Kapitel 13
Wie praktisch für Rosella, dass sie eine kleine Ziegen hirtin als Stallgehilfin hat.« Petra Süß sprach gerade so laut, dass man ihre Worte bis zur Veranda des Schlafsaals verstehen konnte. Ihrer Bemerkung folgte vereinzeltes Kichern, das jedoch rasch erstarb, als Hester Morgen abrupt von ihrer Pritsche hochfuhr und zornig zu Petra hinüberstarrte.
»Was reden Sie da, Süß?«, wollte Hester wissen. Lark zog hastig ihr Nachthemd über den Kopf, damit die anderen die Schamröte auf ihren Wangen nicht sehen konnten.
»Ich glaube kaum, dass ich Ihnen eine Erklärung schuldig wäre, Morgen«, erwiderte Petra höhnisch. »Aber es ist doch wirklich ein Glücksfall, dass es Hammloh nichts ausmacht, im Dreck herumzukriechen und die niedere Arbeit eines Stallmädchens zu erledigen.«
Hester stemmte die Hände in die Hüften. Sie war eine beeindruckende Erscheinung, hochgewachsen, mit breiten Schultern und dem vorgereckten Kopf. »Das gehörte nicht zu Rosellas Pflichten!«, stieß sie hervor. »Prinz hätte es tun müssen!«
»Sie heißt nicht mehr Prinz«, mischte sich eine andere ein. Lark streckte den Kopf aus dem Nachthemd, um herauszufinden, wer gesprochen hatte: Anabel Chance, ein anderes Mädchen aus der ersten Klasse, mit zarten Gesichtszügen und sanfter Stimme. Ihre blonden Haare fielen ihr glatt über die Schultern. »Aber ich kann mich nicht mehr an ihren Nachnamen erinnern.« Niemand antwortete ihr.
Hester starrte derweil Petra böse an. »Wenn Sie mich fragen, hätte eine von Ihnen aus der zweiten Klasse für sie in die Bresche springen müssen, statt wie ein Haufen ängst licher Jungfern nur danebenzustehen und zu glotzen.«
Petra stolzierte an das Ende ihrer Pritsche und sah Hester direkt in die Augen. »Hören Sie mir zu, Morgen, und auch Sie, Hammloh. Es gibt hier gewisse Regeln, und Sie tun gut daran, sie schnellstens zu lernen.«
Lark zog das Nachthemd über ihre Schultern und sprang auf. Sie konnte sich selbst verteidigen. Sie trat ebenfalls in den Gang zwischen den Betten und baute sich direkt vor Petra auf. Die Mädchen sahen alle zu; den Erstklässlerinnen blieb vor Staunen der Mund offen stehen, während die Schülerinnen aus der zweiten Klasse grinsten und ein paar Drittklässlerinnen finster die Stirn runzelten.
»Dieses Pferd hat sehr gelitten«, erklärte Lark nachdrücklich.
»Dieses Pfärd?«, wiederholte Petra und übertrieb dabei Larks Dialekt. Ein Mädchen lachte, wurde jedoch zischend von einer anderen zum Schweigen gebracht.
