Kapitel 15

Pamela O'Toole, früher Pamela Butterfield, sei eine nette Gastgeberin, sagte meine Mutter. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, wie viel sie zu tun habe und wie klein ihre Wohnung sei und dass sie Hunde eigentlich nicht möge. Sie selbst versuchte, ein rücksichtsvoller Gast zu sein. Sie kochte, räumte auf und verstaute ihre Sachen in ordentlichen Stapeln hinter der Couch, auf der sie schlief. Die Dusche benutzte sie nur, wenn Pamela auf der Schwesternschule war, und sie nahm jeden Morgen die Bettwäsche von der Couch. Sobald Pamela nach Hause kam, um am Küchentisch zu sitzen und zu lernen, brachte meine Mutter die Schmutzwäsche in den Waschsalon, machte lange Spaziergänge mit Bowzer oder fuhr einfach mit ihm im Van herum. Es war also nicht unbedingt wie in der Fernsehserie Katie & Allie. Die Wohnung war zu klein für sie beide. Aber sie hatten viel Gesprächsstoff: Sie redeten über ihre Exmänner, ihre Töchter und die ehemaligen Nachbarn; sie verglichen den sozialen Abstieg der einen mit dem der anderen, und manchmal lachten sie sogar. Meistens jedoch fühlte sich meine Mutter beengt, gehemmt und irrationalerweise verärgert, weil sie sich so anstrengen musste, um keine Last zu sein. Außerdem hatte sie immer furchtbare Angst, der Hund könnte auf den Boden pinkeln oder etwas Schlimmeres machen. Sie stöhnte, die vier Worte, die sie in dieser Woche bei Pamela am häufigsten sagte, seien »Danke« und »Tut mir leid«.

Es sei ermüdend, dankbar zu sein, stellte sie fest.

Doch bald bekam sie noch mehr Grund, dankbar zu sein. Der Gehaltsscheck, auf den meine Mutter gewartet hatte, reichte nicht für die Kaution und die erste Monatsmiete aus, deshalb bat sie Maxine - eine ihrer Freundinnen im Einkaufszentrum - um Hilfe. Maxine warf ihr vor, dass sie albern sei, was den Hund betreffe. Sie sagte meiner Mutter, dass sie unvernünftig sei und ihre Mittel falsch verwende. Aber sie lieh ihr das Geld. Meine Mutter bedankte sich, ignorierte Maxines Ratschläge, löste den Scheck ein und zog mit Bowzer in ihre neue Wohnung.

Sie rief mich ganz aufgeregt von ihrem neuen Telefon aus an, aber sie lud mich nicht ein, die Winterferien bei ihr zu verbringen. Ich hoffte, der Grund wäre, dass sie eine Weile für sich sein wollte. Aber ich befürchtete, dass sie sich die Lebensmittel nicht leisten konnte.

»Bei deinem Vater hast du mehr Komfort«, argumentierte sie. »Das weißt du. Auf jeden Fall hat er Möbel, nehme ich an.«

Das stimmte. Die Wohnung meines Vaters war voll möbliert, inklusive Bildern in neutralen Farben, die zum Teppich, zu den Vorhängen und den Kissen auf der Ledercouch passten. Weil er so selten zu Hause war, sah alles neu und sauber aus. Auf dem Glastisch im Wohnzimmer war kein Fleck zu sehen. Mein Vater lebte seit fast einem Jahr dort und hatte den Herd genau zweimal benutzt. Das Gästezimmer, das ich mir mit Elise teilen würde, wenn sie Heiligabend kam, besaß einen eigenen Fernseher und ein Doppelbett.

Meine Schwester hatte bereits angerufen, um uns mitzuteilen, dass sie nur Heiligabend und den ersten Weihnachtsfeiertag bleiben könne. Die Arbeit sei der reine Wahnsinn, erklärte sie. Charlie, der für eine noch größere Firma die Steuern machte, könne sich überhaupt nicht frei nehmen. Meine Mutter machte sich Gedanken, weil ihr Schwiegersohn an Weihnachten allein war.

»Das macht ihm nichts aus«, versicherte Elise ihr und später auch mir. Als sie mich anrief, trug sie ihr Headset und machte gerade Einkäufe - um Mitternacht, Westküstenzeit. »Ihr versteht alle nicht, wie viel Zeit wir investieren. Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Die Arbeit nimmt einfach kein Ende.«

Mit »ihr alle« meinte sie natürlich meine Mutter und mich. Mein Vater brauchte keine Belehrung, wie viele Arbeitsstunden eine Anwaltskanzlei von einem neuen Mitarbeiter forderte. Er selbst arbeitete auch immer noch ständig. Die ganze Woche vor Weihnachten ging er ins Büro, noch bevor ich aufwachte, und kam gewöhnlich erst nach Hause, nachdem ich zu Abend gegessen hatte. Aber es schien ihn zu freuen, dass ich da war. Jeden Abend blieb er noch lange, nachdem er angefangen hatte zu gähnen und zu blinzeln, auf, um mir von seinem Tag zu erzählen - von einem Richter, der eingeschlafen war, einem Geschworenen, der verstohlen in der Nase gebohrt hatte.

»Du lachst ja gar nicht«, sagte er.

Ich versuchte zu lachen.

Er schaute mich über den Rand seiner Brille hinweg an. »Alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie bedrückt.«

Ich zuckte die Achseln. Wenn ich ihm erzählte, dass Tim sich von mir getrennt hatte, würde er automatisch für mich Partei ergreifen und auf Tim schimpfen. Andererseits, wenn ich ihm Näheres erzählte - nämlich, dass alles meine Schuld war -, würde er mich wahrscheinlich fragen, was ich in Anbetracht meines Verhaltens denn erwartet hätte? Angesichts der Parallelen zwischen Clyde-vom-dritten-Stock und dem Dachdecker hätte er Tim verteidigen müssen. Ich selbst sah keine Parallelen, aber er hätte welche sehen können.

»Dir ist langweilig, stimmt's?« Er legte einen tiefgekühlten Burrito in die Mikrowelle, stellte die Zeituhr und schaltete das Gerät an, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Ich meine, nicht jetzt, wenn ich da bin. Ich meine tagsüber. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich dich immer allein lasse.«

Ich zuckte wieder die Achseln. Es stimmte, dass meine Möglichkeiten begrenzt waren. Das Auto meines Vaters war den ganzen Tag bei ihm, und es war zu kalt, um irgendwo spazieren zu gehen. Aber eigentlich hatte ich mich schon an meinen Tagesablauf gewöhnt, der so aussah, dass ich die letzten vierhundert Seiten von Middlemarch las und regelmäßig den Kopf hob, um aus dem Fenster zu sehen und zuzuschauen, wie Regen oder Schnee in den winzigen, künstlichen See fiel, nach dem das ganze Viertel meines Vaters benannt war. Ich machte mir Käsetoast. Ich schaute mir im Fernsehen die Nachrichten und Werbesendungen an. Trotzdem blieben mir immer noch mehrere Stunden am Tag für meine Hauptbeschäftigung - im Gästezimmer auf dem Boden zu liegen und mich wegen Tim elend zu fühlen.

Mein Vater schlug vor, mir Unterlagen für die Aufnahmeprüfung in Medizin zu besorgen. »Du hast jetzt viel Freizeit«, sagte er. »Du kannst sie ruhig sinnvoll nutzen.«

Ich erklärte ihm, dass ich eine Pause vom Lernen brauchen würde. Dabei beließ ich es. Über meine Chemienote wollte ich auch nicht mit ihm sprechen, obwohl die Zeugnisse in weniger als einer Woche verschickt werden würden.

Doch die Idee, mich abzulenken, meine Zeit irgendwie sinnvoll zu nutzen, gefiel mir. Ich sagte meiner Mutter, wenn sie Lust hätte, mich abzuholen, könnten wir ins Kino gehen oder ich könnte ihr helfen, sich in ihrer neuen Wohnung einzurichten. Aber sie arbeitete wieder im Einkaufszentrum und machte viele Überstunden, um die verlorene Zeit wieder reinzuholen. Und außerdem, erklärte sie, wolle sie nicht, dass ich ihre Wohnung jetzt schon sah. Sie wolle sie erst ein bisschen aufmöbeln.

An meinem dritten Abend in seiner Wohnung brachte mein Vater eine Eismaschine mit. Wir bauten sie zusammen, lasen die Bedienungsanleitung und gingen in den Supermarkt, um Zutaten zu besorgen. Den Rest des Abends verbrachten wir damit, eine dünnflüssige Masse mit Vanillegeschmack zu fabrizieren, die wir dann wie Suppe schlürften, und uns dabei Law & Order anzuschauen.

»Ich muss demnächst mal wieder trainieren gehen.« Er lehnte sich auf der Couch zurück und blickte in seine leere Schüssel. »Vielleicht morgen Abend.«

Ich nickte und schaute auf den Fernseher, wo gerade Werbung für ein Asthmamittel lief. Der Schauspieler, der den Arzt spielte, sah aus wie Tim. Jeden Tag fielen mir Dinge ein, die ich ihm sagen wollte, aber ich konnte es nicht, weil er nicht anrief. Ich guckte in meine Schüssel mit Eiscreme. Obwohl ich erst die Hälfte davon gegessen hatte, stellte ich sie auf den Fußboden.

