelte Lark hinter dem Rücken ihrer
Mutter zu, als sie ein Geschäft verließen und die Straße in
Richtung des nächsten überquerten. »Ich habe es dir ja gesagt«,
flüsterte sie, »Mamá liebt so etwas. Es ist für sie eine ähnlich
große Herausforderung, wie Papá genau zu erklären, was er im Rat
der Edlen zu sagen hat. Oder wie für einen Krieger, gegen einen der
Alten zu kämpfen!«
»Ich fürchte nur, vor meinen Haaren muss sogar
deine Mutter kapitulieren!«
Wie sich herausstellte, war Anabel ähnlich
unermüdlich wie Baronin Beeht, entzückte sich lautstark über Schals
und Nadeln und schlug alle möglichen Methoden vor, um Larks
widerspenstige Locken zu bändigen.
Nach zwei Stunden hatte Lark das Gefühl, dass
sie kein Stück weiter gekommen waren. Alles, was sie ausprobiert
hatten, war wirkungslos geblieben. Hätten Anabel und die Baronin
nicht etliche Kostbarkeiten für sich selbst erstanden, hätte Lark
wegen des Ausflugs ein schlechtes Gewissen gehabt. Hester verdrehte
die Augen, als Anabel und Mamá das nächste Geschäft anvisierten.
»Auf ein Neues«, grummelte sie.
Lark wollte Hester über die Straße zum nächsten
Geschäft folgen und hatte einen Fuß auf die Straße gesetzt, als ihr
Blick an einem Kräuterladen hängen blieb. Im Schaufenster hing ein
kleiner Fetisch, der sie an den an ihrem Wäscheschlegel auf dem
Unteren Hof erinnerte. Hatte der auch so einen leuchtend gelben
Rand und so strahlende Kulleraugen gehabt, als er neu gewesen war?
Der ihre war abgenutzt und verblasst, doch der Anblick dieses
Fetischs beschwor ein lebhaftes Bild ihrer alten Küche mit den
verbeulten Töpfen, den verschlissenen Vorhängen und den intensiven
Gerüchen herauf.
»Kommst du, Hammloh?«, rief Hester. »Ich komme
gleich nach.« Lark winkte ihrer Freundin zu und betrat aus einer
Eingebung heraus den Laden.
Der winzige Raum war bis unter die Decke mit
Ware vollgestopft. Es gab Dutzende von Fetischen, deren Namen sie
nicht einmal kannte. Ein Regal war ausschließlich den Götterfiguren
vorbehalten; sogar ein tönerner Zito mit seinen großen, bemalten
Ohren und dem ebenfalls bemalten Phallus befand sich darunter. Lark
sah mindestens ein Dutzend Bilder der Zwillingsgötter Erd und
Estia, die sich, wie es die Tradition vorschrieb, eng umschlungen
hielten. In einer Glasvitrine fanden sich Fläschchen, Gläser und
getrocknete Kräutersträußchen. Der Laden vibrierte förmlich
vor magischer Energie. Lark nahm einen Fetisch mit einem Fuchskopf
in die Hand und spürte ein angenehmes Kribbeln in ihren
Fingern.
Als die Besitzerin durch einen Vorhang aus dem
hinteren Teil des Ladens kam, stellte Lark den Fetisch schnell
wieder zurück in das Regal. Die Inhaberin war eine große, dürre
Frau mit einer langen Nase, die ihre grauen Haare streng
zurückgekämmt trug. Als sie Lark sah, legte sie den Kopf schief,
was ihr das Aussehen eines Vogels verlieh. Selbst ihr Mund
erinnerte an einen Schnabel.
