Epilog
Zum ersten Weihnachtsfest meines Neffen strickte ich ihm eine Pudelmütze. Ich war im Stricken immer noch eine Anfängerin, und sie geriet nicht ganz so, wie ich gehofft hatte: Die Reihen waren auf einer Seite wellig und auf der anderen gerade. Aber ich hatte richtig abgemessen, und die Mütze passte wie angegossen auf seinen kleinen Kopf, der immer noch nur von wenigen feinen Härchen in der Haarfarbe meiner Schwester bedeckt war. Er war sechs Monate alt. Elise und Charlie hatten ihn nach Charlies Vater Miles genannt.
Am Weihnachtsmorgen blieb meine Mütze vielleicht fünfzehn Sekunden lang auf seinem Kopf, bevor er sie herunterriss und zu schreien anfing.
»Nimm's nicht persönlich«, sagte Elise. Miles, der auf ihrem Schoß saß und immer noch quengelte, versuchte, nach einem blinkenden Licht am Weihnachtsbaum zu greifen. Wir saßen in unseren Schlafanzügen auf dem weichen Teppich in Elises und Charlies riesigem Wohnzimmer, das, wie Elise gern betonte, nur einen Bruchteil dessen kostete, was sie ein riesiges Wohnzimmer kosten würde, wenn sie in San Diego geblieben wären. Sie erwähnte es vor allem dann, wenn meine Mutter in der Nähe war, obwohl meine Mutter ihr mehrmals gesagt hatte, dass sie sich nicht zu rechtfertigen brauche.
»Das ist eine tolle Mütze.« Elise erhob ihre Stimme, damit ich sie über das Geschrei hinweg hören konnte. Sie hielt die Mütze hoch und lächelte ein bisschen. Die Bommel saß eindeutig schief. »Es gefällt mir, dass du sie selbst gemacht hast. Du hast ihm deine Zeit geschenkt. Das ist süß.«
»Du strickst?« Mein Vater stand in der Tür zur Küche. Er hatte den grünen Rollkragenpullover an, den Susan O'Dell ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, und er wirkte weder erfreut noch schien er sich darin wohlzufühlen. Meine Mutter wusste - wie wir alle -, dass mein Vater Rollkragenpullover hasste. Susan O'Dell wusste es noch nicht. Aber Elise hatte Susan zum Brunch eingeladen, deshalb hatte mein Vater den Rollkragenpullover angezogen. Er schaute mich über seinen Kaffeebecher hinweg an und runzelte die Stirn. »Seit wann?«
Ich streckte die Beine aus und stützte mich auf meinen Ellbogen. »Seit mir klargeworden ist, dass ich kein Geld für Geschenke habe.«
»Gewöhn dich daran, Miss Geisteswissenschaften.« Er nahm einen Schluck Kaffee und schmunzelte über seinen eigenen Witz. Elise sah mich an und schüttelte den Kopf. Ignorieren, ignorieren, ignorieren! Das fiel mir nicht schwer. Es war mir wirklich egal, was mein Vater davon hielt, dass ich strickte. Ich hatte mir eine kleine Buchstütze zugelegt, sodass ich freihändig lesen konnte. In den letzten drei Monaten hatte ich für jedes Familienmitglied eine Mütze gestrickt und dabei Moby Dick, Die Drehung der Schraube und Die Verteidigung der Frauenrechte gelesen. Wenn ich, müde vom Lesen, den Blick senkte, war ich jedes Mal erstaunt darüber, wie viel meine Hände inzwischen geschafft hatten.
Ich las nicht immer beim Stricken. Im Oktober hatte ich in den Fahrstühlen Zettel aufgehängt, und bald meldeten sich sieben Studienanfängerinnen, die entweder stricken lernen wollten oder viel mehr übers Stricken wussten als ich. Wir trafen uns jeden Donnerstag um acht Uhr in der Lobby in meinem Stockwerk. Das brachte mir Punkte für Freizeit-Programme. Und es war nett, eine Stunde in der Woche einfach nur zusammenzusitzen, zu reden und gleichzeitig etwas zu erledigen.
»Ein bisschen ... häuslich, findest du nicht?« Mein Vater kam ins Zimmer, stellte sich neben den Baum und schaute zu uns herunter.
»Jetzt ist es raus«, sagte Elise. »Dass sie strickt, kann nur eins bedeuten.« Sie schaute erst Miles, dann mich an. »Veronica ist in anderen Umständen.«
Sie veralberte ihn. Ich war nicht schwanger, und ich hatte auch nicht vor, es in absehbarer Zeit zu werden. Im Januar würde ich die Einstufungstests machen und mich bei vier Hochschulen bewerben.
Mein Vater nickte und trank Kaffee. »Sehr witzig, Elise. Falls du dich je entschließen solltest, wieder zu arbeiten, könntest du als Comedian auftreten.«
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte man meinen können, dass sie ihn gar nicht gehört hätte. Sie beugte sich vor und klopfte auf mein Knie. »Strick dir keine Socken, Schätzchen. Wenn du schwanger bist, gehst du bestimmt auch lieber barfuß.«
Mein Vater nahm noch einen Schluck Kaffee und warf ihr einen düsteren Blick zu. »Schon okay«, sagte er. »Lach nur. Lach ruhig den Mann aus, der für dein College bezahlt hat.«
Sie setzte Miles wieder auf ihren Schoß, ließ ihn ein bisschen auf und ab wippen und gurrte besänftigend. Seit das Baby da war, hatte sie sich verändert. Sie musste bei unserem Vater nicht mehr das letzte Wort haben. Wenn sie sich stritten, wie sie es immer getan hatten, kam es vor, dass sie plötzlich mittendrin aufhörte - so, als würde es sie langweilen. Wenn sie das machte, war häufig etwas in ihrem Gesichtsausdruck oder der Art, wie sie den Kopf schief legte, das mich an unsere Mutter erinnerte. Vielleicht nahm Elise Gesten und Angewohnheiten von ihr an; sie und meine Mutter redeten zurzeit viel mehr miteinander als früher. Elise rief sie mehrmals in der Woche an, um sie zu fragen, was man bei Windelausschlag machen könnte oder bei Fieber - oder an einem langen, kalten Tag ohne jede Abwechslung.
Mein Vater beugte sich vor und schaute Miles an. »Brauchst du etwas?«, fragte er. »Soll ich dir sein Fläschchen holen?«
»Er hat gerade eins bekommen. Er ist heute Morgen einfach unruhig. Letzte Nacht ist er dreimal aufgewacht.« Sie sah mich an. »Hast du ihn gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. Das Gästezimmer war im Erdgeschoss, Miles' Zimmer im ersten Stock.
»Ha«, sagte sie und verlagerte ihn auf ihren anderen Arm. »Mein Mann auch nicht. Habt ihr beide aber einen guten Schlaf.«
Miles beruhigte sich und schaute ihr ins Gesicht, eine kleine Hand vor den Mund gelegt, als wollte er sein Staunen verbergen. Er hatte die Augen meiner Mutter, und er lächelte jetzt schon so schief wie Charlie. Ein paar Minuten lang starrten wir ihn fasziniert an - als wäre er ein Feuer in einem offenen Kamin.
