Kapitel 26
Wilhelm musterte Irina mit einem leichten Anflug von Ekel. Dabei war die Pferdemeisterin nicht eigentlich hässlich. Sicher, sie hatte recht grobe Gesichtszüge, eine sehr auffällige Nase, ziemlich dicke Lippen und schwere Augenlider, doch nichts an ihr war direkt abstoßend. Es war eher die Art, wie sie sich bewegte oder vielmehr sich nicht bewegte. Zudem zerrte ihre monotone Stimme an seinen Nerven; ja, die Frau wirkte phlegmatisch, irgendwie abgestumpft und erinnerte ihn an einen Amtsrichter, mit dem er manchmal zu tun hatte, oder an den Vogt in einer großen, wohlhabenden und ungemein langweiligen Stadt.
Wilhelm strich die Weste glatt und blickte angelegentlich aus dem Fenster. Das blasse Sonnenlicht glitzerte auf der unberührten Schneedecke über den Ländereien von Fleckham. »Möchten Sie eine Tasse Tee, Pferdemeisterin?« Er musste sich zwingen, höflich zu klingen. »Der Flug war sicherlich kalt.«
»Ich bin nicht geflogen, Hoheit«, erwiderte sie. »Das hätte zu viel Aufsehen erregt. Ich bin mit der Kutsche gekommen.«
Sein Blick zuckte kurz zu ihr, dann sah er wieder aus dem Fenster. »Ach? Ich dachte, es wäre nicht ungewöhnlich, wenn sich eine Pferdemeisterin an ihren Herrn wendet.«
»Sie sind nicht mein Herr«, erklärte sie.
Er drehte sich zu ihr um und sah ihr direkt in die Augen. »Wie bitte?«, fragte er gefährlich leise.
»Mein Herr ist Fürst Friedrich«, erwiderte sie. Unwillkürlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass sie ebenso gefühllos sprach, als lese sie eine Einkaufsliste vor. »Ich stehe im Dienste des Fürsten.«
Wilhelm hob das Kinn und betrachtete sie mit halb geschlossenen Lidern. »Hüten Sie Ihre Zunge, Pferdemeisterin.« Seine Stimme klang hell, fast schrill. »Ich könnte jeden Augenblick, und ich versichere Ihnen, dass ich das wörtlich meine, Fürst werden.«
»Wenn es so weit ist, dürfte das unsere Abmachung vereinfachen«, gab sie ungerührt zurück. Sie schien keine Angst vor ihm zu haben, obwohl selbst Slathan, der neben der Tür stand, sich in seinen abgetragenen Mantel verkroch, als würde er sich am liebsten unsichtbar machen.
»Reden Sie schon! Ich habe noch andere Dinge zu tun«, forderte Wilhelm sie auf.
»Ich bin nur gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass dieses Mädchen niemals reiten lernen wird. Sie ist dumm und unkooperativ. Die Akademie verschwendet nur ihre Zeit mit ihr.«
Wilhelm hob eine Braue. »Ich bin ihr einst auf ihrem Hof begegnet. Da schien sie mir alles andere als dumm zu sein.«
Meisterin Stark zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie auf diesen Hof gehört. Ich versichere Ihnen, dass sie nicht reiten kann. Sie hat all die Monate keinerlei nennenswerte Fortschritte gemacht.«
»Ist Margret Morghen ebenfalls Ihrer Ansicht?«
»Sie hat womöglich nicht mitbekommen, wie unbegabt das Mädchen ist, aber Philippa Winter weiß es.«
Wilhelm riss die Augen auf. »Philippa? Ach ja?«, er schnurrte förmlich. »Und was hält sie davon?«
»Sie hat versucht, mir die Schuld an der Unfähigkeit des Mädchens in die Schuhe zu schieben.«
»Aha.« Wilhelm drehte sich wieder zum Fenster um. Er genoss es, wie die Sonne auf dem Schnee gleißte. »Das klingt ganz nach Philippa.«
»Hoheit sollte auch wissen, dass das Fohlen einen schlechten Charakter hat. Ich bezweifle, dass es besonders nützlich sein wird, selbst wenn Larkyn irgendwie lernt, mit ihm zu fliegen.«
»Ich finde es merkwürdig, dass er einen schlechten Charakter haben soll«, erwiderte Wilhelm. »Die Mutter und der Deckhengst waren zwar beide recht lebhaft, aber für ihr gutes Benehmen bekannt. Mein eigener Wallach stammt von ihnen ab.«
»Dieser Junghengst wird jedenfalls noch viel Ärger machen.«
Wilhelm strich sich mit dem Finger über das Kinn. »Und was raten Sie mir?«
»Es ist Zeitverschwendung, Hoheit. Sie können das Fohlen genauso gut jetzt abholen, und die Sache ist erledigt.«
»Hm.« Wilhelm dachte lange nach, bevor er sich zu seiner Besucherin umdrehte. »Wenn, wie Sie mir versichern, das Mädchen am Prüfungstag versagt, könnte ich das Fohlen ungestraft aus der Akademie entfernen.«
»Wieso wollen Sie so lange warten?«
»Meisterin Stark, wie Sie selbst so scharfsinnig ausgeführt haben …« Er bemerkte amüsiert, dass Slathan beim Klang seiner Stimme noch mehr zusammensackte. Dachte dieser Narr etwa, dass er einer Pferdemeisterin etwas antun würde, hier in Fleckham?
