Kapitel 6

Es kostete einen weiteren Dollar, eine Nachricht auf der Mailbox meines Vaters zu hinterlassen. Meine restlichen dreiundvierzig Cent gab ich für eine kleine Tasse Kaffee aus. Ich schaffte es, die Bestellung aufzugeben, ohne zu weinen, obwohl meine Unterlippe wie bei einem Kind zitterte. Mein »Danke« war kaum zu hören. Ich setzte mich an einen Tisch am Fenster und drehte mein Gesicht zur Glasscheibe. Natürlich war ich nicht wirklich gestrandet. Ich hätte versuchen können, im Büro meines Vaters anzurufen - selbst wenn er bei Gericht gewesen wäre, hätte seine Sekretärin jemanden schicken können, um mich abzuholen. Ich hätte den Mann, der in der Ecke saß und Kaffee trank, nach ein paar Cent fragen können. Ich hätte die Frau an der Registrierkasse um Hilfe bitten können. Aber je länger ich dasaß, desto weniger fühlte ich mich imstande, irgendjemanden um irgendetwas zu bitten. Das Freizeichen hallte immer noch in meinem Kopf wider.

Als die Zeiger auf dem orangefarbenen Ziffernblatt auf zehn Uhr standen, konnten die Leute bereits zügigen Schrittes von ihren Autos ins Lokal gehen. Die Sonne schien hell an einem wolkenlosen Himmel, und das meiste Eis auf dem Parkplatz schmolz bereits zu schmalen Rinnsalen, die in eine ölige, regenbogenfarben schillernde Pfütze neben dem Drive-in flossen. Wenn ich mich aufsetzte und an meinem Spiegelbild vorbei durch die Scheibe guckte, konnte ich den stetig dahinrollenden Verkehr beobachten. Trotzdem rührte ich mich nicht und machte auch keine Pläne. Ich verpasste meinen Laborunterricht, verpasste ihn in genau diesem Moment. Mein Hundshai würde in seinen Tiefkühlbeutel eingewickelt im Kühlschrank liegen bleiben und seine Geheimnisse für einen anderen Zeitpunkt, einen anderen Studenten aufbewahren.

Um halb elf nahm ich mein Physiologiebuch aus der Tasche. Aber ich schlug es nicht auf. Ich wollte einfach nicht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal einfach so dagesessen hatte, ohne irgendetwas zu tun.

Als Elise und ich noch klein gewesen waren, hatte meine Mutter unsere aufgeschlagenen Knie und Schienbeine geküsst. Mein Vater, der bei so etwas eher zimperlich war, hatte sie darauf hingewiesen, dass sich bei einem Luftkuss vermutlich weniger Keime ausbreiten würden; doch meine Mutter hatte erwidert, das sei ihr egal, unsere Keime seien auch ihre Keime. Wenn Elise und ich einen Keim hätten, würde sie ihn auch haben wollen. »Nein«, widersprach er ihr irgendwann. »Ich meine nicht ihre Keime, Natalie. Du gibst die Keime aus deinem Mund an sie weiter.« Erst danach hörte sie damit auf.

Um Viertel vor elf kam eine ältere Frau, deren gebleichtes Haar unter eine Schirmmütze geschoben war, um den Boden rund um die Tische zu kehren. Ich konnte sie pfeifen hören, als sie mit ihrem Besen dicht an meinen Tisch herankam. Als ich aufblickte, ertappte ich sie zweimal dabei, dass sie mich beobachtete. Ein Greyhound Bus rollte auf den Parkplatz, und jemand hinter der Theke rief der Frau zu, sie solle sich beeilen und sich an den Grill stellen. Aber sie trödelte noch einen Moment herum und kehrte einfach weiter.

»Alles in Ordnung?« Sie zuckte zusammen, als wüsste sie die Antwort bereits. Die Frau trug silberne Ohrringe in Form von Libellen und sah aus, als wäre sie in den Sechzigern. Auf ihren Unterarm war eine Rose tätowiert.

»Du blutest«, stellte sie fest und schnalzte mit der Zunge.