»Susan müsste bald hier sein.« Mein Vater ging um den Baum herum, setzte sich auf die Couch und zerrte an seinem Rollkragen. Er sah über die Schulter und zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Dabei wirkte er nervös. Er hatte Susan sein Geschenk noch nicht gegeben, aber uns hatte er es gezeigt: ein Verlobungsring mit einem wunderschön geschliffenen Diamanten. Bereits vor Thanksgiving hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht; sie wollten irgendwo an einem Strand heiraten, sobald sie sich beide auf der Arbeit frei nehmen konnten.
Mein Vater hatte Elise und mir am Tag nach Thanksgiving, als Susan nicht da war, von ihren Plänen erzählt. Er hatte uns beide gebeten, im Esszimmer Platz zu nehmen, und mit ernster Miene beide Hände flach auf die Glasplatte gelegt, als müsste er sie nach unten drücken. Es war eine defensive Haltung gewesen, er war bereit für einen Streit. Doch keine von uns hatte ihm Gelegenheit dazu gegeben. Wir mochten Susan beide gern. Als er im letzten Oktober Schmerzen in der Brust gehabt hatte, war es Susan gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, in die Notaufnahme zu gehen. Dort hatte man festgestellt, dass er keinen Herzanfall hatte, aber bald einen bekommen würde, wenn er nicht einiges in seinem Leben änderte. Es war Susan, die ihn daran erinnerte, seine Medikamente zu nehmen, und Susan, die ihn überredete, zweimal in der Woche nach der Arbeit in einen Yogakurs zu gehen. Und sie lachte über seine Witze. Sie hörte sich aufmerksam seine Geschichten an, die neuen ebenso wie die alten, die wir schon zu oft gehört hatten. Für Elise und mich war Susan so etwas wie eine neue Einsatztruppe, ein völlig neuer Mensch, der ihn kein bisschen satthatte, der bereit war, es mit seiner Energie aufzunehmen.
»Ich weiß, dass es erst ein Jahr her ist«, hatte er an jenem Tag gesagt. »Oder nicht ganz ein Jahr«, fügte er hinzu, als er sah, dass Elise im Begriff war, ihn zu korrigieren. »Aber ich bin kein Kind mehr. Und ich möchte glücklich sein. Ich habe es doch verdient, glücklich zu sein, oder?«
Wir schwiegen nur einen Moment lang. »Genau wie jeder andere«, sagte Elise mit so munterer Stimme, als würde sie sich tatsächlich freuen, und stand auf, um ihn zu umarmen. Auch ich umarmte ihn, und meine Glückwünsche waren aufrichtig gemeint. Ich wünschte ihm, dass er glücklich wurde, ob er es verdient hatte oder nicht. Dabei ignorierte ich die bohrende Trauer, die Elise nicht zu empfinden schien, und konzentrierte mich auf den Schlag seines Herzens an meiner Wange.
Doch sobald er pfeifend aus dem Zimmer ging, verblasste Elises Lächeln. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der Glasplatte und schob sich ihr Haar hinter die Ohren.
»Es gibt einen Spruch«, sagte sie, und ich sah zu meiner Überraschung Tränen in ihren Augen. »Frauen trauern, Männer finden Ersatz.« Sie lachte ein bisschen, als sich unsere Blicke kurz kreuzten. »Weißt du was? Er hat noch nicht mal einen neuen Hund.«
Mein Vater zupfte wieder an dem Rollkragen und betrachtete den Weihnachtsbaum. »Ich ziehe den jetzt aus«, sagte er. »Ich sage Susan einfach, dass ich die Dinger nicht ausstehen kann. Okay? Damit muss sie eben fertig werden.« Er packte den Pullover am Bund, zog ihn sich über den Kopf und gab den Blick auf ein T-Shirt mit einem neonfarbenen Kreditkartenlogo auf der Vorderseite frei. So etwas bekam man gratis, wenn man einen Antrag ausfüllte. »Sonst bekomme ich den Rest meines Lebens Rollkragenpullover geschenkt. Es tut mir leid, wenn ich damit ihre Gefühle verletze. Okay? Aber wenn wir heiraten wollen, muss sie die Wahrheit wissen.«
Elise zeigte mit Miles' Klapper auf ihn und nickte. Mein Vater starrte sie grimmig an.
»Gute Idee«, kommentierte ich. Ich griff nach seinem Geschenk unter dem Baum und reichte es ihm. »Wenn wir schon bei Ehrlichkeit in puncto Geschenken sind, hier ist deins. Es ist eine Mütze«, ergänzte ich. »Ich habe sie gestrickt.«
Er stellte seinen Kaffeebecher auf den Teppich. »Vielen Dank«, sagte er ohne jeden Sarkasmus. Er packte die Mütze aus und setzte sie sofort auf. Wieder saß die Bommel eindeutig schief. Mein Vater sah albern aus, aber falls er es wusste, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Fühlt sich warm an«, sagte er. »Sie gefällt mir.«
Elise zog die Augenbrauen hoch und nickte. »Ich glaube, mit der Mütze gefällst du mir besser.«
»Danke.« Er sah mich an. »Na, wie geht es deinem Ingenieur?«
Jetzt war ich es, die sich ärgerte. Mittlerweile kannte mein Vater Tims Namen. Tim hatte die freien Tage zu Thanksgiving mit uns verbracht, mit mir bei Elise gewohnt und bereitwillig einmal mit unserem Vater und dann mit unserer Mutter ein Thanksgiving-Dinner gegessen, um keinen zu beleidigen. Mein Vater war mit uns in ein indisches Restaurant gegangen. Meine Mutter hatte Pizza bestellt. Beide hatten Tim auf Anhieb gemocht, was mich nicht überraschte. Was mich überraschte, war, dass jeder von ihnen später gefragt hatte, ob Tim dem anderen auch so gut gefiele.
»Gut«, antwortete ich. »Er ist bei seiner Familie. Übrigens hat er gerade vorhin angerufen. Er lässt aus Illinois grüßen.«
Mein Vater nickte ungeduldig. Das war nicht, was er wissen wollte. »Hat er schon Stellenangebote?«
»Noch nicht.« Ich beschäftigte mich damit, Lametta aus dem Teppich zu klauben. Tim würde bald Stellenangebote bekommen. Im Februar wollte er zu einer Karrieremesse gehen, um mit Personalvermittlern aus dem ganzen Land Gespräche zu führen. Er würde eine Entscheidung treffen müssen, und er würde dabei nicht viel Rücksicht auf mich nehmen. Es ging nicht anders. Ich wusste ja nicht einmal, auf welche Uni ich gehen würde, und würde es im Februar immer noch nicht wissen. »Es sind doch nur zwei Jahre«, hatte Tim gesagt, obwohl wir beide wussten, dass es länger dauern konnte. »Und es gibt Flugzeuge.« Trotzdem waren wir uns der Risiken und der potenziellen Clydes und Clydettes durchaus bewusst.
Elise blickte auf, als die Haustür aufging und ein kühler Wind durch den Weihnachtsschmuck und das Lametta raschelte. Charlie erschien in der Tür, in dünner Jacke und Jogginghose, auf dem blonden Haar die Mütze, die ich ihm gestrickt hatte, die Wangenknochen glänzend von Schweiß.