»Willkommen, junge Dame«, sagte sie. »Ich freue
mich immer, eine Fliegerin in meinem Laden zu empfangen. Brauchen
Sie vielleicht ein Bild von Kalla für Ihren Pferdestall?« Lark
schüttelte den Kopf. »Etwas Einfaches vielleicht?«
»Oh, nein«, erwiderte Lark. Sie blickte verlegen
auf ihre Stiefel. »Ich wollte nur …«
Die Kräuterfrau legte den Kopf schief und senkte
die Stimme. »Ah, verstehe. Brauchen Sie vielleicht ein Mittel gegen
Schwierigkeiten, die Sie gerade haben?«
Lark hob ruckartig den Kopf. »Nein, natürlich
brauche ich dafür kein Mittel!«, fuhr sie die Frau an.
Die Frau hob abwehrend die Hand. »Schon gut, ich
habe ja nur gefragt.« Sie strich über ihre fleckige Schürze. »Au
ßerdem würde Ihnen das auch nichts nützen, Kindchen. Ich habe
gehört, dass die geflügelten Pferde genauso empfindlich auf solche
Mittel reagieren wie auf Männer.«
Lark machte einen Schritt auf die Tür zu und
wünschte, sie wäre niemals hereingekommen. »Ich war nur neugierig«,
sagte sie steif. »Sie haben einen Fetisch für einen Wäscheschlegel
im Fenster. Es hat mich an zu Hause erinnert.«
»Einen Schlegelfetisch?« Die Frau hob die
schmalen
Brauen. »Ein Wäscheschlegel. So etwas wird hier in Oscham selten
verlangt. Sind Sie vielleicht aus dem Hochland?«
Lark zögerte, doch bevor sie sich entschieden
hatte, ob sie der Frau überhaupt etwas von sich erzählen wollte,
wurde der Vorhang erneut zurückgeschlagen, und ein dicker,
gebeugter Mann betrat das Geschäft. Sein Gestank nach Kräutern und
Schweiß stieg Lark unangenehm kribbelnd in die Nase. Er sah an der
Inhaberin vorbei und musterte Lark.
»Ich komme sofort zu Ihnen, Slathan«, erklärte
die Frau.
Er nickte, rührte sich jedoch nicht von der
Stelle, sondern starrte Lark an.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Lark. »Ich
glaube, ich brauche eigentlich gar nichts.«
»Halt, warten Sie«, rief die Frau. »Ich möchte
Ihnen etwas geben, das Sie mit zur Akademie nehmen können …« Sie
trat an ein Regal mit einem Sammelsurium von Symbolen und
Fetischen, fischte etwas aus dem Durcheinander und drückte es Lark
in die Hand.
Lark wollte es ihr zurückgeben. »Nein«,
protestierte sie schwach.
Es war entzückend, ein kleines Abbild von Kalla,
in grauen Stein gemeißelt. Der Pferdekopf der Göttin mit den weit
auseinanderstehenden Augen war sehr fein herausgearbeitet. Kalla
hatte den Schweif über die Schulter geworfen und stellte die
kleinen Ohren auf.
»Das kann ich unmöglich annehmen. Ich habe kein
Geld«, erklärte Lark.
»Es ist ein Geschenk«, meinte die Frau. Sie trat
zurück und ließ Lark mit dem Stein in der Hand stehen. »Dann denken
Sie an mich, wenn Sie Ihr geflügeltes Pferd reiten.«
Lark war verwirrt und wusste nicht, ob sie das
Geschenk wirklich annehmen sollte, bedankte sich dann jedoch hastig
und flüchtete aus dem Laden. Sie eilte über die Straße zu dem
Hutmachergeschäft, in dem die Baronin mit den Mädchen verschwunden
war. Der gebeugte Mann war hinter ihr in die Tür des Kräuterladens
getreten, und während Lark nach ihren Begleiterinnen suchte, spürte
sie seinen finsteren Blick in ihrem Rücken. Unbewusst drückte sie
zum Schutz die Figur von Kalla an ihre Brust, bis sich die Tür des
Hutladens hinter ihr geschlossen hatte.
»Larkyn? Ist alles in Ordnung?« Die Baronin
streckte ihr eine Hand entgegen und führte sie zu einem Stuhl vor
einem hohen Spiegel. »Sie sehen ein bisschen blass aus,
Liebes.«
»Was ist das?« Hester zeigte auf den Stein, den
Lark an ihre Brust gedrückt hielt.