»Man sagt ›Pferd‹, Süß«, meinte Hester in ihrem kultivierten Tonfall. Dann hielt sie sich die lange Nase zu und fuhr in Petras aufgesetzt nasalem Akzent fort: »Nicht Pfärd.«
Petras Miene verfinsterte sich, und sie ballte die Fäuste. Sie trat einen Schritt nach vorn, doch irgendjemand hielt sie am Arm fest. Auch Hester hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Hastig ging Lark dazwischen. »Wie auch immer Sie es aussprechen, jedenfalls hat Prinz mit dem Tode gekämpft, und wir konnten nichts mehr für ihn tun. Mein Dialekt ist nicht das Einzige, das ich aus dem Hochland mitgebracht habe.«
»Nein«, zischte Petra. »Den Gestank nach Ziege hast du auch gleich mitgebracht!«
»Vielleicht rieche ich nach Ziege – oder auch nach Kuh, wo wir gerade dabei sind -, aber ich stehe wenigstens nicht untätig herum und sehe zu, wenn ein Tier leidet!«
»Wollen Sie uns etwa sagen, wie wir unsere Arbeit zu tun haben? Sie? Eine Ziegenhirtin?«
Hester sog vernehmlich die Luft ein. »Wo wir davon sprechen, Süß, Sie tragen offenbar auch ein ganz eigenes Aroma mit sich herum. Was ist das eigentlich für ein Geruch, der Ihnen da anhaftet, hm? Gebeiztes Leder? Stiefelschwärze? Offenbar stellen Sie Schuhe her, stimmt’s?«
Petras Gesicht lief dunkelrot an. »Ich … ich war noch nie in der Werkstatt, Morgen!«, stieß sie stammelnd hervor. »Seien Sie nicht albern!«
Hester zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall riechen wir anderen hier nach Pferd. Immer.«
»Werden Sie nicht vulgär«, spie Petra Süß hervor und deutete auf Lark: »Ich warne Sie, Ziegenhirtin. In Zukunft warten Sie gefälligst meine Anweisungen ab.«
»Süß!« Das war eine der Drittklässlerinnen, Elisabeth Jäger, glaubte Lark. »Es reicht! Dies war für alle ein furchtbarer Tag, und Sie machen ihn nur noch schlimmer.«
Petra fuhr herum und ging zu ihrer Pritsche zurück. Lark sank auf ihr Bett, während Hester mit verschränkten Armen neben ihr stehen blieb, als wolle sie alle herausfordern, noch einen Kommentar abzugeben. Die Mädchen wandten eines nach dem anderen ihre neugierigen Gesichter ab und schlüpften unter ihre Decken.
»Wieso hasst sie mich?«, flüsterte Lark. »Ich weiß, dass ich hier nicht herpasse … aber ich habe ihr doch gar nichts getan.«
»Sie hat nur auf jemand gewartet, auf dem sie herumhacken kann«, ertönte eine sanfte Stimme.
Lark und Hester drehten sich um und sahen sich Anabel gegenüber, die mit einer Haarbürste in der Hand vor ihnen stand. Das Mädchen errötete unter ihren Blicken. »Ich nehme an, sie hätte lieber auf mir herumgehackt, weil ich so langsam bin und so eine schlechte Haltung habe. Aber mein Vater ist ein Graf und ihrer bloß Schuhhändler.« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich finde es großartig, was Sie getan haben, Larkyn. Ich wünschte, ich hätte Ihren Mut.«
»Das war gesunder Menschenverstand«, erklärte Hester. »Dagegen sahen die anderen ganz schön dämlich aus.«
»Oh!«, sagte Lark. »Aber deshalb habe ich es nicht …«
»Aber nein, natürlich nicht«, sagte Anabel schnell. »Sie haben es nicht in dieser Absicht getan. Aber das arme Pferd!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die gleich darauf ihre makellosen Wangen hinunterliefen. »Das werde ich niemals vergessen! So etwas Schreckliches habe ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht«, pflichtete Hester ihr bei. Sie ließ sich neben Lark auf die Pritsche sinken. »Ich habe noch nie jemand sterben sehen.«
Lark sah die beiden Mädchen verwirrt an. Wie hatten sie in ihrem Alter – Hester war mindestens achtzehn, und Anabel war sicherlich nicht viel jünger – noch nie dem Tod begegnen können? Natürlich war ihr klar, dass die beiden niemals Ziegen gehütet, Kühe gemolken oder ein Fohlen zur Welt gebracht hatten. Aber der Tod gehörte doch zum Leben dazu. Wie behütet mussten sie aufgewachsen sein! Wie sehr unterschied sich doch das Leben eines Bauernmädchens aus dem Hochland von dem dieser vornehmen Töchter von Oc.
Sie würde wohl vergeblich irgendwelche Gemeinsamkeiten mit ihnen suchen.
Mit Ausnahme, selbstverständlich, der geflügelten Pferde!