»Wie Sie vorhin so scharfsinnig ausgeführt haben«, fuhr er fort, »bin ich noch nicht Fürst. Also bin ich gezwungen, vorsichtig und diskret zu handeln.«
»Ja, Hoheit. Ich dachte nur, dass Sie das mit Larkyn wissen sollten.«
Wilhelm rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Sehr richtig. Und jetzt habe ich es zur Kenntnis genommen.« Er nickte Slathan zu, der die Tür öffnete und sie der Besucherin aufhielt.
Irina Stark warf einen Blick auf die Tür und sah dann Wilhelm an. »Wäre das alles, Hoheit? Sind Sie …?« Zum ersten Mal verrieten ihre Augen und ihre Stimme so etwas wie Gefühle. »Sind Sie zufrieden? Mein Vater …«
»Ich bin zufrieden. Für den Augenblick«, fiel er ihr ins Wort.
»Am besten sind Sie am Prüfungstag selbst zugegen, bevor die Leiterin etwas unternimmt«, schlug sie vor.
»Natürlich. Den Prüfungstag an der Akademie lasse ich mir nie entgehen«, gab er zurück.
Irina Stark neigte den Kopf. Wilhelm stand unbeweglich da, mit verschränkten Armen, und beobachtete, wie sie den Raum verließ. Selbst nach all den Jahren ärgerte ihn ihr Verhalten immer noch. Nur diese überheblichen Pferdemeisterinnen hielten sich für so wichtig, dass sie meinten, vor einem Nachfahren von Oc keinen Hofknicks machen zu müssen.
»Weißt du, Slathan«, knurrte er, als Irina Stark verschwunden war, »wenn mein Tag gekommen ist, wird sich einiges ändern.«
»Wirklich, Hoheit?« Slathan sah ihn mit einem boshaften Grinsen an. »Sie meinen den Rat der Edlen?«
»Der Rat, ja.« Wilhelm ließ sich auf einen Stuhl fallen, bog den Kopf zurück und schloss die Augen. »Diese Versammlung verrückter alter Männer steht nur dem Fortschritt im Wege. Mit ihnen werde ich schon fertig. Und ich schwöre dir, dass diese verdammten Pferdemeisterinnen lernen werden, vor ihrem Fürsten einen Knicks zu machen.«
»Gute Idee, Hoheit«, stimmte Slathan zu. »Das ist nur recht und billig.«
»Das Warten fängt langsam wirklich an, mich zu zermürben«, murmelte Wilhelm.
»Ja, Hoheit.« Slathan näherte sich ihm. »Sie wissen doch«, murmelte er verschwörerisch, »dass wir die Dinge beschleunigen könnten? Wir haben einen Vertrauten hier im Palast. Wir hätten Möglichkeiten …«
Wilhelm öffnete die Augen und warf Slathan einen vernichtenden Blick zu, ohne auch nur den Kopf zu bewegen. »Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur vorzuschlagen?«
Slathan trat einen Schritt zurück. »Aber Hoheit, ich meinte ja nur …«
»Ich weiß sehr genau, was du meintest«, erwiderte Wilhelm. Er schloss wieder die Augen und strich die Weste glatt. »Versteh mich nicht falsch. Alles, was ich tue, tue ich für die Zukunft von Oc. Vatermord jedoch würde für mich bedeuten, eine Grenze zu überschreiten.«
Schule der Lüfte wolkenreiter1
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