»Habe ich nicht ein Glück?«, sagte er schwer atmend. »Zwei volle Tage ohne Büro, und das Wetter ist richtig mild.« Er deutete auf die Tür. »Da draußen sind es schon mindestens zehn Grad.« Er blieb stehen und zeigte mit beiden Händen auf seinen Kopf. »Vielleicht war mir aber auch nur mit meiner tollen, neuen Mütze so warm.«
Ich mochte Charlie. Ich vergaß ständig, dass er ebenfalls Anwalt war. Zwar war er auch lebhaft und laut, aber nicht so streitlustig wie Elise und mein Vater. Neulich hatte er mir erzählt, dass er, als er noch jung war, nie auf die Idee gekommen sei, er könnte etwas anderes werden als Profi-Skateboarder. Nach dem Tod seines Vaters hatte er sich auf dem College selbst durchgeschlagen, indem er in einem Restaurant arbeitete, das sich auf Kindergeburtstagsfeiern spezialisiert hatte. Er kannte immer noch den Text und die begleitenden Handbewegungen zum Hauslied des Lokals, und wenn er ein bisschen beschwipst war, konnte man ihn dazu überreden, es auf Englisch und auch auf Spanisch zu singen.
»Schön für dich«, sagte mein Vater. »Joggen am Weihnachtsmorgen!« Er hatte Charlie auch gern.
Charlie legte seine Hände auf seine schmalen Hüften und spähte über Elises Schulter. »Und wie geht es dem Star der Show?«, fragte er.
»Quengelig. Er meckert schon den ganzen Morgen.« Sie griff hinter sich, um Charlies Wange zu streicheln, zog ihre Hand dann aber hastig zurück. »Igitt«, sagte sie und lachte ein bisschen. »Lass deinen Schweiß nicht an das Baby.«
»Ich gehe gleich duschen.« Er küsste sie aufs Ohr und richtete sich wieder auf. »Immerhin war ich eine ganze Weile joggen. Der Brunch ist um elf, stimmt's? Und dann fahren wir zu deiner Mutter? Um wie viel Uhr muss ich wieder hier sein?«
Sie drehte sich um und schaute ihn an. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber Charlie hob beide Hände.
»Du musst noch weg? Am Weihnachtsmorgen? Wo willst du hin?«
»Warum muss ich das sagen?«
Mein Vater und ich starrten beide in den glitzernden Weihnachtsbaum und täuschten plötzliche Taubheit vor. Als Charlie und Elise vor zwei Nächten von der Weihnachtsfeier in Charlies Büro zurückgekommen waren, hatten sie richtig gestritten, so laut, dass ich es im Gästezimmer hören konnte. Elise sagte, sie werde nicht mehr auf seine blöden Partys gehen, wo alle sie behandelten, als wäre sie kein Mensch, als gäbe es nichts Interessantes an ihr. Darauf hatte er etwas erwidert, das ich nicht verstehen konnte, und sie war aus dem Schlafzimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich zugeknallt. Er machte die Tür wieder auf und rief: ›Elise, knall die Tür nicht zu.‹ Worauf sie wiederum behauptete, das hätte sie gar nicht getan, und eine Weile stritten sie darüber. Als Charlie am nächsten Tag von der Arbeit kam, passte ich auf das Baby auf, während sie zusammen einen Spaziergang machten. Als sie zurückkamen, waren sie guter Laune, lächelten, hielten Händchen, und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet.
Charlie kauerte sich zwischen Elise und dem Weihnachtsbaum auf den Boden. »Okay, ich geb's zu«, flüsterte er. »Ich muss Geschenke einkaufen.«
Wieder eine Pause.
»Was ist? Ich hatte viel zu tun.«
»Du hast ein bisschen zu lange gewartet. Heute ist Weihnachten. Da hat kein Geschäft geöffnet.«
Eine längere Pause. Mein Vater sah aus dem Fenster und verkündete - vielleicht mir -, dass es draußen tatsächlich warm aussehe, vor allem für Dezember.
»Okay. Geh ruhig. Fein.« Miles gluckste auf ihrem Schoß. »Aber kauf nichts für mich. Ich will kein Geschenk von einer Tankstelle.«
Ich stimmte meinem Vater zu. Es sehe draußen wirklich warm aus!
»Elise. Ich hatte schrecklich viel um die Ohren. Das weißt du. Warum machst du es mir so schwer?«
»Du könntest Gutscheinkarten kaufen.« Mein Vater zeigte auf Charlie. »Die bekommt man überall, auch am Feiertag. Das mache ich schon seit Jahren! Es spart Zeit, und jeder freut sich.«
Charlie nickte höflich und schaute dann wieder Elise an.
»Schön«, sagte sie schließlich. »Aber nur damit du es weißt, ich hatte auch ziemlich viel um die Ohren. Ich habe letzte Nacht ungefähr vier Stunden geschlafen, falls du dich nicht erinnerst. Und jetzt muss ich für fünf Personen einen Brunch vorbereiten. Und eine sechste füttern. Und ich habe noch nicht mal geduscht! Wie gesagt, ich hatte auch einiges zu tun.«
Ich beugte mich vor. Sie sah müde aus, und ihre Augen waren verquollen. »Ich kann dir helfen«, bot ich an. »Du wolltest French Toast machen, oder? Das übernehme ich. Und ich kann den Tisch decken und ein bisschen aufräumen.«
Beide sahen mich an. Charlie lächelte. »Ich passe auf Miles auf, wenn ich wieder da bin.« Er strich mit einer Hand über ihr Haar. »Dann kannst du dich ein bisschen hinlegen.«
Mein Vater wedelte mit der Hand. »Mach dir keine Gedanken wegen Susan und mir. Wir nehmen immer noch keine Kohlenhydrate zu uns. Ich habe eine Tüte Mandeln mitgebracht. Wir können einfach die essen.«
Elise schaute ihn an, sagte aber nichts.
»Alles in Ordnung?«, fragte Charlie. Er stand schon wieder auf, aber bevor er ging, würde er noch ihre Antwort abwarten. So wie ich Charlie kannte, hätte er auch gewartet, wenn mein Vater und ich nicht da gewesen wären.
Sie nickte und schaute Miles an, der jetzt glücklich und zufrieden war. Charlie bückte sich, um ihr einen Kuss auf den Scheitel zu geben, bevor er sich umdrehte und die Treppe hinaufflitzte.
Das Studentenwohnheim war während der Weihnachtsferien natürlich geschlossen. Als wir meine Mutter auf der anderen Seite der Glastür sahen, bedeutete sie uns mit stummen Lippenbewegungen, zu warten, und hielt eine Kette hoch, an der vielleicht fünfzehn Schlüssel hingen. Sie schob den größten ins Schloss und drehte ihn mit beiden Händen um, bis wir ein Klicken hörten. Ich war diejenige, die den Sack mit den Geschenken trug, aber sobald sie die Tür aufgezogen hatte, beugte sie sich vor und knuddelte Miles, der eine Weihnachtsmannmütze trug und mit dem Gesicht nach vorne in einem Babytragetuch saß, das Charlie sich umgebunden hatte.