»Ich hatte einen Autounfall.« Ich drückte die Serviette fester gegen meine Lippe. »Jemand hat mich hier abgesetzt. Ich habe kein Geld zum Telefonieren.«

»Donna!«, blaffte die Frau hinter der Theke sie an. »Wir haben eine Busladung! Los!«

Sie schaute zur Theke und dann wieder zu mir. Einer der Seitenausgänge zum Parkplatz öffnete sich, und eine lange Reihe gähnender und sich streckender Fahrgäste mit verschmutzten Schuhen schob sich zur Theke vor.

»DONNA!«

Die Frau, die mich immer noch ansah, hob einen Finger. »Wenn der Ansturm vorbei ist, rufe ich die Autobahnpolizei«, versprach sie. Dann beugte sie sich vor, tätschelte meinen Arm und lächelte mich bedauernd an, um zu zeigen, dass sie wünschte, sie könnte mehr für mich tun.

Zwei Stunden später kam ein Officer. Er sprach mit näselndem South-Kansas-Akzent und hatte einen grauen Schnauzbart, der gekämmt aussah. Wir saßen vorne in seinem Wagen, wo er seinen Bericht ausfüllte. Er war überraschend mitfühlend - sogar noch, als er erfuhr, dass ich weder einen Nachweis für eine Haftpflichtversicherung noch die geringste Ahnung hatte, ob das Auto, das ich am Straßenrand stehen gelassen hatte, überhaupt versichert war. Doch er tadelte mich, weil ich den Fernfahrer nicht sofort gemeldet hatte, obwohl er mir zustimmte, dass gar nicht ganz klar war, ob irgendein Gesetzesverstoß vorlag. Er hätte gern ein Wörtchen mit dem Burschen gesprochen, sagte er, und ihn überprüfen lassen. Aber der Officer hielt sich nicht lange damit auf, mir deswegen Vorhaltungen zu machen. Stattdessen stellte er seine Heizung hoch und bot mir an, sie wieder runterzudrehen, wenn mir zu warm würde.

»Man kann wohl mit Fug und Recht sagen, dass Sie einen miserablen Vormittag hinter sich haben«, stellte er abschließend fest, als er die Kappe auf seinen Füller schraubte. »Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Der Schneesturm hat uns ganz schön zu schaffen gemacht. Dreiundzwanzig Unfälle allein heute Morgen, und das nur auf der Strecke zwischen Lawrence und Topeka.«

Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich hatte Hunger. Meine Lippe tat weh. »Furchtbar«, brachte ich schließlich hervor und hielt meine Hände an die Heizung. »Sie müssen erledigt sein.« Ich wollte sein gutes Bild von mir nicht zerstören.

»Eigentlich geht's mir gut.« Er schob den Bericht in einen Ordner. »Ein Unwetter wie das hier hebt meinen Adrenalinspiegel. Ich sage es ja nicht gern, aber irgendwie mag ich das.«

Er wirkte tatsächlich energiegeladen, als er mich nach Lawrence fuhr. Seine Haltung war aufrecht, und seine Hände auf dem Lenkrad lagen genau auf zehn und zwei Uhr - außer wenn er über Funk sprach. Nach dem dritten Anruf entschuldigte er sich bei mir und erklärte dann, dass er keine Zeit habe, mich bis in mein Wohnheim zu fahren. Er informierte mich, dass ein Abschleppwagen unterwegs sei, der mich zu meinem Auto bringen könne. Der Fahrer würde mich mitnehmen.

Das klang vernünftig. Aber dann stellte sich heraus, dass der Fahrer des Abschleppwagens - der anscheinend keine frischen Energien aus seinem langen und arbeitsreichen Vormittag gezogen hatte - darauf bestand, mich zu meinem Wohnheim zu fahren, ehe er den Wagen bei einer Werkstatt ablud. Er wollte mein Scheckheft sehen, bevor er den Wagen irgendwohin brachte. Auch das klang vernünftig. Und so kam es, dass ich in einem Abschleppwagen mit Jimmy Liffs berühmtem - und jetzt stark lädiertem - MINI Cooper, auf dessen Tür das Wort FASCHISTENSCHWEIN noch schwach zu erkennen war, vor meinem Wohnheim vorfuhr. Als wir stehen blieben, standen dreißig bis vierzig Leute, von denen mich die meisten nur von Beschwerden über Lärmbelästigung kannten, unter dem Vordach des Wohnheims und warteten auf den Bus.