Mein Vater beugte sich vor und streckte seine Arme. »Ich werde das Laufband nehmen und den Crosstrainer. Und mit Gewichten arbeiten. Ich fahre einfach nach der Arbeit auf dem Heimweg vorbei. Duschen kann ich dort. Das heißt, dass ich morgen eher spät nach Hause komme.«

Ich nickte wieder. Mein Vater war erst vor Kurzem in einen Fitnessclub eingetreten; normalerweise sei er drei bis vier Mal pro Woche dort, behauptete er. Er hatte schon einiges an Bauchumfang verloren und sah insgesamt gut aus. Es machte den Eindruck, dass er sich mehr Mühe mit seiner Kleidung gab, auch wenn er nicht zur Arbeit ging. Solange ich mich erinnern konnte, hatte er seine Abende in einem alten, weißen T-Shirt und einer blauen Trainingshose verbracht, die meine Mutter verabscheute. Jetzt lief er in der Wohnung in neuen T-Shirts und Khakishorts herum, die aussahen, als ob Tim sie auch tragen würde. Er hatte schicke, gestreifte Schlafanzüge und einen eleganten Bademantel, den er anzog, wenn er aus der Dusche kam.

»Und es macht dir bestimmt nichts aus?« Er bückte sich, um seine und meine Dessertschalen aufzuheben. »Ich möchte an den Feiertagen nicht zu träge werden. Aber du schläfst wahrscheinlich schon, wenn ich zurückkomme.«

»Macht nichts.« Ich starrte weiter auf den Bildschirm. Die Asthmamittelwerbung hatte mich in eine Abwärtsspirale gezogen. Tim würde eine neue Freundin finden, und ich würde sie zusammen auf dem Campus sehen.

»Liebes?« Mein Vater stand auf, beide Schüsseln im Arm.

»Dad. Geh morgen ruhig ins Fitnesscenter.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich finde es toll, dass du so auf dich achtest.«

Er schaute weg. Dann sah er wieder zu mir und biss sich auf die Lippe.

»Ich bin so nervös«, gestand er. »Ich hasse das.«

Als ich ihn ansah, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

»Ich treffe mich mit jemandem.« Er stellte die Dessertschalen ein bisschen zu fest auf den Glastisch. Eine von ihnen kippte um, und Vanillecreme floss auf die Tischplatte. Er fluchte halblaut. »Okay? Es ist heraus. Ich treffe mich mit jemandem. Das ist bestimmt ein komisches Gefühl für dich. Glaub mir, Veronica, für mich ist es auch ein komisches Gefühl, in dein liebes Gesicht zu sehen und dir das zu sagen, aber ich habe eine Freundin. Sie ist ein Teil meines Lebens. Ich habe mich weiterentwickelt. Und sie ist es auch, die ich morgen Abend sehen möchte.«

Ich rührte mich nicht, reagierte nicht. Ich wollte nichts mehr hören, aber wenn er weiterredete, musste ich zuhören. Ich konnte mir ja schlecht die Ohren zuhalten wie ein Kind. Mein Vater schaute mich über den Rand seiner Brille hinweg an und guckte mir in die Augen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon jemals so verunsichert erlebt zu haben.

»Sie ist sehr nett«, fuhr er fort. »Susan O'Dell. Du hast sie vor Jahren in der Kanzlei kennengelernt, auf der Labor-Day-Party, als sie diese riesige Wassermelone mitgebracht hat. Sie konnte sie kaum tragen, weißt du noch? Kastanienbraunes Haar. Schlank. Auf Elises Hochzeit war sie auch.« Er hob abwehrend seine Hände. »Damals lief gar nichts zwischen uns. Sie war bloß eine Kollegin, eine gute Bekannte. Aber wir haben angefangen, uns öfter zu sehen ...«

Ich versuchte, mich an diese Party zu erinnern oder auch nur an den flüchtigen Eindruck einer Frau, die eine Wassermelone getragen hatte. Nichts. Ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu bleiben und meine Lippen nicht einmal ein kleines bisschen zu verziehen.

»Du wirst sie mögen. Sie ist wirklich klug, eine tolle Anwältin. Ihr geht es nicht darum, gut versorgt zu sein, weißt du. Sie hat ihr Leben lang hart gearbeitet.«

Mein Blick verhärtete sich. Ich war mir nicht sicher, ob er nicht einen Vergleich mit meiner Mutter beabsichtigt hatte.

Er trat einen Schritt zurück und strich sich das Haar glatt. »Ich möchte, dass du sie kennenlernst«, sagte er. »Ich möchte, dass sie zum Essen kommt, wenn Elise hier ist. Dann kann sie euch beide kennenlernen. Zack, bumm, erledigt.«

»An Heiligabend?«

Er warf seine Hände in die Luft. »Entweder Heiligabend oder am ersten Weihnachtsfeiertag, Süße. Danach ist Elise wieder weg.« Er hob beide Schalen auf und trug sie zur Anrichte. »Ich versuche nur, sie in euren engen Terminplänen unterzubringen.«

An diesem Abend blieb ich lange auf, obwohl ich weder las noch fernsah. Ich saß in dem dunklen Wohnzimmer, in eine Decke gewickelt, weil sich die Ledercouch kalt anfühlte. Die Zentralheizung sprang surrend an. Mitten auf dem Tisch stand ein Weihnachtsstern, ein Geschenk von der Sekretärin meines Vaters. Meine Mutter würde Heiligabend allein sein, während Elise und ich mit unserem Vater und Susan O'Dell zu Abend essen würden.

Vielleicht würde sich meine Mutter ja gar nicht besonders aufregen, selbst wenn sie von der Freundin meines Vaters erfuhr. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass sie den Abend damit verbringen würde, sich Judy Garland anzuhören und in ihr Kissen zu schluchzen, aber wahrscheinlicher war, dass sie die Zeit nutzen würde, um ihre neue Wohnung herzurichten. Oder um zu lesen, mit Bowzer an ihrer Seite. Wie auch immer, dass Susan O'Dell am Tisch meines Vaters saß, würde nichts an ihrem Abend ändern. Meine Eltern flogen in verschiedene Richtungen. Ihre Flugbahnen berührten einander nicht mehr. Und ich brauchte meine Mutter nicht zu bemitleiden oder ihretwegen wütend zu sein, weil nicht einmal sie selbst noch wütend zu sein schien.

Ich wollte gerade zu Bett gehen, als Tim anrief. Er war im Haus seiner Eltern in Chicago und als Einziger noch wach. Oben war alles voll mit Geschwistern, Schwägerinnen und Schwagern und anderen Verwandten. In seinem Zimmer schliefen zwei seiner Neffen in Schlafsäcken auf dem Boden. Er rief von einer Ecke im Keller aus an, zwischen alten Koffern seiner Eltern und leeren Weihnachtsschmuckkartons, weil es der einzige Platz im Haus war, wo er allein sein konnte. Seine Stimme war unverbindlich, er war kurz angebunden. Er sagte, er habe mir nur frohe Weihnachten wünschen wollen. Das sei alles. Aber ich setzte mich kerzengerade auf und presste das Telefon an mein Ohr. Es war noch nicht Weihnachten, und es war spät in der Nacht.

»Wie geht es deiner Familie?«, fragte ich.

»Gut. Geht so. Mein kleiner Bruder nervt zurzeit ziemlich. Er hat angefangen zu rauchen und macht einen auf James Dean. Eine meiner Schwägerinnen hat sich über ihn lustig gemacht, und da ist er sauer geworden und in die Nacht hinausgestürmt. Meine Mutter hat geweint. Ein Familiendrama.«

»Oh«, sagte ich überrascht. Ich stellte mir Tims Familie gern so vor, als wären sie einem Bild von Norman Rockwell entsprungen - nur dass sie statt Overalls und geblümten Kleidern teure, geschmackvolle Kleidung trugen. Aber natürlich musste es bei so vielen Leuten im Haus gelegentlich auch echte Probleme geben.

»Und wie geht's deiner Familie?«, fragte er.

»Ganz gut.« Die Zentralheizung hatte sich abgeschaltet. In der Wohnung war es jetzt ganz still. »Sie ist nur ein bisschen auseinandergeraten.« Ich seufzte und musste dann doch lachen. Für ein kurzes Gespräch gab es viel zu viel zu sagen. Wenn er mir wirklich nur frohe Weihnachten wünschen wollte, würde er jetzt irgendwann sagen, dass er aufhören müsse.

»Du fehlst mir«, sagte ich.

Eine lange Pause entstand. Keiner von uns sagte etwas. Ich legte nicht auf - und er auch nicht.