 
Als Philippa am nächsten Morgen in Begleitung von Margret und den anderen Pferdemeisterinnen die Halle verließ, sah sie die große, schlanke Gestalt von Prinz Wilhelm, der soeben die Stallungen betrat. Sein brauner Wallach lief frei auf der Trockenkoppel umher. Beere, der Oc-Hund, be obachtete ihn mit gesträubtem Nackenhaar von der Mitte des Hofes aus.
»Hast du das gesehen, Philippa?«, murmelte Margret.
»Ja. Ich glaube, ich sollte wohl besser …«
»Ja, das fürchte ich auch.«
Philippa seufzte. Es blieb immer an ihr hängen, mit dem Fürsten zu verhandeln oder wahlweise mit seinem Sohn. Das hatte sich aus ihrer Vergangenheit so ergeben. Sie zog die Schirmmütze aus ihrem Gürtel, setzte sie auf und rückte sie zurecht. Dann rief sie eine der Reiterinnen zu sich. »Elisabeth!«
Das Mädchen wandte sich von ihrer Gruppe ab und eilte zu ihr. »Ja, Meisterin Winter.«
»Sorgen Sie dafür, dass alle aufzäumen und sich auf der Flugkoppel sammeln. Ich komme, sobald ich kann.«
Philippa bemerkte, dass Elisabeths Blick kurz zu den Stallungen zuckte, bevor sie ihre Meisterin wieder ansah. Die Mädchen der dritten Klasse hatten den Prinzen offensichtlich ebenfalls bemerkt. »Und tratschen Sie nicht«, fuhr Philippa streng fort. »Wenn es etwas gibt, das Sie alle wissen müssen, werde ich Ihnen das schon mitteilen.«
»Ja, Meisterin. Die Klasse hält sich bereit.«
»Danke.« Philippa beobachtete, wie Elisabeth über das Kopfsteinpflaster zu den anderen Mädchen zurückging, die auf sie gewartet hatten. Sie hatte einen geschmeidigen Gang, hielt sich sehr gerade und hatte die Mütze keck über eine Augenbraue gezogen. In ihrem Äußeren ähnelte sie schon sehr einer Pferdemeisterin, was sie auch unbedingt werden wollte. Philippa seufzte noch einmal, drehte sich um und ging über den Hof zu den Stallungen. Sie wünschte, ihre Mädchen müssten sich nicht mit Politik abgeben, mit diesen unterschwelligen Strukturen von Macht, Intrigen und Gefahr. Doch Elisabeth ritt, wie auch Philippa, eine Noblen-Stute. Deshalb würde sie in Diensten des Adels stehen, ganz gleich, ob ihr Talent und ihr Können dort verschwendet wären. Man würde sie manipulieren, zur Schau stellen und ausnutzen. Ihr Idealismus und ihre Energie würden sich mit der Zeit in Abgeklärtheit und Pragmatismus verwandeln. Das war auch notwendig, sonst würde ihr das Leben schon bald unerträglich werden.
Philippa betrat die Stallungen und bog ohne zu zögern nach links ab. Es war ihr klar, was Wilhelm hier wollte. Er war gekommen, um nach Larkyn Hammlohs kleinem Schwarzen zu sehen. Sie ging nicht davon aus, dass er ihr erklären würde, warum. Ein stechender Schmerz fuhr von ihrem Nacken hinauf bis in den Kopf.
Sie lief um die Ecke, hinter der sich Tups Stall befand, und blieb stehen.
Wilhelm lehnte über der Stalltür und starrte das Fohlen an. Tup erwiderte seinen Blick. Das Hengstfohlen ließ die Ohren merkwürdig herunterhängen und wimmerte ein bisschen. Doch es war nicht zurückgewichen. Es witterte zwar mit geweiteten Nüstern, stand jedoch in der Mitte der Box und wirkte vollkommen durcheinander.
Philippa rührte sich nicht von der Stelle. Sie war ebenso verwirrt wie das Fohlen.
»Hoheit!«
Herbert eilte aus der entgegengesetzten Richtung auf die Stallbox zu. Wilhelm fuhr von dem Gatter zurück, als hätte er sich verbrannt. Philippa trat lautlos einen Schritt vor, dann noch einen. Bislang hatte Wilhelm sie noch nicht bemerkt.