Ich öffnete die Tür und stieg aus dem Abschleppwagen. Die Menge war einen Moment lang still, dann sagte jemand »Ooooch!«, aber auf eine Weise, die sehr erfreut klang.

Mein Handy lag neben meiner Armbanduhr auf meinem Schreibtisch. Viermal hatte mein Vater mir auf die Mailbox gesprochen. Bei der ersten Nachricht klang er besorgt. Bei der zweiten klang er besorgt und ein wenig gereizt. Danach brüllte er nur noch. Auch meine Schwester hatte etwas hinterlassen.

»Ruf Dad an«, forderte sie mich auf. »Er glaubt, du liegst tot irgendwo in Topeka.«

Ich setzte mich auf das Bett, nahm die Mütze ab und wählte seine Nummer. Als er meine Stimme hörte, schwieg er volle fünf Sekunden lang, bevor er loslegte.

»Weißt du, wo ich bin, Veronica? Weißt du, wo ich jetzt - in diesem Augenblick - bin?«

»Nein«, sagte ich. »Wo bist du?«

»Ich stehe auf dem Parkplatz von Hardee's an der Mautstelle in Topeka, wo sie offensichtlich nur Roboter Anrufe beantworten lassen.«

»Du bist da rausgefahren, um mich zu holen?« Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Betonziegelwand neben meinem Fenster. Draußen schien immer noch die Sonne, und ich konnte das leise Tröpfeln von schmelzendem Eis hören.

»Nein, mein Schatz. Nein. Ich bin lediglich fünfunddreißig Meilen hinaus in die Prärie gefahren, weil ich Lust auf diese kleinen Zimtbrötchen hatte, die sie hier machen, und ich in Kansas City kein Hardee's finden konnte. Ja, verdammt, ich bin hier rausgefahren, um dich abzuholen! Ich war bei Gericht, als du angerufen hast. Warum hattest du dein Handy nicht dabei?«

»Hatte ich vergessen.«

Er seufzte.

»Es tut mir leid«, sagte ich. Mir war auf einmal sehr warm. Wenn die Heizung im Wohnheim beschloss, anzuspringen, schob sie heiße, trockene Luft durch die Rohre, und der Regulierer an meinem Heizkörper war abgefallen. Ich stand auf und schüttelte meinen Mantel ab.

»Entschuldige.« Er stöhnte. »Du hast mir mit der Nachricht, die du hinterlassen hast, einen Mordsschreck eingejagt. Man hat mir gesagt, du seist von einem Polizisten nach Hause gefahren worden. Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Warum warst du in Topeka?«

»Das ist eine lange Geschichte. Jetzt geht es mir gut.«

Es entstand eine kurze Pause. »In was bist du da hineingeraten?«

»In gar nichts. Ich bin bloß müde. Können wir nicht später darüber reden?« Ich stand auf und machte meine Schreibtischschublade auf. Mir war schwindlig vor Hunger, aber ich hatte keine Lust, nach unten und über den Parkplatz zu gehen, um im Speisesaal zu essen. Für Notfälle hatte ich ein Glas Erdnussbutter in der Schublade stehen. Ich holte es heraus, zusammen mit einem Löffel aus der Kantine.

»Hat das etwas mit diesem Tom zu tun? Warst du mit ihm zusammen? Ihr hattet Streit, stimmt's? Und er hat dich dort stehen lassen. Gib mir seine Nummer. Ich werde mal ein Wörtchen mit ihm reden.«

»Tim.«

»Was? Wer ist Tim?«

»Mein Freund heißt Tim. Nicht Tom. Ich bin noch nie mit einem Tom gegangen.«

»Und er hat dich allein dort gelassen?«

»Nein! Er ist in Chicago. Er hat nichts damit zu tun.«

»Chicago? Geht eigentlich kein Mensch mehr zum Unterricht? Heute ist Freitag, richtig? Aber er ist in Chicago, und du bist in Topeka. Es ist im Grunde also kein College, oder? Es ist eine Art freiwilliger Veranstaltung. Ich bezahle deine Ausbildung, während du durch die halbe Welt ziehst und ich mich fast zu Tode sorge.«