Zwei Tage vor Weihnachten lud mich meine Mutter zu sich nach Hause ein. Ihre neue Wohnung war weniger als eine Meile von ihrer alten entfernt und lag ein bisschen näher am Einkaufszentrum. Der ganze Komplex war grün mit weißen Fensterläden und schmiegte sich an einen Abhang. Um in die Wohnung meiner Mutter zu kommen - die der Vermieter als ebenerdig bezeichnete -, musste man erst mal fünf Stufen hinuntergehen. Gleich hinter der Tür befand sich ein großes, mit braunem Teppichboden ausgelegtes Zimmer, das an der Rückwand statt Fenstern Schiebetüren aus Glas hatte. Elises Tagesdecke mit der Lochstickerei hing über der Vorhangstange. Auf der Anrichte stand eine Schale mit Tannenzapfen. Meine Mutter hatte neben der Schiebetür einen Nagel in die Wand geschlagen - ein rudimentärer Haken für Bowzers Leine. »Wenn wir hier rausgehen, muss er sich nicht mit der Treppe abplagen.« Sie starrte durch die Glastür auf den kleinen, vereisten Garten und die Kiefern dahinter, die den Lärm von der Autobahn dämpften. »Wirklich, es ist perfekt«, versicherte sie.

Sie hatte bis auf die Lampe meiner Großmutter und eine Doppelbettmatratze, die sie bei einem Trödler gefunden hatte, immer noch keine Möbel. Haylies Mutter hatte ihr geholfen, die Matratze in den Van zu stopfen und dann die Stufen hinunter ins Apartment und schließlich um die Ecke herum in das kleine, quadratische Schlafzimmer hinter dem Wohnraum zu tragen. Die Beleuchtung in ihrem Schlafzimmer kam von einer Deckenlampe aus Milchglas, von der meine Mutter behauptete, sie sei zur Hälfte voller toter Fliegen gewesen, als sie eingezogen war. »Ekelhaft«, sagte sie und zeigte auf den Lampenschirm, der jetzt sauber und klar war. »Nachdem ich sie abgenommen und saubergemacht hatte, war es hier drinnen gleich viel heller.« Sie verzog das Gesicht und schauderte. »Ich frage mich, wer früher hier gewohnt hat. Ich meine, wer lässt es zu, dass sich so viele toten Fliegen ansammeln?«

Ich sagte nichts. Angeblich hatte sie tagelang geputzt und die Wohnung in Ordnung gebracht. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es hier vorher ausgesehen hatte. Vielleicht waren die Fliegen Haustiere gewesen, dachte ich. Vielleicht waren sie damals noch gar nicht tot, sondern ältere Fliegen, von denen sich der vorige Mieter einfach nicht trennen konnte. Warum sonst hätte jemand hier leben sollen? Bowzer schlief auf der Matratze, die meine Mutter ordentlich hergerichtet hatte, den überhängenden Stoff der Tagesdecke auf dem Teppich aufgefächert. Ich bückte mich und kraulte die Stelle zwischen seinen Ohren. Seine Lider flatterten, aber das war alles. Er war auch nicht aufgestanden, als ich in die Wohnung gekommen war.

»Was meinst du?«, fragte sie.

An ihrer Stimme merkte ich, dass sie nicht von der Wohnung sprach. Ich ließ meine Hand auf Bowzers Kopf liegen und hob die Schultern. Sie hatte schon so viel für ihn getan, indem sie in diese dunkle, feuchte Bude zog, in der es nach Katzenpisse roch. Ich wusste nicht, was für einen Mietvertrag sie unterschrieben hatte, aber ich dachte mir, da sie nun schon einmal hier war, konnte sie den Hund genauso gut behalten.

»Er liegt seit zwei Tagen nur noch so da«, seufzte sie und strich ihr Haar zurück. Sie war für die Arbeit im Einkaufszentrum gekleidet und trug eine schicke, schwarze Hose und einen schwarzen Pulli. Ihre Ohrringe sahen wie kleine Zuckerstangen aus. »Ich habe gestern den Tierarzt angerufen. Er hat gesagt, ich soll Bowzer noch mal zu ihm bringen, damit wir über alles reden können. Andere Medikamente vielleicht.« Ihre Knie knacksten, als sie sich auf den Boden kauerte. »Ich weiß nicht. Er isst noch, aber heute Morgen musste ich ihn nach Hause tragen. Letzte Woche war er noch nicht so schlecht dran.«

Ich strich mit meiner Hand über das weiche Rückenfell des Hundes. Sein Atem ging flach und schnell. Ich wusste nicht, was meine Mutter tun würde, wenn er starb, wie sie es verkraften würde. Wegen einer seltsamen Bindung an ihn oder das, was er repräsentierte, hatte sie so viel aufgegeben. Und jetzt würde er sie verlassen. Es war nicht fair. An dem Abend, als Tim angerufen hatte, hatten wir fast eine Stunde lang telefoniert, ernste Gespräche geführt und dann Witze gemacht. Seit damals trug ich in meinem Inneren ein gutes Gefühl - wie ein Schmuckstück, das in einer Tasche versteckt war. Ich hatte noch Perspektiven. Aber was hatte meine Mutter? Einen sterbenden Hund in einer deprimierenden Wohnung. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Ich will nicht, dass er leidet.« Ihr Blick ruhte immer noch auf Bowzer. »Der Tierarzt hat gesagt, dass seine Praxis am Tag nach Weihnachten geöffnet hat. Dann bringe ich ihn hin.«

»Ich komme mit«, bot ich an. »Falls du es willst. Wenn du ihn hinbringst, meine ich.« Ich machte eine vage Handbewegung. »Egal, wann.«

Sie fuhr mich zu meinem Vater zurück, bevor es dunkel wurde. Während sie den Van langsam durch die leicht vereisten Straßen lenkte, war sie ein bisschen zerstreut. Sie fragte mich, ob ich mein Zeugnis schon bekommen hätte.

»Nein«, erwiderte ich.

Sie fragte, wann ich die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium machen würde.

»Gar nicht«, antwortete ich.

Zuerst dachte sie, das wäre ein Scherz. Doch als sie dann begriff, dass ich es ernst meinte, dass ich in Organischer Chemie wirklich durchgefallen war und dass ich beschlossen hatte, als neues Hauptfach Englische Literatur zu nehmen, schwieg sie und schaute auf die Straße. Ihre Lippen waren nach innen gerollt und nicht zu sehen. Wir bogen auf die Autobahn. Als wir schneller fuhren, fiel Schnee vom Dach und rutschte die Windschutzscheibe hinunter.

»Hast du gar nichts dazu zu sagen?«

Beinahe hätte sie gelacht, obwohl sie nicht sehr glücklich aussah. »Ich will nicht das Falsche sagen.« Sie warf mir einen Blick zu. »Hast du schon mal an Krankenpflege gedacht? Pamela - Haylies Mom, du weißt schon - also, sie macht jetzt eine Ausbildung zur Krankenschwester. Dafür braucht man keine Aufnahmeprüfung. Und sie wird gut verdienen. Sie sagt, dass es jede Menge Jobs gibt.«

»Ich will nichts mit Medizin machen«, erwiderte ich. »Ich mag dieses Fach nicht. Ich will etwas machen, das ich gern tue.«

Sie sah gleichzeitig bekümmert und leicht amüsiert aus, so, als ob sie gern etwas sagen würde. Wir bogen um eine scharfe Kurve, und sie legte einen Arm um meine Schultern, als würde sie verhindern wollen, dass ich nach vorne flog, obwohl ich meinen Sicherheitsgurt angelegt hatte und keine Unfallgefahr bestand.

»Entschuldigung«, sagte sie und legte wieder beide Hände aufs Lenkrad. »Liebes, bist du dir da auch wirklich sicher?«

Ich nickte, obwohl ich mir überhaupt nicht sicher war. Ich wollte, dass sie mir Mut machte, mir sagte, dass ich das Richtige täte und es vor allem darauf ankomme, dass ich glücklich werden würde. Aber sie sagte nichts von alldem, sondern starrte nur auf das Armaturenbrett. Die Motorkontrollleuchte leuchtete.

»Was hat das zu bedeuten?«

Sie seufzte und bog ab. »Das werde ich wahrscheinlich herausfinden, wenn ich den Wagen in die Werkstatt bringe.« Danach war sie wieder still.

Vorsichtig fuhr sie in die Einfahrt meines Vaters. Falls es sie überhaupt interessierte, ob er zu Hause war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie sagte, dass sie mich am nächsten Morgen um halb zehn abholen würde. Elises Flugzeug landete um elf. Sie kannte ein indisches Restaurant, das an Heiligabend geöffnet hatte. Dort wollte sie mit uns beiden zu Mittag essen.