Er kehrte ihr den Rücken zu, als er den Stallburschen begrüßte. »Herbert.« Er klang vollkommen gelassen, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. »Würden Sie bitte Krisp aufsuchen und ihn zu mir schicken?«
Herbert öffnete den Mund und sah von Wilhelm zu dem Fohlen mit seinem verwirrten Blick und den hängenden Ohren. Dann holte er tief Luft. Philippa trat rasch einen Schritt vor. Als er sie entdeckte, war Herbert die Erleichterung deutlich anzusehen. »Ge… gewiss, Hoheit«, stammelte er. »Selbstverständlich. Selbstverständlich. Ich gehe sofort. Und überlasse Sie … Meisterin Winter.« Er machte ein paar Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und davoneilte, wobei er unablässig vor sich hin murmelte: »Ja, ja. Meister Krisp. Ja. Sofort.«
Wilhelm drehte sich langsam um und begrüßte Philippa eisig. Er war vollkommen beherrscht, und ihm war nicht anzumerken, ob er vermutete, dass sie ihn dabei beobachtet hatte, wie er sich dem geflügelten Pferd dichter näherte, als es einem Mann eigentlich möglich war.
»Philippa«, sagte er mit seiner merkwürdig hellen Stimme. »Wie freundlich von Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, wo Sie doch so beschäftigt sind.«
»Ganz und gar nicht, Hoheit«, erwiderte sie. Sie hoffte sehr, dass sie ihre Verwirrung besser verbergen konnte als Herbert, und flüchtete sich in Höflichkeiten. »Gibt es Neuigkeiten von Fürst Friedrich?«
»Der Zustand meines Vaters hat sich seit Ihrem letzten Besuch leider nicht gebessert«, erklärte Wilhelm.
»Und Ihre Mutter, die Fürstin? Sie muss doch auch sehr darunter leiden.«
Wilhelm grinste sie auf seine merkwürdig schiefe, freudlose Art an. »Meine Mutter ist in diesem Punkt … belastbarer«, entgegnete er. »Sie findet Trost in der Gesellschaft und bei … Freunden.«
Fürstin Sophia war in ihrer Jugend eine berühmte Schönheit gewesen, und bei gesellschaftlichen Veranstaltungen war sie auch heute noch stets von einem Schwarm Bewunderer umgeben. Man munkelte, dass sie Friedrich ungeniert betrog, doch der Fürst hatte Philippa gegenüber nie über seine Frau geklagt. Stattdessen hatte er seine hübsche und rücksichtslose Tochter Pamella förmlich vergöttert und vor Philippa stets damit geprahlt, wie sie immer wieder ihren Erzieherinnen und Anstandsdamen entwischt war. Seit sie verschwunden war, war der Fürst ein gebrochener Mann.
Philippa stützte die Ellbogen auf die Mauer von Tups Stall. Das Fohlen streckte ihr die Schnauze entgegen, und sie streichelte sein seidiges Maul. Er war gewachsen; sein Kopf reichte ihr bereits bis zum Kinn, und seine Flügelmembranen wurden allmählich dicker. Sein Rücken war zwar immer noch recht kurz, aber der Schweif fiel ähnlich hübsch wie bei Soni herab. »Wenn ich nicht wüsste, wie unwahrscheinlich das ist, würde ich sagen, dass der Er zeuger des Kleinen ein Nobler war«, sinnierte sie laut vor sich hin.
»Wenn Sie das meinen«, sagte jemand.