»Willkommen in der Gruft«, sagte sie mit der krächzenden Stimme, die sie benutzt hatte, wenn sie uns - als wir klein waren - Geschichten über Kobolde und Hexen vorlas. Sie trug Hausschuhe und einen Bademantel, und ihre Haare waren noch feucht vom Duschen.
Als wir drinnen waren, schaute sich Elise um, zog die Nase kraus und drückte die Weinflasche fest an ihren Mantel. »Ein bisschen gruselig ist es hier.« Sie spähte an dem unbesetzten Empfangstisch vorbei in die große Eingangshalle, die nur von zwei flackernden Ausgangsschildern beleuchtet wurde. Die schweren, malvenfarbenen Vorhänge waren alle zugezogen.
»Bist du ganz allein hier im Haus?«
»Das will ich hoffen.« Meine Mutter warf den Schlüsselbund in die Luft und fing ihn mit beiden Händen wieder auf. Als sie unsere nervösen Gesichter sah, lachte sie. »Schon gut. Es ist nur ein bisschen unheimlich, wenn ich abends nach Hause komme. Wenn ich erst mal in meiner Wohnung bin, ist es in Ordnung. Genauso wie sonst, wenn die Kinder hier sind.«
Ich sah mich um und lächelte in mich hinein. Nicht einmal die Assistentin des Verwalters sollte die Bewohner ihres Wohnheims »Kinder« nennen. Sie hatte mit mir zusammen den Sommerkurs besucht, und auch sie war eindringlich ermahnt worden, die Collegestudenten in ihrem Heim nur als Männer und Frauen zu bezeichnen. Wahrscheinlich nannte sie sie Männer und Frauen, wenn sie arbeitete. Sie war was ihre Arbeit anging genauso gewissenhaft, wie Gordon Goodman es von ihr erwartet hatte, als er ihr empfahl, sich um den Job zu bewerben. Aber jetzt war sie entspannt, und die Wahrheit kam ans Licht: In ihren Augen waren die Studenten einfach Kinder.
»Wenigstens ist es kleiner als mein Wohnheim«, sagte ich. Ich trug immer noch Mütze und Mantel. Im Eingangsbereich war es kälter als draußen. Anscheinend hatten sie über die Ferien die Heizung abgestellt. »Das hier ist nur halb so groß, stimmt's?«
Sie nickte und berührte eine goldene Girlande, die vorne am Empfangstisch hing. Neben dem Fahrstuhl stand eine Staffelei mit einem großen Bogen Papier, auf dem in der sauberen, gleichmäßigen Handschrift meiner Mutter »WIR WÜNSCHEN FROHE WEIHNACHTEN!« zu lesen war.
»Hier wohnen nur vierhundert Studenten.« Sie steckte lächelnd die Schlüssel ein. »Und ich würde sagen, nur sieben davon machen mir regelmäßig Ärger.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Charlie zu und hängte sich bei ihm ein. »Hallo, mein Hübscher«, sagte sie.
»Hallo, Natalie.« Er schaute sie an und lächelte. Zu Thanksgiving hatte er sie »Schwiegermutter« genannt, und sie hatte ihm befohlen, das nie wieder zu tun.
Sie sah Miles an und schnalzte mit der Zunge. »Bringen wir den Kleinen lieber in meine Wohnung. Dort ist es viel wärmer.«
Das war es. Sie hatte in ihrem Wohnzimmer ein kleines Heizgerät, und die untere Hälfte des großen Fensters war mit Dampf beschlagen. Es roch würzig und gut. Ein zugedeckter Topf stand auf einer Warmhalteplatte in der Mitte des Tisches, der mit zueinanderpassenden Tellern und Servietten für vier Personen gedeckt war. Charlie ging hin und hob den Deckel, um hineinzuspähen.
»Lasagne!« Er nahm eins von Miles' Händchen, um das Daumen-rauf-Zeichen zu machen. Ich wusste nicht, ob sich mein Schwager wirklich über die Lasagne freute. Erst vor drei Stunden hatten wir mit meinem Vater und Susan O'Dell gebruncht. Möglicherweise hatte Charlie schon wieder Hunger - ich nicht. Aber da meine Mutter gesagt hatte, dass sie gern für uns kochen würde, war ich mit dem festen Vorsatz gekommen, etwas zu essen.
»Wie hast du das gemacht?« Er schaute sich um. »Du hast ja gar keinen Herd.«
»Im ersten Stock ist eine Küche.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Wein, den Elise immer noch in der Hand hielt. »Aber ich habe einen kleinen Kühlschrank. Ich kann den Wein kalt stellen.« Elise gab ihr die Flasche, und meine Mutter betrachtete das Etikett und lächelte. »Ah!«, sagte sie. »Sehr schön.«
Sie hatte sich viel Mühe gegeben, das stand fest. Abgesehen davon, dass sie wer weiß wie oft die Treppe hinauf- und hinuntergelaufen war, um die Lasagne zu kochen, hatte sie den Raum ein bisschen weihnachtlich dekoriert. Ihre Wohnung sah immer behaglich aus, obwohl es im Grunde nur zwei Studentenzimmer mit einer Verbindungstür waren. Der einzige richtige Unterschied zwischen ihrer Wohnung und jedem anderen Zimmer im Heim bestand darin, dass sie ihr eigenes Badezimmer hatte. Aber im November hatte sie sich eine schicke Leinencouch gekauft, die wie das Möbelstück eines Erwachsenen aussah, und hübsche Vorhänge aufgehängt. Ich wusste, dass der Tisch, auf dem die Lasagne stand, nur ein Klapptisch war, den sie beim Ausverkauf in einer Drogerie entdeckt hatte, aber heute hatte sie roten Stoff darübergehängt, der vielleicht ursprünglich nicht als Tischdecke gedacht war, aber trotzdem sehr gut aussah. Weiße Lichterketten blinkten an ihrem Ficus, und vor dem Fenster hatte sie einen Mistelzweig aufgehängt. Als Charlie zufällig darunter vorbeischlenderte, flitzte sie durchs Zimmer, küsste ihn auf die Wange und duckte sich, um Miles auch einen Kuss zu geben.
»He!« Ich tippte an den Rand der großen Salatschüssel, die außergewöhnlich gewellt und in einem sehr schönen Grünton bemalt war. »Ist das ein Geschenk von Gordons Tochter?«
»Ja! Ist das zu fassen?« Sie drückte Miles' baumelnde Füßchen, um sich zu vergewissern, dass sie warm waren. »Ich habe sie nur das eine Mal getroffen, als sie zu Besuch war. Damals habe ich ihr gesagt, dass mir ihre Arbeiten gefallen, die Sachen, die ich aus Gordons Büro kenne. Und dann hat sie mir das hier geschickt, als sie wieder zu Hause war. Ist das nicht nett?«
Elise und ich wechselten einen Blick. Als meine Mutter nicht hinsah, wackelte Charlie mit den Augenbrauen und grinste. Ich hatte beiden erzählt, wie oft ich meine Mutter und Gordon zusammen beim Essen in der Kantine gesehen hatte. Vielleicht waren sie nur gute Freunde und tauschten Horrorgeschichten und Klagen aus, wie sie alle Leute mittleren Alters kannten, die unter Jugendlichen lebten. Einmal hatte ich sie nach ihm gefragt, aber sie hatte abgewinkt. Sie hatte gesagt, dass sie an etwas Derartiges im Moment nicht denke. Aber ich hatte meine Vermutungen, möglicherweise sogar Hoffnungen. Gordons Tochter vielleicht auch.