»Ich mag indisches Essen nicht«, erwiderte ich. Eine Lüge. Ich wollte nicht, dass sie Geld ausgab, um uns zum Essen auszuführen. Vielleicht dachte sie, sie sei dazu verpflichtet. »Ich kann doch etwas kochen«, bot ich an. »Lasagne? Ich kann mir Dads Auto leihen und heute Abend einkaufen gehen.« Es klang so, als wäre es selbstverständlich, dass er mir seinen Wagen überließ. »Ich koche uns etwas Gutes. Wir können bei dir essen, so eine Art Picknick.«

Sie schüttelte den Kopf. »Auch andere Restaurants sind geöffnet«, sagte sie. »Es muss kein indisches sein.«

Ich spielte die Beleidigte. »Willst du damit sagen, dass ich eine schlechte Köchin bin? Willst du damit sagen, dass du es mir nicht zutraust?«

In die benachbarte Einfahrt bog ein Wagen, ein Mann und eine Frau in einem schicken, kleinen Auto. Sie fuhren in die Garage, ohne zu uns zu schauen. Die Garagentür schloss sich und verschluckte die beiden.

Meine Mutter sah mir direkt ins Gesicht. »Veronica. Es geht nicht um deine Lasagne. Sagen wir einfach, dass Elise und ich uns im Moment an ganz unterschiedlichen Orten befinden.« Sie runzelte die Stirn. »Das verstehst du doch sicher?«

Ich schüttelte den Kopf. Es war das »im Moment«, das mich verwirrte. Elise und meine Mutter waren nie wirklich am selben Ort gewesen, nicht einmal, als sie noch im selben Haus gewohnt hatten.

Meine Mutter seufzte. »Deine Schwester muss meine Wohnung nicht unbedingt sehen. Ich werde nicht lange dort bleiben.« Sie lächelte und entriegelte die Türsicherung. »Morgen wollen wir Spaß haben. Wir gehen aus.«

***

Bevor sie mich am nächsten Morgen abholte, hatte sie den Van gereinigt. Sie hatte sich nicht damit begnügt, sämtliche Kartons, Decken und anderen Kleinigkeiten aus dem Kofferraum zu holen, sondern war in eine Waschanlage gefahren und hatte Münzen für den Staubsauger eingeworfen. Ich denke, sie wird der einzige Mensch dort gewesen sein. Es schneite auf die Sitze; alle Türen standen offen und ließen die Kälte herein. Aber nachher sah der Van gut aus: Auf den Bodenmatten rollte kein Trockenfutter mehr herum. Plastikverpackungen, Hundehaare und benutzte Wischtücher waren aus allen Ecken und Winkeln entfernt worden. Eine Duftscheibe, die nach Flieder roch, baumelte am Rückspiegel.

Bowzer hatte sie nicht mitgenommen. Sie habe darüber nachgedacht, sagte sie, sich aber dann dagegen entschieden. Wir könnten ihn nicht ins Lokal mitnehmen, und im Wagen sei es zu kalt. Zu Hause habe er es besser. Er habe es nicht einmal gemerkt, als sie ging.

Kurz bevor wir am Flughafen ankamen, nahm sie die Duftscheibe ab und legte sie unter ihren Sitz. Sie merkte, dass ich sie anschaute.

»Das Ding sieht ein bisschen billig aus«, erklärte sie.

Elise stieg in Jeans, einem weiten Hemd und Flipflops aus dem Flugzeug. In ihrem hellbraunen Haar waren goldene Strähnchen, und sie hatte es zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine Tasche trug sie nicht, nur mehrere Aktenordner. Sie fing an zu gähnen, aber als sie uns sah, lächelte sie. Meine Mutter und ich waren gleichzeitig bei ihr. Als ich sie umarmte, klemmte sie sich ihre Ordner unter einen Arm und kitzelte mich. Das machte sie so lange, bis ich lachte und kreischte.

»Mädchen«, sagte meine Mutter. »Mädchen!« Aber sie lachte auch ein bisschen. Als sie Elises nackte Zehen sah, stutzte sie.

»Liebling«, sagte sie. »Es schneit!«

»Keine Angst, ich habe Stiefel mitgebracht.« Sogar in Flipflops war Elise größer als wir. »Und einen Mantel. Wisst ihr noch, wie mein Koffer aussieht? Er ist silbern. Könnt ihr am Gepäckband darauf warten? Ich muss aufs Klo. Dringend!« Sie drückte mir die Aktenordner in die Hand. »Hier«, sagte sie. »Halt das mal.«

Meine Mutter und ich beobachteten, wie ihre Flipflops über den Boden schlappten, als sie zu den Toiletten lief.

»Sie sieht gut aus«, sagte meine Mutter leise. Ich wusste, was sie meinte. Elise war von Natur aus groß und dünn, aber wenn sie unter Stress stand, konnte sie so viel abnehmen, dass ihr Kopf zu groß für ihren Körper zu sein schien und ihr Gesicht hager wurde und jede Farbe verlor. Dieser Zustand hielt nie lange an, aber meine Mutter hatte sich deshalb fünfzehn Jahre lang Sorgen gemacht. So, wie meine Schwester ihr Leben in Kalifornien beschrieben hatte, hatten wir wohl beide erwartet, dass sie viel zu dünn sein würde. Aber sie sah wirklich gut aus. Als sie mit schwingenden Hüften im Waschraum verschwand, sah sie gesund aus, sogar kurvig.

»Was hast du für sie besorgt?«

»Zu Weihnachten?« Ich drehte mich auf den Zehenspitzen um und hielt nach dem Gepäckband Ausschau. »Einen Kerzenständer.« Das war gelogen. Ich hatte schon meine »Mathe ist schwer«-Barbie für Elise als Geschenk eingepackt. Als ich ihr ein Jahr zuvor von der Puppe erzählt hatte, wollte sie auch eine haben, aber sie konnte bei eBay keine finden. Ich wollte nicht mit meiner Mutter darüber reden und wieder erklären - weder die Puppe noch warum Elise sie gern gehabt hätte und ich sie nicht mehr haben wollte. Es schien das perfekte Geschenk zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil es nichts kostete und ich kein Geld hatte.

»Was hast du für sie?«, fragte ich.

»Ohrringe.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist. Ich weiß nie, was ihr gefällt.«

Als wir den Flughafen verließen, trug Elise einen grauen Wollmantel über einem Rollkragenpullover und einer schwarzen Hose, die unerklärlicherweise nicht zerknittert waren. Sie öffnete die Seitentür des Vans, um ihre Sachen hineinzustellen. »Warum riecht es hier drin nach billigem Parfum?« Sie wedelte mit einer behandschuhten Hand vor ihrem Gesicht herum. »Oh mein Gott. Flieder? Eher Chemie. Igitt!«

Wir fuhren mit offenen Fenstern, sodass Schnee hereinwehte. Elise saß auf dem Beifahrersitz. Sie erzählte von ihrem lästigen Sitznachbarn im Flugzeug, einem Mann, der nichts mitgenommen hatte, um sich während des Fluges zu beschäftigen. Anscheinend war er der Meinung gewesen, dass Elise verpflichtet sei, sich mit ihm zu unterhalten, und er hatte ständig versucht, ihr von den Tücken in seinem Job als Vertreter für Autoersatzteile zu erzählen, obwohl nicht zu übersehen gewesen war, dass sie gern gelesen hätte.

»Er wollte mich nicht anbaggern«, sagte Elise. »Gleich zweimal erwähnte er seine Frau. Er schien einfach zu glauben, dass ich für ihn da zu sein hätte. Vielleicht hätte ich ihm Buntstifte oder Klebebildchen besorgen sollen. Nach einer Weile habe ich ihm das Bordmagazin gegeben. Ich fand das ziemlich deutlich, aber er quasselte trotzdem einfach weiter und stellte mir ständig Fragen. Also habe ich gesagt: ›Entschuldigen Sie, ich kann mich nicht mit Ihnen unterhalten. Ich muss diese Fälle bis Dienstag vorbereitend Doch dann wollte er meinen Rat als Anwältin! Irgendein Besitzrechtsstreit mit seinem Cousin. Er fing an, mir davon zu erzählen. Im Ernst. Die ganze Zeit hatte ich meine Brille auf und den Kopf nach vorne gebeugt. Es war nicht zu übersehen, dass ich lesen wollte.« Sie schlug sich mit beiden Händen gegen die Stirn, genau wie mein Vater es getan hätte. »Schließlich habe ich zu ihm gesagt: ›Verzeihung, Sir. Ich muss arbeiten. Es tut mir leid, dass Ihnen langweilig ist. Aber das ist nicht mein Problem. Sprechen Sie bitte nicht mehr mit mir.‹ Ich glaube, ich habe ihn gekränkt. Er hat den Rest des Fluges geschmollt.«

Ich saß auf dem Rücksitz, hörte zu und fragte mich, was ich getan hätte, wenn ich im Flugzeug und Opfer dieses geschwätzigen Mannes gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ich mich geärgert, aber er hätte mir auch leidgetan. Deshalb hätte ich mich mit ihm unterhalten und mich noch mehr geärgert - vor allem über mich selbst. Es gab vieles, was man an Elise bewundern konnte, wie ihren Mut und ihre Offenheit. Diese und andere Eigenschaften hatte ich mein Leben lang an ihr bewundert. Es war ein tröstlicher Gedanke, dass sie eine schlechte Wohnheimberaterin gewesen wäre, dass sie viel früher als ich die Geduld mit Marley verloren hätte. Aber eigentlich war ich mir gar nicht so sicher, ob das stimmte. Es war nicht Elises Job gewesen, sich mit dem Mann im Flugzeug zu unterhalten. Das hatte sie unmissverständlich klargemacht. Doch wenn es ihr Job gewesen wäre, hätte sie sich selbst übertroffen: Sie hätte ihn besser gemacht als jeder andere.