»Oh, die …. die Kräuterhändlerin …« Lark deutete
in die Richtung des Ladens. »Ich bin einfach hineingegangen … ich
meine, ich habe sie nicht darum gebeten … sie hat darauf bestanden,
dass ich es annehme.«
»Ja, natürlich hat sie das«, kam ihr die Baronin
zu Hilfe. »Jetzt kann sie behaupten, dass Schülerinnen der
Himmelsakademie zu ihren Kundinnen zählen.«
Hester kicherte. »Habe ich es dir nicht gesagt,
Hammloh? Privilegien.«
»Ich mochte den Laden nicht«, erklärte
Lark.
»Warum denn nicht?«, erkundigte sich Anabel.
»Das ist doch ein hübsches kleines Artefakt.«
»Ja, sicher, die Figur gefällt mir auch, aber
…«
Hester stand am Fenster und starrte hinaus. »Wer
ist dieser Mann?«, fragte sie.
Baronin Beeht legte die Bänder zur Seite, die
sie gerade aussortiert hatte und trat neben ihre Tochter. Der Mann
mit dem krummen Rücken stand im Eingang des Kräuterladens, als
wolle er sich im Schatten verstecken.
Die Baronin sog scharf die Luft ein. »Zurück vom
Fenster!«, befahl sie den Mädchen schneidend. Sie wirkte plötzlich
sehr streng, was Lark vorher nicht aufgefallen war. Jetzt verstand
sie, woher Hester ihre selbstbewusste Art hatte. »Geht vom Fenster
weg, bitte«, wiederholte Baronin Beeht etwas gefasster. »Mit diesem
… diesem Herrn wollen wir nichts zu tun
haben.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie nichts von
diesem buckligen Mann hielt.
Hester gehorchte. »Warum denn, Mamá?«, fragte
sie jedoch. Die Baronin wandte sich vom Fenster ab, und Lark
bemerkte den Blick, den sie ihrem Lakaien zuwarf. »Wir gehen gleich
etwas essen, dann erkläre ich es euch«, sagte die Baronin. Sie sah
über die Schulter zu dem Kräuterladen zurück. »Wenn er weg
ist.«
Als sie alle zusammen an einem Tisch in dem
hübschesten Gasthaus saßen, das Lark je gesehen hatte, und ein
reichhaltiges Mittagessen bestellt hatten, beugte sich die Baronin
zu den Mädchen vor. »Der Mann, den ihr gesehen habt«, erklärte sie
leise, »arbeitet für Prinz Wilhelm.«
»Aber Mamá«, setzte Hester an, »warum …?«
Die Baronin hob die Hand und schüttelte
entschieden den Kopf. »Ich möchte mit euch Mädchen nicht darüber
sprechen«, sagte sie. »Ihr steht im Dienst des Fürsten, und Prinz
Wilhelm wird schon bald der neue Fürst werden.« Sie vergewisserte
sich mit einem kurzen Seitenblick, dass sich niemand in der Nähe
ihres Tisches aufhielt. »Er hat einen gewissen Ruf«, fuhr sie
grimmig fort. »Und dieser grässliche Mensch hat etwas damit zu tun.
Dein Vater und ich, Hester …« Sie tätschelte ihrer Tochter
liebevoll die Schulter. »Wir haben immer sehr darauf geachtet, dich
aus Wilhelms
Gesellschaft fernzuhalten. Die meisten unserer Bekannten haben es
genauso gehalten. Schon seit seiner Jugend war sein Verhalten …
sagen wir, wenig ehrenhaft. In den letzten Jahren sind uns immer
seltsamere Geschichten über ihn und seinen Diener zu Ohren
gekommen. Ihr seid zu jung, um an solche Dinge auch nur zu denken,
aber die Geschichten entsprechen der Wahrheit und handeln von
gefährlichen Dingen. Es wäre fahrlässig, wenn ich euch nicht warnen
würde.«
Lark lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und
schlang die Arme um sich. All die Freude dieses Tages war auf
einmal verpufft. Prinz Wilhelm … die magische Gerte auf ihrer
Brust, mit der er sie gebannt hatte … Sie hätte gern den Mut
aufgebracht, der Baronin alles von diesem Tag zu erzählen und ihr
auch zu schildern, wie merkwürdig sie sich gefühlt hatte. Aber ihre
Brüder, der Untere Hof … Sie hatte Angst, das alles aufs Spiel zu
setzen.