»Ich laufe schnell in mein Zimmer und ziehe mich an«, sagte sie. »Es dauert nur eine Minute. Veronica, Liebes, machst du vielleicht ein bisschen Musik? Mein CD-Player steht hinter dir auf dem Fensterbrett.«
Sie ging ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich drückte auf den Knopf des kleinen Plastikgerätes. Es war Weihnachtsmusik, Rudolph the Red Nosed Reindeer. Miles, der immer noch in seinem Tragetuch hing, fing an, seine Arme und Beine zu schwenken. Auch Charlie und ich begannen zu tanzen, um ihn anzufeuern. Aber Elise, die bedrückt wirkte, starrte auf den Tisch, besonders auf die Warmhalteplatte unter der Lasagne. Sie hob den roten Stoff an und schürzte die Lippen, als sie den Klapptisch sah.
»Sagt bloß nichts von dem Ring«, flüsterte sie, schaute das Heizgerät an und schluckte. »Und schon gar nichts von einer Hochzeit am Strand.«
Charlie und ich nickten beide. Es gab keinen Grund, die Verlobung meines Vaters zu erwähnen, wenigstens nicht heute. Andererseits war ich mir nicht sicher, ob es meine Mutter so aufregen würde, wie Elise zu glauben schien. Der Gedanke an eine Hochzeit am Strand mochte sie angesichts ihres derzeitigen Einkommens ärgern, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie besonders lange daran denken würde. Dadurch, dass wir so nah beieinander wohnten und arbeiteten, erlebte ich unsere Mutter in ihrer neuen Alltagsroutine, und ich wusste mehr darüber als Elise. Meine Mutter und ich verbrachten nicht ständig unsere Zeit zusammen - wir hatten beschlossen, während des Schuljahres Distanz zu wahren und unser eigenes Leben zu führen, aber ich sah sie häufig in der Kantine, auch wenn wir nicht zusammen aßen. Manchmal setzte sie sich zu jemandem, der allein an einem Tisch saß, und fing ein Gespräch an - nur für den Fall, dass der oder die Betreffende gern reden wollte. Manchmal saß sie mit Gordon zusammen und manchmal mit einer anderen Frau, die stellvertretende Heimleiterin in einem anderen Wohnheim war und sogar noch älter aussah als meine Mutter.
Damit will ich nicht sagen, dass meine Mutter generell besonders alt aussah, sondern nur verglichen mit fast allen anderen in ihrer Umgebung, mit uns hilfsbedürftigen, jungen Leuten - auch wenn uns nicht immer klar war, dass wir etwas brauchten. Sie sei sich ihres Alters bewusst, hatte sie gesagt, und könne die Uhr ständig ticken hören. Meine Mutter machte sich Sorgen um ihren Ruhestand. Sie würde Geld von meinem Vater bekommen, aber nicht genug, um ewig davon zu leben. Noch war sie sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, nachdem sie erst so spät wieder ins Berufsleben eingetreten war. In einem Jahr würde sie einen Abschluss in Beratungswesen und Heimleitung machen; dann könnte sie tatsächlich Heimleiterin werden, ein bisschen mehr verdienen und trotzdem noch Kost und Logis gratis haben. Trotzdem, sagte sie, werde sie bescheiden leben müssen. Für ihre Siebziger sparen, wie sie es nannte. Sie musste die verlorene Zeit ausgleichen.
In mancherlei Hinsicht allerdings sah sie - zumindest in meinen Augen - fast von dem Tag an, an dem sie ihren neuen Job begonnen hatte, jünger aus als in den Monaten davor. Vielleicht wirkte sie einfach nur glücklicher, weil sie jetzt so viele Dinge, in denen sie gut war, tun konnte. Eines frühen Morgens im September war ein Studienanfänger in ihrem Heim, nur in eine Decke gewickelt, im fünften Stock aufs Fensterbrett gestiegen und hatte sich geweigert, wieder hereinzukommen. Die Polizei war verständigt worden und ein Krankenwagen gekommen. Aber es war meine Mutter, die sich aus dem Fenster lehnte, fast eine Stunde lang mit ihm sprach und ihn schließlich überredete, wieder ins Haus zu kommen. Ich weiß nicht, was sie ihm gesagt hat oder was er ihr gesagt hat. Sie war nicht befugt, mir Details oder seinen Namen zu nennen, nicht einmal nachdem seine Eltern gekommen waren, um ihn nach Hause - oder wohin auch immer - zu bringen, damit es ihm besserging.
Vielleicht also war es nicht so, dass meine Mutter glücklicher war. Vielleicht wäre es zutreffender gewesen zu sagen, dass sie ihre Berufung gefunden zu haben schien - oder wenigstens eine zweite Chance.
Nach dem Essen wurden die Geschenke verteilt. Elise schenkte unserer Mutter einen eisblauen Kaschmirschal. Sie hatte mir unter vier Augen anvertraut, dass sie hoffte, ihr Geschenk würde das »garstige Ding« ersetzen, womit sie den billigen, roten Schal meinte, von dem sie nicht wusste, dass ich ihn im letzten Winter für unsere Mutter gekauft hatte. Der neue Schal sah wirklich besser aus. Meine Mutter legte ihn um ihren Hals, freute sich über das weiche Material und rieb eine geknotete Franse an ihrer Wange.
»Er ist wunderschön. Danke.« Gleich darauf schaute sie mich an und zwinkerte mir zu. »Den anderen werde ich wohl trotzdem behalten. Du weißt schon, fürs Haus und so.«
Charlie hatte für jeden Gutscheinkarten, Entschuldigungen und das Versprechen, im nächsten Jahr ein bisschen früher mit den Weihnachtseinkäufen anzufangen. Ich schenkte meiner Mutter natürlich eine Mütze, die sie auch sofort aufsetzte und damit jegliche Eleganz, die Elises Schal ihr verliehen hatte, zunichtemachte. Meine Mutter schenkte Miles einen Zahnring in Form eines Traktors. Elise und Charlie bekamen Gutscheine für mehrere Abende Babysitting und dazu einen kleinen Kalender für das kommende Jahr, in dem stand, wann sie im Wohnheim arbeiten musste und wann nicht. Ich bekam den gleichen kleinen Kalender, einen Teller mit Weihnachtsplätzchen und eine handgroße, weiße Schachtel, auf der stand: »DAS SIND ERSATZSCHLÜSSEL. ICH SCHENKE IHN DIR NICHT WIRKLICH.«
Ich machte die Schachtel auf und fand darin einen Autoschlüssel an einer Kette mit einem silbernen, vierblättrigen Kleeblatt.