»So was passiert mir dauernd«, sagte meine Mutter. »Vor allem in Wartezimmern gerate ich immer an geschwätzige Leute, wenn ich eigentlich ein Buch lesen will. Aber ich bringe nie den Mut auf, klipp und klar meine Meinung zu sagen.«

Sie fuhr auf den Parkplatz einer Pizzeria und erklärte, dass an Heiligabend nicht viele Lokale geöffnet seien und ich keine Lust auf indisches Essen gehabt hätte. Als wir da waren, stieg sie auf der einen Seite aus, Elise und ich auf der anderen. In den wenigen Sekunden, die wir getrennt waren, hängte sich Elise bei mir ein und hielt ihren Mund an mein Ohr.

»Wie geht es ihr?«

Wir gingen los. Durch die Seitenfenster des Vans konnte ich den Kopf meiner Mutter sehen. Sie ging hinter dem Auto vorbei und kam auf uns zu. Ein paar Schritte nur noch, und wir wären wieder zusammen.

»Gut«, antwortete ich. »Es geht ihr ganz gut.«

Mit Elise Pizza zu bestellen war immer mit Verhandlungen verbunden. Die Regeln waren seit fast zwanzig Jahren festgelegt. Wir könnten Peperoni nehmen, wenn ich bereit wäre, grüne Paprika wegzulassen. Sie würde auf Oliven verzichten, wenn meine Mutter Ananas erlaubte. Sie wollte nur Pizzabrot, wenn es welches mit Käse gäbe. Als wir uns endlich einig waren, gab sie die endgültige Bestellung auf, legte alle unsere Speisekarten aufeinander und reichte sie der Kellnerin. Meine Mutter starrte auf die Tischkante und lächelte schief.

Ich schaute Elise an. »Kein Kaffee?«

Sie schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Wasser.

»Normalerweise bestellst du sofort einen. Du bist koffeinabhängig.«

»Ich beginne ein neues Kapitel.« Sie stieß unter dem Tisch gegen mein Knie. »Und wie läuft's auf dem College? Lassen sie euch schon an Leichen herumschnippeln?«

Meine Mutter runzelte die Stirn. »Elise. Wir wollen gleich essen.«

Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie war nicht etwa zimperlich, sondern hatte mir eine Auszeit verschafft.

Elise schnalzte mit der Zunge. »Wenn sie Ärztin werden will, sollte es ihr nichts ausmachen.« Aber jetzt sah sie meine Mutter an. »Dein Haar ist anders.«

Meine Mutter legte eine Hand an ihren Kopf. »Ich habe es vernachlässigt, ich weiß.«

Das stimmte. Mir war es vorher nicht aufgefallen, aber jetzt konnte ich sogar im gedämpften Licht der Pizzeria eine deutliche horizontale Linie in ihrem Haar sehen, fast auf einer Höhe mit ihren Ohren. Unter dieser Linie war ihr Haar ganz dunkel, genauso wie meins. Doch über der Linie zeigten sich dichte, graue Strähnen.

Elise nickte, sagte aber nichts weiter dazu. »Wie geht's dir im Einkaufszentrum? Gefällt es dir? Macht es Spaß?«

Meine Mutter nickte, nahm einen Schluck Wasser und lächelte. »Es geht«, antwortete sie. In der Mitte des Tisches standen eine flackernde Kerze in einem kleinen, roten Leuchter und eine Plastikkarte mit einer Liste der Spezialitäten der Woche. Die Liste war auf der einen Seite grün, auf der anderen rot und steckte ein bisschen schief in der Hülle. Meine Mutter nahm sie und studierte sie.

»Wie ist deine neue Wohnung? Wo ist sie?«

Meine Mutter schwenkte eine Hand, als wollte sie Rauch wegwedeln. »Es ist eine Wohnung. Darüber gibt es nicht viel zu sagen. Ich möchte lieber hören, wie es dir geht, Schatz.« Sie lehnte sich vor und streichelte Elises Hand. Der Diamant an Elises Ring funkelte hell im matten Kerzenlicht.

Am Nebentisch sangen ein Mann und eine Frau für ein kleines Mädchen »Happy Birthday«. Wir schauten alle hin und lächelten.

Elise beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Du möchtest wirklich wissen, wie es mir geht?«

Ich lehnte mich zurück und wartete. Fast ein Jahr lang hatte Elise uns ständig erzählt, wie viel sie zu tun hatte: zu viel, um zu Besuch nach Hause zu kommen; sogar zu viel, um länger zu telefonieren. Aber jetzt war sie endlich in Fleisch und Blut da, und obwohl sie meine Mutter und mich oft daran erinnerte, dass wir unmöglich begreifen könnten, wie viel sie arbeitete, dass wir wirklich keine Ahnung hätten, erwartete ich, dass sie uns jetzt alles darüber erzählen würde. Es würde witzige Imitationen eines anspruchsvollen Chefs oder vielleicht eines hilfsbedürftigen Klienten geben. Sie hatte die kleinen, blauen Augen meines Vaters, und jetzt verdunkelten sie sich genau wie bei ihm, wenn er sich darauf vorbereitete, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln.

»Hm. Wie es mir geht?« Sie lehnte sich zurück, streckte ihre blassen Arme aus und ließ ihren Blick über unsere Köpfe wandern. »Ziemlich gut, würde ich sagen.« Sie lächelte erst mich, dann meine Mutter an. »Ich bin schwanger.«

Meine Mutter stieß ihr Wasserglas um. »Oh!«, sagte sie und zuckte leicht zusammen. »Oh! Damit habe ich nicht im Geringsten gerechnet!« Als sie aufstand, um Elise zu umarmen, fiel ihr Besteck, das in eine Papierserviette gewickelt war, auf den Boden.

Elises Lippen formten über den Schultern meiner Mutter ein stummes Hilf mir!, obwohl sie die Aufregung sichtlich genoss.

»Halt mich?«, fragte ich und stand auf. »Du hast gesagt, dass ich dich halten soll?«

Als die Kellnerin mit der Pizza kam, scheuchte Elise uns beide weg.

»Schon gut, ihr zwei. Setzt euch! Entschuldigung. Ja, es ist ganz toll, bla bla bla, okay. Ich will jetzt essen.« Sie bedankte sich bei der Kellnerin und griff zwischen uns, um sich ein Stück Pizza zu nehmen. »Was es auch ist, Junge oder Mädchen, es hat ständig Hunger.«

Ich versuchte, nicht hinzustarren. Ihr Bauch, falls sie schon einen hatte, war hinter dem Tisch verborgen. Ein Junge oder ein Mädchen. Ein Neffe oder eine Nichte. Ich würde Tante Veronica sein. Ich wischte mit meiner Serviette das verschüttete Wasser auf. »Lässt du dir verraten, was es wird?«

Weil sie gerade kaute, hob sie einen Finger hoch und hielt sich ihre Hand vor den Mund. »Bald. In einem Monat. Ich bin im Juni so weit.«

»Gut, dass du Appetit hast«, sagte meine Mutter mit leisem Zweifel in der Stimme. Ihr Gesicht war immer noch gerötet vor Aufregung. »Bei euch beiden war mir die ganze Zeit schlecht. Sogar im zweiten Abschnitt der Schwangerschaft.« Sie schaute die Pizza an und zog die Nase kraus. »Allein der Geruch hätte schon gereicht.«

»So ist es mir bis vor einem Monat auch gegangen.« Elise lehnte sich zurück und legte eine Hand auf ihren Bauch, und so, wie sie das tat, sah sie schwanger aus. Ich konnte keine Rundung oder Wölbung erkennen, aber es sah einfach wie die Geste einer Schwangeren aus. »Zwei Monate lang habe ich mich gefühlt, als wäre ich auf einem Boot«, sagte sie. »Auf und ab. Auf und ab.« Sie kniff die Augen zusammen. »Sogar beim Schlafen ging es auf und ab. Ich musste Papiertüten ins Auto legen, in meinen Schreibtisch und eine in meine Aktentasche.«

Während ich aß, hörte ich zu, wie sie über Gelüste auf ausgefallene Speisen und Müdigkeit redeten. Elise hatte in ihrem Büro Nickerchen gemacht, unter ihrem Schreibtisch. Meine Mutter erzählte, dass sie dasselbe gemacht habe, als sie noch Lehrerin war, wenn ihre Schüler beim Lunch waren.