Philippa drehte sich um. Zuchtmeister Krisp kam auf sie zu. Als Eduard dicht neben Wilhelm stehen blieb, warf Tup ruckartig den Kopf hoch und wich hastig mit erhobenem Kopf und angelegten Ohren zurück. Er schüttelte energisch die Flügel und klemmte sie fest an die Rippen. Die Spitzen zitterten vor Abscheu. Auch Eduard blickte Wilhelm neugierig an und trat dann vom Stall zurück, um Abstand zwischen sich und Tup zu bringen. Das merkwürdige Verhalten des Fohlens verwirrte Philippa dermaßen, dass sie die Begrüßung zwischen Wilhelm und Eduard kaum wahrnahm. Als sie ihnen wieder ihre volle Aufmerksamkeit zuwandte, waren die beiden bereits in eine hitzige Auseinandersetzung verstrickt. Wobei vor allem Eduard Krisp aus seiner Aufgebrachtheit keinen Hehl machte. Wilhelm merkte man seinen Ärger nur am täuschend seidigen Klang seiner Stimme und den halb geschlossenen Lidern an.
»Hoheit«, sagte Eduard ein bisschen zu laut, »Oc ist stolz auf die Reinheit seiner Blutlinien – aber keineswegs auf diese Bastarde, die in früheren Zeiten gelegentlich aufgetaucht sind! Wie Hoheit weiß, hat sich Ihr Großvater in ungeheure Kosten gestürzt, um jedes geflügelte Pferd im ganzen Fürstentum zu erwerben. Wenn wir zulassen, dass auch nur eine der Blutlinien verunreinigt wird, setzen wir unseren Ruf aufs Spiel – Ihren Ruf, Hoheit. Denn schließlich sind Sie der Thronerbe! Das müssen Sie doch einsehen …«
»Krisp, wir möchten Sie wirklich nur sehr ungern ersetzen. Dennoch, die Oberaufsicht über die geflügelten Pferde obliegt unserer Familie. Wir treffen die endgültigen Entscheidungen«, zischte Wilhelm giftig.
Philippa runzelte die Stirn. Wann hatte Wilhelm in seinem Vokabular »mein erlauchter Vater« durch das Pronomen »wir« ersetzt?
Der arme Eduard wurde bleich bei dieser Drohung, weigerte sich aber tapfer, nachzugeben. »Prinz Wilhelm«, fuhr er etwas ruhiger fort. »Bitte denken Sie nach. Wir hatten eine furchtbare Woche an der Akademie …«
»Ja. Wir haben davon gehört.« Wilhelm fuhr so schnell zu Philippa herum, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich und sich den Ellbogen an der Wand von Tups Stall stieß. Die halb gesenkten Lider des Prinzen erinnerten sie an etwas, aber sie konnte das Bild nicht genau zuordnen.
Trotzdem ließ sie sich von Wilhelm nicht einschüchtern. Dafür kannten sie sich viel zu lange. Außerdem war sie ihm aufgrund ihrer Herkunft und ihres Berufs nahezu ebenbürtig. Sie hob den Kopf und sah ihn verächtlich an. »Ich kann Ihnen versichern, dass es nicht hier geschehen ist, Wilhelm.« Sie ließ seinen Titel absichtlich weg. »Die Mädchen fahren in den Ferien nach Hause zu ihren Familien und bekommen auch zu Beerdigungen und Hochzeiten frei. Das wissen Sie, und Fürst Friedrich ist das ebenfalls bekannt.« Sie wandte sich von ihm ab und beugte sich über die niedrige Mauer, um das schwarze Fohlen zu betrachten.
Trotz des Unbehagens, das ihr Wilhelms Verhalten und seine Drohung Eduard gegenüber bereiteten, fand sie es ebenfalls richtig, die weitere Entwicklung des Fohlens abzuwarten, bevor man es kastrierte. Sie verstand dennoch Eduards Bedenken, und aus ihrer Erfahrung als Lehrerin wollte sie nicht riskieren, dass eine ihrer Schülerinnen mit einem nicht beschnittenen Hengst arbeiten musste. Tup war jedoch abgesehen von seiner Gestalt und Farbe, die nicht den Vorgaben der Blutlinien entsprach, ein liebenswertes Tier. Sein kurzer Rücken und die flache Kruppe verliehen seinem Hinterteil eine anmutige Linie. Sein Hals war zwar ebenfalls ein wenig kurz, bog sich aber über einer sehr muskulösen Brust. Seine Flügel waren schmal, aber dafür sehr lang. Sie freute sich schon darauf, ihn fliegen zu sehen.