»Ich wünschte, ich könnte dir den Van geben«, sagte meine Mutter und wand sich ein bisschen, als wäre sie verlegen. »Aber gelegentlich brauche ich ihn selbst. Du kannst ihn immer haben, wenn ich im Dienst bin. Schau einfach im Kalender nach. Du musst nicht einmal fragen.«
Vor Freude klatschte ich in die Hände, stand auf und lief um den Tisch, um sie zu umarmen. Ich wollte ihr zeigen, dass es ihr nicht peinlich sein musste, sondern dass es ein wunderbares Geschenk war. Sie hatte mir in letzter Zeit ein paarmal den Van geliehen, und schon das war toll gewesen. Aber es wäre noch viel besser, nicht fragen zu müssen, einfach zum Parkplatz ihres Wohnheims zu gehen, mit meinem eigenen Schlüssel, und irgendwohin zu fahren. Mein Vater hatte davon gesprochen, mir einen Wagen zu kaufen, wenn ich zur Uni ging, aber ich war mir nicht sicher, ob er dabei bleiben würde. Manchmal grummelte er immer noch wegen Jimmys Auto, weil er jetzt höhere Versicherungsbeiträge zahlen musste.
»Danke«, sagte ich, mein Gesicht in ihren neuen, weichen Schal gedrückt. »Ich werde gut darauf aufpassen.« Ich sprach es nicht aus, aber ich dachte: Weil ich weiß, dass der Wagen außer der Couch das Einzige ist, was du besitzt.
»Okay, schon gut«, sagte sie beiläufig. »Ich hatte Angst, du würdest mein Geschenk schäbig finden.« Ich trat einen Schritt zurück, und sie sah auf ihre Uhr. »Oh! Schon fast drei!« Sie räusperte sich und grinste. »Ich habe eine Überraschung«, erklärte sie.
»Flambierte Kirschen?« Elise, die gerade Miles stillte - den Mantel über die Brust drapiert -, tat so, als würde sie unter den Tisch schauen. »Meine Güte, Mom. Ich bin echt beeindruckt von der Lasagne. Meine wird nie so gut, und ich brauche keinen Schlüssel, um zu unserem Herd zu kommen.«
»Deine ist genauso gut«, kommentierte Charlie sachlich.
Elise winkte ab und sah meine Mutter an. »Zurück zum Nachtisch. Was ist es?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Nachtisch gemacht. Aber meine Überraschung hat etwas damit zu tun.« Sie sah jeden von uns an, einen nach dem anderen, als hoffte sie, jemand würde es erraten. Als feststand, dass niemand dazu in der Lage war, gab sie mit einem Seufzer auf. »Heute Morgen hat mich Mr. Wansing angerufen.«
Nur Charlie wusste nicht, wovon die Rede war. Er war nur einmal auf der Kuchenparty in unserer alten Wohngegend gewesen, an Weihnachten vor zwei Jahren - das erste Weihnachten, das er mit meiner Familie verbracht hatte, und das letzte vor der Scheidung meiner Eltern.
»Er lebt noch?«, fragte Elise.
Meine Mutter runzelte die Stirn. »Liebes, du hast ihn vor zwei Jahren noch gesehen.«
»Ich weiß. Wie alt ist er, achtzig?«
»Mag sein.« Sie wirkte verärgert. »Aber das bedeutet noch nicht, dass er demnächst sterben muss, Elise. Er gibt immer noch Partys, um Himmels willen.« Jetzt lächelte sie wieder. »Und er hat angerufen, um uns einzuladen, was sehr nett von ihm war. Ich finde, wir sollten hinfahren.«
Elise und ich wechselten einen Blick, unschlüssig darüber, was wir sagen sollten. Schließlich war es eine Party unter Nachbarn. Wir gehörten nicht mehr dazu. Außerdem war unser Vater jedes Jahr mitgekommen. Er mochte Kuchen, und er liebte es, wenn Mr. Wansing von der Zeit erzählte, als er in den Fünfzigerjahren Unterliga-Baseball gespielt hatte. Es würde seltsam und vielleicht auch ein bisschen traurig sein, ohne ihn dahin zu gehen.
»Wie hat er dich gefunden?«, fragte Elise meine Mutter. »Wie ist er an deine neue Telefonnummer gekommen?«
»Bei Google.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe im Wohnheim einen Festnetzanschluss. Und ich habe meinen Namen nicht gewechselt.«
Natürlich. Ich stellte mir vor, wie Mr. Wansing vor einem Computer saß und den Namen meiner Mutter eintippte. Hatte er sich die Mühe gemacht, auch den meines Vaters einzugeben? Wahrscheinlich nicht, und das war verständlich. Nach Mrs. Wansings Tod war es meine Mutter gewesen, die bei Glatteis Mr. Wansing anrief, um ihn zu fragen, ob er etwas aus dem Supermarkt oder der Apotheke bräuchte. Und weil sie es war, die Bowzer ausführte, war sie es auch, der er regelmäßig bei seinen eigenen, gemütlichen Morgenspaziergängen begegnete. Ich glaube, Mr. Wansing mochte meinen Vater. Er fand, dass er witzig war, »ein echter Heuler«, wie er sagte. Aber mein Vater hatte heute Morgen keinen Anruf erhalten. Wenn es so gewesen wäre, hätte er es erwähnt. Ich glaube, er wäre auch gern hingegangen. Aber Mr. Wansing hatte gewusst, dass er eine Wahl treffen musste. Und er hatte meine Mutter gewählt.
So sah es aus. Mein Vater bekam eine neue Frau und ein gutes Einkommen; meine Mutter bekam die Nachbarschaftsparty. Als ich darüber nachdachte, änderte ich meine Meinung: Es schien auf einmal völlig in Ordnung zu sein, ohne ihn hinzufahren.
Wir fuhren mit zwei Autos. Elise wollte Miles' Kindersitz nicht abmontieren, und wir passten nicht alle in ihren Volkswagen. Meine Mutter und ich nahmen den Van, und sie ließ mich fahren - mit meinem neuen Schlüssel im Zündschloss! Es war kaum was los; auf den Straßen von Lawrence herrschte diese etwas unheimliche Leere einer Stadt am Feiertag, wenn alle Banken und Geschäfte geschlossen sind. Die ganze Strecke nach Kansas City hielt ich mich dicht hinter Elise, als würde ich den Weg nicht kennen.
»Glaubst du, es geht ihr gut?«, fragte meine Mutter und deutete mit dem Kopf auf das Heck von Elises Wagen.
Ich sah sie überrascht an. »Ich denke schon«, antwortete ich. »Warum?«
»Ich weiß nicht. Sie wirkt müde. Ich meine, natürlich tut sie das. Was sie macht, ist anstrengend. Anstrengend auf eine Art, die sie wahrscheinlich nicht gewohnt ist.« Sie hatte ihre Hände im Schoß verschränkt und schien tief in Gedanken versunken zu sein.
»Du hast ihr das Babysitting geschenkt«, erinnerte ich sie. »Das hilft bestimmt.«
Sie sah mich an und lächelte freundlich, als gäbe es viel, wovon ich keine Ahnung hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Ich rede mit ihr«, beschloss sie dann.