»Ingwer hilft«, riet sie. »Nicht gegen die Müdigkeit, aber er ist gut für den Magen. Ich weiß noch, dass ich damals kandierte Ingwerstäbchen gelutscht habe.«

Mein Blick ruhte auf der Kerze in dem kleinen, roten Halter, und ihre Worte flogen über meinen Kopf hinweg. Das war neu. Meine Mutter und Elise waren normalerweise befangen, wenn sie zusammen waren, zögernd, wie zwei Fremde auf einer Party, die um jeden Preis Konversation betreiben wollen, sich aber nicht besonders viel zu sagen haben. Doch nun hatten sie etwas gemeinsam. Schon jetzt konnte ich eine Verlagerung der Schenkel unseres alten Dreiecks beobachten.

»Hast du einen guten Gynäkologen?«, fragte meine Mutter. »Du solltest dich umhören, Elise. Das ist wichtig.«

»Hm.« Sie nahm einen großen Schluck Wasser. »Na ja. Wir dachten, wir warten und suchen hier einen.« Sie zwinkerte uns beiden zu. »Wir ziehen nämlich im Frühjahr nach Kansas City zurück.«

Bombe Nummer zwei war geplatzt. Meine Mutter sah aus, als sei sie zu glücklich, um Luft zu holen. Es war wie bei einer Gameshow, wo die Preise immer höher und höher wurden, bis die Teilnehmer ausrasteten. Meine Mutter hatte gerade ein Enkelkind und zwei Töchter, die in ihrer Nähe lebten, gewonnen. Ich war auch ziemlich glücklich. Vielleicht würde sich alles nicht mehr so kaputt und so traurig anfühlen, wenn Elise wieder hier war.

Meine Schwester nahm sich noch ein Stück Pizza. »Charlie hat ein tolles Angebot bekommen, und er wusste, wie sehr ich mir gewünscht habe, wieder hierherzukommen. Sie wollen ihn sofort, er fängt im Februar an.« Sie verdrehte die Augen. »Ich bin diejenige, die in San Diego bleiben und unser ganzes Zeug zusammenpacken muss.«

»Ach herrje.« Meine Mutter machte ein bestürztes Gesicht. »Das ist viel Arbeit, wenn man schwanger ist.« Sie schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Und wie ich dich kenne, wirst du bis zum letzten Moment arbeiten.«

Wir schwiegen eine Weile. Die Geburtstagsfamilie war aufgestanden und gegangen, und die meisten Tische waren leer. Die Neon-Jukebox in der Ecke spielte Crimson and Clover. Wir kauten, schluckten und lächelten alle immer noch, vermieden es aber, einander in die Augen zu sehen. Ich wusste, dass eine Frage in der Luft hing. Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund.

»Und du bekommst hier auch einen Job?«, fragte ich. Ich tat so, als wäre ich fasziniert von einem Käsefaden, der seitlich von meiner Pizza herabhing. Ein Teil dessen, was Elise so einschüchternd wirken ließ, war die Art, wie sie einen mit ihrem Blick fixieren konnte, sodass mir jede Frage, die ich stellte, dumm vorkam. »Nachdem das Baby da ist, meine ich.«

»Nein.« Sie zupfte etwas von ihrer Schulter. Ihre Fingernägel waren manikürt und farblos lackiert. »Ich werde eine Weile bei Junior zu Hause bleiben. Oder Juniorette.«

»Wie lang ist eine Weile?«

Elise lachte leise, als hätte meine Mutter sie gefragt, wie das Wetter in Australien sei oder wie viele Sekunden ein Jahr habe. »Keine Ahnung. Bis zur ersten Klasse?«

Meine Mutter legte ihre Pizza hin. »Das kann nicht dein Ernst sein, Schatz.«

Elise hörte auf zu kauen. Sie durchbohrte meine Mutter mit ihrem Blick - dem langen, unverwandten Blick, der jedem Gegner sagte: Gleich wirst du mit Haut und Haaren verschlungen.

»Ist das ein Problem für dich?«

»Möchte jemand Parmesan?« Ich hielt die Dose hoch. Wir kannten alle den alten Witz meines Vaters: Der ist gratis. Lernt es, ihn zu mögen!

»Elise, du liebst deinen Beruf.«

Elise zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Zurzeit? Nicht besonders. Weißt du, wie es sich anfühlt? Erinnerst du dich, wie gern ich geschmolzene Marshmallows mit Rice Krispies mochte, als ich klein war? Wie oft ich dich angebettelt habe, welche zu machen? Und dann war Veronica eines Tages krank und du bist nach oben gegangen, um dich zu ihr zu legen, und ich bin in der Küche geblieben und habe eine Riesenportion von dem klebrigen Zeug gemacht und alles direkt aus der Schüssel gefuttert, bevor du wieder nach unten gekommen bist. Kannst du dich daran erinnern?«

»Ich kann mich erinnern«, erwiderte ich, den Parmesan immer noch in der Hand. Elise hatte sich den Rest des Tages übergeben und mir und meiner Krankheit total die Show gestohlen.

»Tja, das hat mich kuriert. Seit damals esse ich keine Rice Krispies mehr. Es ist fast zwanzig Jahre her, und ich kann sie nicht einmal mehr sehen. So ähnlich geht es mir momentan mit meiner Arbeit. Es war in letzter Zeit ein bisschen zu viel, und ehrlich gesagt, eine kurze Unterbrechung wird mir guttun.«

»Fünf Jahre sind keine kurze Unterbrechung.« Meine Mutter sprach mit einem gefrorenen Lächeln. »Könntest du nicht ein bisschen früher wieder einsteigen? Teilzeit?«

Ich kaute langsamer. Die Pizza fühlte sich in meinem Mund schwer und trocken an. Es nervte mich, wie der sorgenvolle Blick meiner Mutter zwischen Elise und mir hin- und herwanderte. Ich fand, dass der Vergleich nicht fair war. Ich wechselte nur mein Hauptfach. Das, was Elise vorhatte, war wesentlich drastischer.

Elise schüttelte den Kopf. »Weißt du, was Teilzeit in einer Anwaltskanzlei bedeutet, Mom? Circa fünfzig Stunden die Woche. Eigentlich würde ich mein Kind ganz gern kennen. Und wir können es uns leisten. Die Lebenshaltungskosten sind hier viel niedriger.« Sie legte den Kopf zur Seite und sah meine Mutter ruhig an. »Gibt es einen Grund, warum du willst, dass ich arbeite? Ist irgendwas los mit dir?«

Meine Mutter senkte den Blick. »Ich bin nur ein bisschen überrascht«, antwortete sie.

»Ich verstehe nicht, warum.« Elise nahm noch einen Bissen Pizza und wischte sich dann mit der Serviette diskret den Mund ab. »Ich habe immer hundert Prozent gegeben, egal, was ich gemacht habe. Ich verstehe nicht, warum es dieses Mal anders sein sollte.« Sie schaute aus dem Fenster auf die dicken Schneeflocken, die langsam herabfielen und über den Boden wirbelten. An ihrem gelassenen Gesichtsausdruck merkte man, dass die Angelegenheit damit für sie erledigt war.

Meine Mutter beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Es geht um das Geld«, erklärte sie.

Aus der Jukebox ertönte Jingle Bell Rock.

»Geld ist kein Problem«, wiederholte Elise. »Das habe ich dir gerade gesagt.«

»Dein Geld. Du brauchst dein eigenes Geld.«

Elise setzte sich kerzengerade auf. »Unsere Ehe ist total in Ordnung. Ich bin nicht du. Charlie ist nicht Dad.« Sie biss in ihre Pizza. Meine Mutter aß immer noch nicht. Aber Elise hatte - wie mein Vater - kein Problem damit, gleichzeitig zu essen und zu diskutieren. Für sie war Diskutieren wie Atmen.

»Du weißt nicht, was die Zukunft bringt.« Die Stimme meiner Mutter war nicht laut, aber ihr Ton war so entschieden, so fest, dass sich an einem der anderen Tische jemand umdrehte. Sie richtete ihren Blick auf Elise. »Du solltest weiterhin arbeiten. Wenigstens Teilzeit.«

Elise tat die Worte mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Du hast nie als Anwältin gearbeitet. Du weißt nicht, wovon du sprichst.«

»Und du hast keine Scheidung hinter dir. Du weißt nicht, wie das läuft, Elise.«

Elise hörte auf zu kauen und legte ihr Stück Pizza auf den Teller. Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab und schaute weg.

»Liebes, ich versuche doch nur ...«

»Du verwechselst mich mit dir«, behauptete Elise. Sie sah wieder meine Mutter an. »Ich bin es, die unser Geld anlegt. Mein Name steht auf jedem Dokument. Ich führe unsere Konten. Es ist eine Partnerschaft. Eine gleichberechtigte Partnerschaft. Und so wird es auch noch sein, wenn ich zu Hause bleibe.«

Meine Mutter legte die Hände über ihre Augen. Nach einer Weile warf Elise mir einen besorgten Blick zu. Ich schaute weg. Seit sie mich zum letzten Mal aus Kalifornien angerufen hatte, war eine Menge passiert. Es gab vieles, von dem sie nichts wusste. Ich glaubte nicht, dass unsere Mutter verrückt war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie im Unrecht war.