»Eduard«, wandte sie sich unvermittelt an den Zuchtmeister, während sie weiterhin das Fohlen beobachtete. »Wie lange kann man eine sichere Kastration des Fohlens längstens hinauszögern?«
»Kämpfer werden immer im Alter von acht Monaten kastriert«, erklärte Eduard. Sie registrierte die Anspannung in seiner Stimme und empfand einen leichten Anflug von Mitgefühl für ihn. Selbst wenn er sie häufig in ihrer Routine störte, machte er schließlich nur seine Arbeit.
»Dieser kleine Schwarze ist ein Winterfohlen. Er wird nächste Woche acht Monate alt«, überlegte sie laut.
»Er ist kein Kämpferfohlen«, sagte Wilhelm.
»Tiefer liegende Hoden!«, schnappte Eduard. »Das ist eine Eigenschaft der Kämpfer.«
»Welche anderen Charakteristika sehen Sie noch an ihm, Eduard?«, erkundigte sich Philippa.
»Ich habe ihn genau beobachtet. Ich würde vermuten, die Mutter war ein Bote, und aufgrund seines kurzen Rückens und seines Schweifs würde ich sagen, dass der Vater ein Nobler war. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass eine Boten-Stute von einem Noblen-Hengst gedeckt worden sein soll, aber es sieht zumindest ganz so aus«, erwiderte der Zuchtmeister.
Wilhelm fuhr sich mit seinem langen Zeigefinger über das makellos glatte Kinn. »Das alles spricht dafür, das Kastrieren des Fohlens zu verschieben, Krisp.«
»Da bin ich entschieden anderer Meinung, Hoheit«, erklärte Eduard halsstarrig. »Seine Mutter war eine flügellose Stute, und das ist genau eine der Veranlagungen, die wir aus den Linien herauszüchten wollen.«
»Und doch hat sie ein geflügeltes Fohlen zur Welt gebracht. Wollen wir nicht genau davon mehr haben?«
Eduards Blick verfinsterte sich, doch er schwieg. Kurz darauf verabschiedete sich Wilhelm und befahl Herbert, ihm sein Pferd zu holen. Philippa und Eduard starrten ihm hinterher.
»Es ist schlecht für Oc, dass der Fürst so krank ist«, murrte Eduard.
»Allerdings«, pflichtete ihm Philippa bei.
»Eine missratene Generation kann die Arbeit von vielen Jahren zerstören.«
Philippa nickte Eduard schweigend zu und verließ die Stallungen. Es war besser und weit sicherer, den Zuchtmeister nicht zu fragen, welche Generation genau er eigentlich meinte. Die Macht der Fürstenfamilie war groß, und wenn Friedrich starb, mussten sie sich alle Wilhelm gegenüber verantworten. Philippa gelang es beim besten Willen nicht, sich davon zu überzeugen, dass Wilhelms Motive ebenso selbstlos waren wie die von Friedrich. Und dessen war sich Friedrich seit Wilhelms früher Kindheit bewusst gewesen, was ein großes Problem für die Thronfolge bedeutete.
Als Philippa zur Flugkoppel ging und ihre Handschuhe überzog, tauchte auf einmal das Bild in ihrem Kopf auf, an das sie sich zuvor nicht hatte erinnern können. Friedrich besaß ein sehr, sehr altes Gemälde, das in der Bibliothek des Palastes hing. Niemand wusste mehr, wer der Künstler war. Im Laufe der Zeit war das Gemälde nachgedunkelt und fast unkenntlich geworden. Auf der riesigen Leinwand wurde eine Flugformation der berühmten Alten dargestellt, deren Nüstern rot glühten, während sie mit weit ausgebreiteten, schuppigen Flügeln einen Gletscher überquerten.
Es waren die Augen der Alten, die Philippa schon immer gefesselt hatten. Es waren schmale schwarze Augen, deren Funkeln trotz der verblassenden Farbe noch immer deutlich zu erkennen war.
Es waren Wilhelms Augen.
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