Danach wurde sie lebhaft, summte die Weihnachtslieder im Radio mit und schien bester Stimmung zu sein, aber als wir uns unserem Ziel näherten, wurde sie still. Wir schauten beide hinaus, als wir an den Orten unseres alten Lebens vorbeifuhren: meine Grundschule; der Supermarkt, wo meine Mutter unzählige Male Einkaufswagen durch die Regalreihen geschoben hatte; das italienische Restaurant, in das meine Eltern an Hochzeitstagen und bei anderen besonderen Gelegenheiten gegangen waren; der Park, in dem Bowzer sich austoben durfte, als er jung war. Noch vor zwei Jahren hätte ich vielleicht die Augen vor der Langeweile dieser Vorortidylle verschlossen. Ich hatte sie zu oft an einem Schulbus oder dem Van meiner Mutter vorbeiziehen sehen. Aber nun, da wir unterwegs waren zu alldem, was wir verloren hatten, verlieh allein die Vertrautheit der Häuser und ruhigen Straßen allem einen fast magischen Glanz. Die Vergangenheit war nicht verschwunden. Wir konnten jederzeit zurückkommen, wenn wir wollten, indem wir einfach dem alten Weg folgten.
Aber in der letzten Minute konnte ich es dann doch nicht. Als wir von der Hauptstraße abbogen und in unser altes Viertel fuhren, bog Elise in die Straße ab, in der Mr. Wansing lebte - aber ich tat es nicht, weil wir dann an unserer alten Sackgasse vorbeigekommen wären. Das Dach unseres Hauses - das Dach, mit dem alles begonnen und aufgehört hatte - wäre von der Straße aus zu sehen gewesen. Vielleicht konnte Elise daran vorbeifahren, aber ich wollte es nicht, und ich glaubte auch nicht, dass es für meine Mutter gut gewesen wäre. Wenn wir stattdessen in die nächste Straße abbogen und zurückfuhren, würden wir aus der anderen Richtung kommen und unser Haus nicht sehen. Als meine Mutter merkte, dass wir Elise nicht folgten, schaute sie mich an, sagte aber nichts.
Die längere Strecke führte uns am Haus der Butterfields - oder vielmehr ihrem ehemaligen Haus - vorbei. An dem Springbrunnen hing ein Adventskranz. Der steinerne Löwe war verschwunden und durch einen normalen verschließbaren Briefkasten ersetzt worden.
»Ich habe erst letzte Woche mit Pamela gesprochen«, erzählte meine Mutter. »Sie war ein bisschen niedergeschlagen, weil Haylie über Weihnachten nicht nach Hause kommen konnte. Um die Zeit haben sie am meisten zu tun. Aber ich glaube, es gefällt ihr da draußen wirklich gut.«
Ich nickte. Haylie hatte das College verlassen und arbeitete jetzt in einem Wintersportort in Colorado. Ihre Mutter hatte meiner erzählt, dass sie gut verdiene und Geld spare. Ich wusste nicht, ob der Umstand, dass sie von der Schule abgegangen war, zu ihrer Trennung von Jimmy geführt hatte oder ob es umgekehrt gewesen war. Wie auch immer, Jimmy hatte eine neue Freundin, dunkelhaarig und fast genauso hübsch wie Haylie. Er arbeitete nicht mehr in meinem Wohnheim, aber ich sah die beiden manchmal in seinem Auto vorbeifahren oder über den Campus schlendern. Ständig hatte er einen Arm auf ihren schmalen Schultern liegen und führte sie herum. Weil er groß war und sich nach wie vor den Kopf rasierte, war er aus der Ferne leicht auszumachen, und deshalb hatte ich immer Zeit genug, schnell die Straßenseite zu wechseln oder in ein Gebäude zu schlüpfen, bevor er mich sah. So ging es eine ganze Weile. Und dann, an einem sonnigen Tag im November, tat ich es plötzlich nicht mehr, ohne dass es dafür einen bestimmten Grund gegeben hätte. Er war allein und kam auf mich zu, und ich ging einfach weiter, mit erhobenem Kopf und ohne den Blick abzuwenden. Wir gingen wortlos aneinander vorbei, wobei Jimmy mit leerem Blick unverwandt nach vorne starrte.
Wir parkten hinter Elise vor Mr. Wansings Haus. Andere Autos standen nicht da. Drinnen waren viele Leute; wir konnten sie durch die Fenster sehen. Alle lebten hier in der Gegend. Niemand hatte einen so weiten Weg, dass er das Auto gebraucht hätte.
»Auf einmal bin ich nervös.« Meine Mutter starrte Mr. Wansings Haus an. Am Dach blinkten grüne Weihnachtslichter, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. »Ich habe mit keinem dieser Leute gesprochen, seit ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie viel sie wissen, was sie denken.«
»Macht es dir etwas aus?«, fragte ich. Ich war ehrlich überrascht. Es fiel mir schwer zu glauben, dass ihr nach allem, was sie durchgemacht hatte, eine kleine Feier unter Nachbarn Angst machen könnte. Elise und Charlie kamen schon auf uns zu. Diesmal trug Elise das Babytragetuch mit Miles darin.
Meine Mutter zuckte die Achseln und strich mit ihren Fingern über den neuen Schal. Es war sogar draußen zu warm für einen Schal oder eine Mütze, aber sie trug beides. »Ich weiß nicht.« Sie sah in die Richtung, wo unser altes Haus lag. »Ich bin immer gern auf diese Party gegangen.«
»Warum?«, fragte ich. Ich wollte nicht sarkastisch klingen. Es interessierte mich wirklich.
Sie lachte und schaute wieder zum Haus. »Ich denke, weil wir es jedes Jahr getan haben. Falls das eine Erklärung ist.«
Das war es. »Dann lass uns jetzt reingehen«, forderte ich sie auf.
Und sobald wir im Haus waren, fühlte sie sich wohl. Alle freuten sich, sie zu sehen - uns alle, aber vor allem meine Mutter. Sie wurde mehrmals umarmt. Man machte ihr Komplimente für ihr Aussehen. Elise, Charlie und ich saßen auf Klappstühlen in einer Ecke, beobachteten sie, aßen Nusskuchen und lächelten Kinder an, die wir nicht kannten. Ein Kassettenrekorder spielte Weihnachtslieder, aber nicht so laut, dass wir die Gespräche um uns herum nicht hätten hören können. Ein paar Leute sagten meiner Mutter, wie leid es ihnen wegen der Scheidung täte, und ich hörte sie sagen: »Oh, danke, aber es ist gar nicht so schlimm.« Und jedes Mal klang ihre Stimme fester. Der schleimige Mr. Shunke versuchte, sie ein bisschen zu lange zu umarmen, aber Nancy Everton, unsere frühere direkte Nachbarin, kam ihr zu Hilfe.