Elise, deren Gesichtsausdruck jetzt milder war, fasste über den Tisch und drückte ihren Arm. »Du bist so eine Heuchlerin«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Ich möchte einfach eine genauso gute Mutter sein wie du. Und du warst toll, Mom. Erzähl mir nicht, dass du es bereust.«

Ich beugte mich vor, schüttelte den Kopf und versuchte, Elises Blick einzufangen. Sie glaubte, dass sie etwas Nettes sagte, weil sie nicht wusste, wie schlimm die Dinge standen. Sie hatte nicht die gesamte Habe unserer Mutter in dem Van gesehen.

Meine Mutter blickte auf und schüttelte den Kopf. Sie wirkte nicht besonders betroffen. »Nein«, erwiderte sie. »Nein, ich bereue nicht, was ich getan habe. Aber ich will nicht, dass du es auch so machst.«

Elise ließ sich langsam zurücksinken. Ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen. Ihrer Meinung nach hatte sie die Diskussion gerade für sich entschieden. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, behauptete sie.

Meine Mutter zuckte die Achseln und sah erst Elise, dann mich an. Sie schob ihre halb aufgegessene Pizza weg.

»Nein, das tut es nicht«, sagte sie. »Ich weiß.«

Kurz nach dem Abendessen hatte Elise mit meinem Vater so ziemlich dieselbe Auseinandersetzung - bloß lauter. Die arme Susan O'Dell saß da und starrte in ihren Eierpunsch, als sich mein Vater immer mehr über die Vorstellung aufregte, dass Elise eine nichtberufstätige Mutter werden würde. Er stand auf, lief im Esszimmer hin und her und hätte beinahe den Tisch mit der Glasplatte gerammt. Ob sie verrückt geworden sei, wollte er wissen. Ob ihr nicht klar sei, dass sie brillant und ungeheuer begabt sei? Ob sie vergessen habe, wie hart sie gearbeitet hatte? Ob ihr überhaupt bewusst sei, was sie im Begriff war, wegzuwerfen?

Elise trank ihre heiße Schokolade und antwortete auf jeden einzelnen Anklagepunkt. Sie erhob ihre Stimme nur, wenn er ihr ins Wort fiel. Und wenn sie sich an Susan oder mich wandte, um uns zu bitten, ihr den Zimt oder die Schlagsahne zu geben, war ihre Stimme ruhig und höflich. Je lauter mein Vater wurde, desto häufiger schweifte ihr Blick ab, zu ihrer Uhr, zu ihren Fingernägeln, zu Susan O'Dells hübschem, beunruhigtem Gesicht.

»Sollten wir sie vielleicht lieber allein lassen?«, flüsterte Susan und schaute mich an.

Ich schüttelte den Kopf. »So läuft es immer ab«, klärte ich sie auf. Ich fügte nicht hinzu: Gewöhnen Sie sich daran, aber ich hoffte, dass sie wusste, was ich meinte. Sie wirkte sehr nett, war ruhig, aber aufmerksam. Auf ihrem schmalen Nasenrücken hatte sie eine erstaunliche Anzahl von Sommersprossen. Ich schätzte sie vielleicht zehn Jahre jünger als meine Mutter. Beim Essen lachte sie über fast alles, was mein Vater sagte. Er war charmant, erzählte gute Geschichten, zog ihr den Stuhl zurück und fragte sie sogar nach ihrer Meinung zu einer Entscheidung, die der Oberste Gerichtshof vor Kurzem gefällt hatte. Aber nach dem Essen bekam sie dann - wegen Elises Entscheidung - zu sehen, wie er war, wenn er wütend wurde.

»War das Charlies Idee? Wollte er unbedingt den Job hier haben, egal, ob du auch einen bekommst?«

»Fragst du mich das im Ernst?« Elise schüttelte den Kopf und gähnte. Sie legte ihre Füße auf seinen leeren Stuhl. »Wie viel Punsch hast du schon getrunken?«

Sie starrten einander an.

»Ich kann jederzeit wieder einsteigen«, sagte sie. »Ich werde meinen Abschluss behalten. Und ich werde meinen Verstand behalten.«

Mein Vater lächelte nicht. »Du steigst die Karriereleiter hinunter, Schatz«, sagte er. Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Mach dir nichts vor! Man wird dich nicht wieder hinauflassen.«

Sie begegnete seinem Blick; ihr Lächeln war verblasst. Vielleicht gefiel es ihr nicht, dass er mit dem Finger auf sie zeigte. Auf einmal sah sie müde aus. »Ich bin die Leiter schon hinuntergestiegen, als ich sagte, ich würde Weihnachten gern nach Hause fahren«, sagte sie. »Ich bin die Leiter hinuntergestiegen, als ich um drei statt um zwei Urlaubstage bat.«

Ich schaute in die Ecke des Zimmers, wo mein Vater den Weihnachtsstern hingestellt hatte. Elise und ich hatten all unsere Geschenke davor aufgebaut, sodass man die Pflanze kaum noch sehen konnte. Wir waren davon ausgegangen, dass es keinen Baum geben würde.

»Susan hat ein Kind.« Mein Vater nickte in Susan O'Dells Richtung, die auf einmal sehr gequält aussah. »Susan hat ein Kind, und sie hat immer gearbeitet. Sie hat es geschafft.«

»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Susan O'Dell. Sie sprach zu niemandem im Besonderen, sondern einfach in den Raum hinein.

»Ich habe mein Hauptfach gewechselt«, warf ich in ähnlicher Lautstärke und in ähnlichem Tonfall ein. »Jetzt mache ich nicht mehr Pre Med, sondern Englische Literatur. Vielleicht gehe ich auf eine Hochschule und studiere Literatur.«

Alle sahen zu mir.

»Ich glaube, ich werde damit glücklicher sein«, fügte ich hinzu. »Ich werde härter arbeiten und besser abschneiden. Weißt du, wenn ich das, was ich mache, liebe, werde ich meinen Beruf bestimmt immer ausüben wollen.«

Dann senkte ich den Blick und betrachtete meine heiße Schokolade. Mein Entschluss stand endlich fest, wenn auch erst seit ungefähr zehn Sekunden. Mir war plötzlich klargeworden, dass jetzt der beste Zeitpunkt war. Zum einen hielt Susan O'Dells nervöse Gegenwart meinen Vater ein bisschen in Schach. Er brüllte, aber nicht so viel und nicht so laut, wie er es getan hätte, wenn sie nicht da gewesen wäre. Und zum anderen war Elises Abtrünnigkeit wesentlich dramatischer als meine. In einem Jahr würde sie Hausfrau sein. Ich würde studieren. Das war ein großer Unterschied.

Mein Vater presste beide Hände an seine Schläfen. Er schaute Elise an. Er schaute mich an. »Was zum Teufel ist bloß los?« Er schaute Susan O'Dell an. »Sprich mit ihnen!«, forderte er sie auf. »Sie brauchen ein starkes Vorbild. Jetzt!«

Das gefiel mir nicht, auch wenn es bloß ein Scherz war.

»Das haben wir bereits«, sagte ich mit fester Stimme, noch bevor Elise sich äußern konnte. Ich war genauso wütend wie an jenem Tag im Steakhouse, kurz bevor ich aufgestanden und gegangen war. Er steckte uns alle in Schubladen. Ich war zusammen mit meiner Mutter und Elise in einer Lade, und die kluge und hart arbeitende Susan O'Dell in einer ganz anderen.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich mein Vater und hob die Hände. »Tut mir leid. Ich wollte nicht ...«

Das nahm ich ihm nicht ab. Mir war klar, was er gemeint hatte. Aber ich hatte widersprochen, und er hatte sich entschuldigt.

Elise warf Susan ein mitfühlendes Lächeln zu. »Kommen Sie nächstes Jahr wieder?« Sie nahm ihren Becher, stand auf und reckte sich. Als sie sich zurückbog, rutschte ihr Hemd nach oben, und ich sah, dass der Reißverschluss ihrer Jeans nur halb geschlossen war und sich zwischen Knopf und Knopfloch ein elastisches Band spannte. »Er hat einige gute Eigenschaften, wie Ihnen sicher bekannt ist.« Sie ging um den Tisch herum zu ihm, lehnte sich an seine verschränkten Arme und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Man muss nur wissen, wann man ihn am besten ignoriert.«

Als sie in die Küche ging, war ich nicht mehr sauer. Ich war einfach beeindruckt von ihrem Rat. Ich schaute meinen Vater an, lächelte und hob meinen Becher in Elises Richtung. Wenn er mich in dieselbe Schublade wie meine Schwester stecken wollte, hatte ich nichts dagegen.

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages, als ich noch schlief, rief meine Mutter an und hinterließ eine Nachricht. Bowzer hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Alles war okay gewesen, als sie zu Bett ging, aber um zwei Uhr morgens war sie von seinem leisen Winseln aufgewacht. Er hatte Probleme beim Atmen und aufs Bett gemacht. Bisher war er immer so ein penibel sauberer Hund gewesen, aber entweder konnte oder wollte er nicht aufstehen.