Sie griff in ihre Tasche und hielt das kleine
Symbol von Kalla in der Hand. Ganz sicher war der Zauber der Göttin
stärker als jede Magie, die Prinz Wilhelm anwandte. Bestimmt hatte
das Symbol der Pferdegöttin Macht über die magische Gerte. Aber
hatte Kalla auch Macht über den Fürsten von Oc?
»Larkyn? Sind Sie gar nicht hungrig?«
Lark blickte auf und bemerkte, dass das Essen
serviert worden war. Eine Platte mit dampfenden Fleischpasteten,
ein Krug, randvoll mit Apfelwein, und eine Schüssel mit knackigem
Gemüse. Als sie die Sorge von Baronin Beeht bemerkte, fühlte sich
Lark sogleich besser und lächelte in dieses markante Gesicht, das
so sehr dem von Hester glich. »O doch«, antwortete sie. Sie sah,
dass Hester und Anabel sich schon auf ihre Pasteten stürzten, und
nahm sich selbst
schnell zwei, bevor sie ganz verschwunden waren. »O doch, Baronin,
ich sterbe fast vor Hunger!«
Hesters Mamá nickte zustimmend. »So sollte es
bei euch jungen Dingern auch sein. Esst jetzt. Es kann euch nicht
schaden, wenn ihr einmal richtig satt werdet!«
Nach der ausgezeichneten Mahlzeit folgten
weitere Einkäufe, und der Diener der Baronin musste etliche Male
mit ihren Erwerbungen zur Kutsche gehen, um sie dort zu verstauen.
Das kleine Bildnis von Kalla verwahrte Lark jedoch in der Tasche
ihres Wamses. Schließlich stand die Sonne tief am Himmel und
verkündete das nahende Ende des Tages, aber das Problem mit Larks
Haaren war immer noch nicht gelöst.
Als sie schließlich zur Akademie zurückfuhren,
behaglich müde von der Wärme, dem guten Essen und der schönen
Gesellschaft, schüttelte die Baronin freundlich den Kopf. »Ich weiß
nicht, was ich Ihnen raten soll, Liebes«, sagte sie zu Lark. »Sie
haben wundervolles Haar, um das Sie jede Frau beneiden würde,
abgesehen von Pferdemeisterinnen natürlich. Ich habe keine Ahnung,
wie Sie diese Pracht jemals unter einer Kappe bändigen
können.«
»Schneid sie einfach ab«, meinte Hester
schläfrig.
»Was?« Lark schrak aus ihrem Dämmerzustand hoch
und drehte sich zu ihrer Freundin um.
Hester lehnte den Kopf gegen das Rückenpolster
und lächelte. »Du wirst sie abschneiden müssen, Hammloh. Ich wüsste
nicht, was du sonst tun könntest.«
Unwillkürlich griff sich Lark an den Kopf. Ihre
Finger gruben sich in das Gewühl von Locken, das sie reumütig zu
glätten versuchte.
»Das wäre allerdings höchst ungewöhnlich …«,
begann die Baronin.
»Aber es sähe bezaubernd aus. Mit deinem Teint
und diesen strahlenden Augen. Ich schneide sie dir.« Anabel
zwinkerte Lark zu.
Das Mädchen kicherte. »Was wird meine Tutorin
dazu sagen?«
Hester antwortete mit geschlossenen Augen.
»Erklär ihr, dass es die Idee von Baronin Beeht ist. Dann wird sie
nicht einmal mit einer Silbe etwas dagegen einzuwenden
haben.«