»Oh, Natalie, du hast leider die Piltons verpasst«, sagte sie und reichte meiner Mutter ein Stück Kürbiskuchen, sodass Mr. Shunke sie nicht mehr umarmen konnte. »Die Leute, die euer Haus gekauft haben. Sie sind reizend.« Dabei senkte sie ihre Stimme. »Sie mähen den Rasen nicht so, wie sie sollten, und sie lassen deine Rosen vor die Hunde gehen.« Lauter fügte sie hinzu: »Sehr nette Leute, wirklich. Zwei kleine Jungs, und das nächste Kind ist unterwegs. Kein Wunder, dass sie so früh gehen mussten. Sie war wahrscheinlich müde.«
»Die Glückliche«, erwiderte Elise zerstreut. Miles war aufgewacht und strampelte und quäkte in seinem Tuch. Nach kurzer Beratschlagung mit Charlie beugte sich Elise vor und klopfte mir aufs Knie. »Wir gehen jetzt«, sagte sie. »Wenn du klug bist, kommst du mit. Sie ist in ihrem Element. Wer weiß, wie lange sie noch bleibt?«
Aber ich beschloss, dazubleiben. Es machte mir nichts aus, einfach dazusitzen und Leute zu beobachten, und ich wollte nicht, dass sich meine Mutter genötigt fühlte, ebenfalls aufzubrechen. Sie amüsierte sich offensichtlich sehr gut, trank Wein und lachte mit Nancy Everton. Mir machte die Party auch Spaß. Ich unterhielt mich mit zwei Mädchen, bei denen ich Babysitter gewesen war, als ich noch zur Highschool ging, und die jetzt beide größer waren als ich; ich redete mit Mr. Wansing über seinen neuen Computer und das warme Wetter. Als meine Mutter außer Hörweite war, senkte er seine Stimme und fragte, wie es meinem Vater ginge.
»Grüß ihn von mir«, sagte er und sah mich unter dichten, silbergrauen Augenbrauen aus seinen hellblauen Augen freundlich an. Seine Stimme war klar, sein Blick nicht getrübt. Vielleicht würde er seine Frau noch um weitere zehn Jahre überleben.
»Es hat mir leidgetan, von den ... Problemen in deiner Familie zu hören«, fuhr er fort. Er schien zu zögern, vielleicht, weil er befürchtete, mir wehzutun. Aber er war eindeutig nicht darauf aus, Informationen zu bekommen oder in irgendeiner Weise zu urteilen. Es klang so, als hätte es ihm einfach wirklich leidgetan, davon zu hören. »Ich hatte euch alle immer sehr gern.« Er runzelte die Stirn und schaute in sein Weinglas. »Ich nehme an, so etwas kommt heutzutage oft vor. Aber für dich und deine Schwester muss es traurig sein.«
»Es ist nicht so schlimm«, beruhigte ich ihn und fühlte mich genauso überzeugt, wie meine Mutter geklungen hatte, als sie dasselbe gesagt hatte. Aber in seinen Augen lag echtes Mitgefühl. Ich wollte nicht, dass er glaubte, er wäre zu weit gegangen und hätte etwas zu Persönliches gesagt. Es war nicht zu persönlich. Ich kannte ihn - wir alle kannten ihn -, seit ich ein kleines Mädchen war. Und ich erinnere mich, dass ich nicht wusste, was ich zu ihm sagen sollte, als seine Frau gestorben war, und ich es nicht einmal ertrug, in sein ratloses Gesicht zu sehen. Ich wusste, dass er es gut meinte und dass er uns gernhatte. Aber es war wirklich nicht so schlimm - die Scheidung und alles andere. »Wirklich«, versicherte ich und berührte leicht seinen Arm. »Danke. Eine Weile war es schlimm. Aber ich glaube, jetzt wird langsam alles wieder gut.«
Beim Hinausgehen entschuldigte meine Mutter sich, weil sie so lange geblieben war. »Ich habe Elise und Charlie nicht einmal weggehen sehen«, sagte sie, als sie mit mir zum Van zurückging. Sie klang ein wenig verträumt, und es schien sie zu überraschen, dass es schon dunkel war. Dabei hatte sie nur ein Glas Wein gehabt und das nicht einmal ganz ausgetrunken. Sie war einfach glücklich.
Sie wolle gern fahren, sagte sie. Als sie den Motor anließ, ging das Radio an. Es lief eine Instrumentalversion von Good King Wenceslaus. »He!«, sagte sie und zeigte auf das Armaturenbrett. Ich wusste, was sie meinte. Es war das erste Lied des Programms gewesen, als wir vor ein paar Wochen zum Abendgottesdienst gegangen waren, um Marley spielen zu hören. Eigentlich hatten wir Marley gar nicht gehört - ich jedenfalls nicht. Es gab noch vier weitere Waldhörner im Orchester, und ich hörte aus ihrer Richtung nur den allgemeinen Klang der Hörner, der eigentlich nur den Hintergrund für den Chor bildete. Als mir klarwurde, dass es das ganze Konzert hindurch so bleiben würde, war ich ein bisschen erschüttert. Ich musste daran denken, wie viel Marley geübt hatte, an all die Zeit und Mühe, die sie für ihre Musik opferte. Ich wusste, dass sie gut war - sie war erst im zweiten Jahr, aber sie hatte meiner Mutter erzählt, dass sie bereits das zweite Horn spielte. Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, sie würde mindestens ein Solo spielen. Aber das tat sie nicht. Sie nahm all die Arbeit auf sich und übte so oft, nur um zu etwas Schönem beizutragen, einem Klang, der so umfassend war, dass man sie selbst gar nicht hören konnte. Als es vorbei war, schien sie glücklich zu sein und strahlte das applaudierende Publikum an. Ich weiß nicht, ob sie wusste, dass ich auch da war.
Meine Mutter summte zu der Melodie, als sie losfuhr. Eine Weile trommelte sie rhythmisch auf das Lenkrad, bevor sie die Hand hob, um die Heizung anzudrehen. Als wir uns der Einfahrt in unsere alte Sackgasse näherten, fuhr sie langsamer.
»Geht es in Ordnung, wenn ich kurz hineinfahre? Macht es dir nichts aus, es zu sehen?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie beugte sich über das Lenkrad und spähte schon an mir vorbei. »Wird es dir etwas ausmachen?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht.« Sie betätigte den Blinker, obwohl niemand hinter uns war. »Das werden wir wohl gleich herausfinden.«
Sogar im Dämmerlicht sahen wir die Veränderungen sofort. Mitten im Winter ließ sich unmöglich feststellen, ob die Rosensträucher meiner Mutter tatsächlich kaputt waren. Aber sie hatten die Tür und die Fensterläden rot gestrichen. Neue Bäume, deren dünne Stämme von Seilen gehalten wurden, säumten die Biegung der Einfahrt zur Straße. Ein Irish Setter saß friedlich auf der Veranda. Das Fenster des Zimmers, in dem mein Vater gearbeitet hatte, war mit Superhero-Stickern beklebt. In meinem alten Zimmer brannte Licht.
»Ein seltsames Gefühl«, meinte meine Mutter.
»Ja«, stimmte ich zu. »Das ist es.«
»Aber auch wiederum nicht so seltsam«, sagte sie, jetzt eher zu sich selbst. Ihr Kinn war gereckt, ihr Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie trug immer noch Mütze und Schal. »Ich meine, Leute ziehen nun mal um. Ständig ziehen Leute um.«
Ich wartete darauf, dass sie noch etwas sagte, etwas Trauriges. Aber sie war nur eine Weile ganz ruhig, die Hände aufs Lenkrad gelegt. Als sie wieder sprach, sagte sie: »Hoffentlich ist Miles noch wach, wenn ich dich absetze. Ich komme noch auf einen Sprung mit rein.«
Damit nahm sie ihren Fuß von der Bremse und folgte der Biegung der Gasse zurück zur Straße. Es gab nichts mehr zu sagen. Es war einfach das Haus, in dem wir früher einmal gelebt hatten, und jetzt lebten wir nicht mehr dort.