»Der Tierarzt hat gesagt, ich soll zu ihm in die Praxis kommen. Er hat gesagt, dass er gegen neun da sein würde.« Sie klang müde, obwohl sie sehr schnell sprach. »Ich bin also nicht zu Hause, falls ihr heute Morgen kommen wolltet.« Sie schniefte und atmete aus. »Ich rufe am Nachmittag noch mal an.«

Ich klappte mein Handy zu und weckte Elise. Zuerst gab sie mir einen Klaps, aber sobald sie wusste, worum es ging, öffnete sie die Augen und setzte sich auf.

»Ich komme auch mit«, sagte sie.

Schnell zogen wir uns an. Als sie im Badezimmer war, hörte ich von unten Schritte und das Klirren von Schlüsseln. Ich zog meine Stiefel an und rannte die Treppe hinunter.

»Wir müssen uns dein Auto leihen«, sagte ich.

Mein Vater schaute mich über den Rand seines Kaffeebechers hinweg an. Er trug eine Jogginghose aus Nylon und eine dazu passende Jacke. Seine Autoschlüssel hielt er in der anderen Hand. Entweder hatte das Fitnesscenter am ersten Weihnachtsfeiertag geöffnet, oder Susan O'Dell glaubte immer noch, dass er auch ein paar gute Eigenschaften hatte.

Er runzelte die Stirn. »Ich wollte eigentlich gerade zu ...«

»Bowzer stirbt«, erklärte ich. »Jetzt. Wir müssen hinfahren. Wir brauchen dein Auto.«

Mein Vater kniff die Augen zusammen und legte den Kopf zur Seite. Später ging mir auf, dass er vielleicht wirklich verwirrt gewesen war. In einer anderen Zeit hatte ihm Bowzer einmal etwas bedeutet. Man konnte ein Tier nicht über ein Jahrzehnt lang jeden Abend auf dem Schoß liegen haben, ohne eine gewisse Zuneigung zu entwickeln. Aber er hatte Bowzer seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, und als er aus unserem Haus und in diese schicke Wohnung gezogen war, war er wahrscheinlich davon ausgegangen, dass er den Hund nie wiedersehen würde. Also war Bowzer für meinen Vater gewissermaßen schon seit einem Jahr tot.

Aber obwohl er verwirrt war, machte er sich Sorgen, weil ich fahren wollte. Er warf einen Blick aus dem Fenster, auf die Morgensonne, die auf eine frische Schneeschicht in der Einfahrt schien. Vielleicht dachte er an meinen Unfall mit Jimmys Auto.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin eine gute Autofahrerin«, versicherte ich. »An meinen Fahrkünsten ist nichts auszusetzen. Es ist wichtig, Dad. Bitte.«

Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Natürlich hätte ich anbieten können, Elise fahren zu lassen. Auch er hätte es vorschlagen können, doch wir verzichteten beide darauf.

Stattdessen gab er mir die Schlüssel.

»Danke«, sagte ich. »Ich bin in der Garage und lasse den Motor warm laufen.« Dann ging ich an ihm vorbei in die Küche. »Sagst du Elise Bescheid, wenn sie runterkommt?« Ich warf einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass er mich gehört hatte. Sein Gesichtsausdruck ließ mich innehalten: Er sah traurig aus und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Boden, die dichten Augenbrauen zusammengezogen.

»Dad? Willst du ...« Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Es war keine gute Idee. Es würde nicht funktionieren. Aber immerhin war Bowzer der Familienhund. »Möchtest du nicht mitkommen? Das geht bestimmt in Ordnung.«

Mit Tränen in den Augen sah er mich an, schüttelte den Kopf und lief die Treppe hinauf.

Dr. Bree versicherte meiner Mutter, dass sie kein schlechtes Gewissen haben müsse. Er glaube nicht, dass sie zu lange gewartet habe. Während er das sagte, füllte er zwei schmale Spritzen und legte beide auf ein Metalltablett. Er war unrasiert und trug Jeans und ein blaues Sweatshirt mit Kapuze. Falls es ihm etwas ausmachte, am ersten Weihnachstfeiertag in seine Praxis zu kommen, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

»Sie haben ihn erst letzten Monat hergebracht. Und damals ging es ihm noch ganz gut.« Er hatte nur über seine rechte Hand einen Latexhandschuh gezogen und streichelte mit seiner Linken das Fell auf Bowzers zitterndem Rücken. Meine Mutter hatte ihn in seine Decke gewickelt in die Praxis gebracht. Elise und ich mussten sie auf dem Untersuchungstisch ausbreiten, bevor sie Bowzer absetzte. Aber es war kalt im Behandlungsraum. Der Arzt entschuldigte sich: Während der Feiertage wurde die Heizung heruntergefahren.

»Klingt so, als hätte sich sein Zustand erst vor Kurzem verschlechtert.« Er schaute meine Mutter an. »Ich finde, Sie haben sich hervorragend um ihn gekümmert, Natalie. Sie haben Ihre Sache wirklich sehr gut gemacht.«

Meine Mutter nickte. Ihre Augen waren trocken, und sie war sehr still. Mit einer Hand rieb sie liebevoll Bowzers Brust, die andere lag regungslos zwischen seinen Ohren. Als Dr. Bree nach der ersten Spritze griff, hielt sie den Atem an. Bowzer blickte auf und schaute uns drei aus seinen alten Augen müde an.

»Das ist nur ein Beruhigungsmittel«, erklärte der Arzt. »Sobald es wirkt, hat er keine Schmerzen mehr.«

»Braver Hund«, flüsterte meine Mutter. »Guter Junge.«

Das einzige Geräusch war Bowzers schweres Atmen. Ich beugte mich vor, um seinen warmen Nacken zu kraulen, und streifte die Finger meiner Mutter. Elise legte einen Arm um ihre Taille.

»Hast du das gehört?«, fragte sie und beugte sich ein bisschen vor. »Hast du das gehört? Mom? Ich will ganz sicher sein. Er hat gesagt, dass du deine Sache sehr gut gemacht hast.«

Wir könnten den Körper hierlassen, bot der Tierarzt an. Er würde eingeäschert und die Asche auf der Farm seines Nachbarn verstreut werden, es sei denn, wir hätten etwas anderes vor. Meine Mutter schüttelte den Kopf. Verstreute Asche sei in Ordnung. Sie fragte, ob sie gleich zahlen müsse. Es wäre ihr lieber, wenn er ihr eine Rechnung schicken könne.

Auch als wir nur noch zu dritt waren und zum Wagen gingen, weinte sie nicht. Die Hände ließ sie in den Manteltaschen. Ihre Handtasche hatte sie über die Schulter geworfen und die Decke drinnen bei Bowzer gelassen - sie hatte nichts zu tragen.

Als wir bei ihrem Van waren, drehte sie sich um. »Verbrennen. Kein schönes Wort.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat nicht ›verbrennen‹ gesagt, Mom. Er hat ›einäschern‹ gesagt. Das ist etwas anderes.« Inwiefern es anders war, wusste ich nicht genau, aber »einäschern« klang einfach besser.

Sie nickte, wirkte aber nicht getröstet. Ihren Mund verbarg sie hinter dem roten Schal, aber ihre Augen blickten sorgenvoll. Natürlich hatte sie das Richtige getan. Sie hatte kein Geld für ein anderes Arrangement, und Elise zu fragen, ob sie dafür aufkommen könnte, wäre ein Hinweis auf die finanzielle Situation meiner Mutter gewesen. Aber vielleicht dachte sie jetzt an Feuer, hatte Bilder im Kopf, die sie später verfolgen würden.

»Verstreute Asche ist nett«, versicherte ich. Der Wind wehte kalt von Westen her. Ich setzte meine Mütze auf und trat näher an den Van. »Auf einer Farm, stimmt's? Das ist gut.« Ich schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. »Dünger« wollte ich nicht sagen. Etwas in der Art ging mir durch den Kopf, aber ich suchte ein freundlicheres Wort; ich dachte an »Veränderung«; ich dachte an »Raum und Zeit«. »Wie bei den Dinosauriern«, versuchte ich es unsicher. »Sie wurden zu etwas anderem ...«

Elise schüttelte den Kopf, als hätte sie Mitleid mit mir und meinen Versuchen, mir etwas Tröstliches auszudenken. Aber meine Mutter kam rasch auf mich zu. Sie zog den Schal nach unten.

»Ich kann nicht glauben, dass du dich daran noch erinnerst.« Sie lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen. »Du erinnerst dich daran, was ich dir erzählt habe, als du noch klein warst? Du weißt es noch? Als wir am Bahnübergang im Auto gesessen und auf den Zug gewartet haben?«

Ihr Gesicht war so freudig erregt, dass ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was sie meinte. An diesem harten, kalten Tag hätte ich alles gesagt, damit es ihr besserginge. Wenn sie glauben wollte, dass sie es gewesen war, die mir erzählt hatte, dass die Dinosaurier zu Kohle und Öl geworden waren, meinetwegen. Vielleicht stimmte es. Ich wusste nur, dass es so war und dass es gut war, dass sie damals ausgestorben waren, um Platz für all das Gute zu machen, das kommen würde.