»Dad.« Ich konnte fühlen, dass meine Stimme zu brechen drohte. Ich hasste es, wenn er mich anbrüllte. Doch ich zwang mich, ruhig und gelassen zu sprechen. Ich versuchte wie Elise zu klingen. »Ein Hardee's in der Nähe von Topeka ist nicht unbedingt die halbe Welt. Es tut mir leid, dass du Angst um mich gehabt hast. Aber es wäre wirklich schön, wenn ich dir das alles ein anderes Mal erklären könnte. Ich hatte einen echt schlimmen Tag.«

»Ich habe einen Klienten versetzt. Einfach versetzt. Schätzchen, ich zahle deine Handyrechnung, weil ich möchte, dass du es genau in dieser Art von Situation bei dir hast. Es nützt dir nicht im Geringsten etwas, wenn du es nicht bei dir hast.«

»Entschuldigung.« Das Ganze war eine gute Übung für mein Gespräch mit Jimmy Liff, fand ich. Ich machte das Glas Erdnussbutter auf, aber der Löffel glitt mir aus den Händen und fiel in den Spalt zwischen Schreibtisch und Bettende. Ich starrte in das Glas.

»Du hättest eine etwas aufschlussreichere Nachricht hinterlassen können. Das, was du gesagt hast, klang reichlich kryptisch.«

Ich kauerte mich auf alle viere, um den Löffel aufzuheben. Zu meinem Verdruss stellte ich fest, dass er in einen kleinen Haufen des üblichen Abfalls in meinem Zimmer gefallen war. Er lag zwischen Staub, einem Apfelgehäuse und dem Studienführer für Chemie, nach dem ich im letzten Monat vergeblich gesucht hatte. Ich runzelte die Stirn, verärgert über mich selbst. Besen, Schrubber und Staubsauger konnte man sich am Empfang leihen, aber bisher hatte ich dieses Angebot noch nicht wahrgenommen.

»Hallo? Veronica?«

Jemand klopfte an die Tür.

»Was ist das?«, fragte mein Vater. »Was ist das für ein Geräusch? Wo bist du gerade?«

Ich machte die Tür auf und sah Marley Gould vor mir, eine Hand erhoben, um noch einmal zu klopfen, in der anderen den Koffer mit ihrem Waldhorn. Sie trug immer noch ihren langen, flauschigen Mantel mit der dazu passenden Mütze und sah mit ihren rosigen Wangen und den strahlenden Augen noch jünger aus als sonst.

»Ich habe gehört, dass du einen Autounfall hattest.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Du hast dich an der Lippe verletzt?«

»Ja, aber es ist nicht so schlimm. Ich telefoniere gerade. Äh ... brauchst du etwas?«

»Veronica? Hallo?« Das Telefon war auf meine Schulter gerutscht, aber die Stimme meines Vaters war trotzdem klar und deutlich zu hören. »Sprichst du mit jemandem? Könntest du deine Aufmerksamkeit bitte einen Moment lang mir zuwenden? Wäre das in Anbetracht der Tatsache, dass ich gerade fünfunddreißig Meilen gefahren bin, um dich zu finden, zu viel verlangt?«

»Tut mir leid. Bin schon wieder da.« Ich lächelte Marley an und formte mit den Lippen eine stumme Entschuldigung, während ich die Tür wieder schloss. »Tut mir leid«, wiederholte ich. »Das war eine meiner Mitbewohnerinnen.«

»Sag mir, was passiert ist.«

Ich tauchte einen Finger in die Erdnussbutter und leckte ihn ab. »Jetzt gleich?«

»Ja.«

Ich setzte mich zurück aufs Bett. Früher oder später würde er es ja doch erfahren. Ich musste ihn wegen der Versicherung fragen und danach, was ich seiner Meinung nach tun sollte.

»Ich habe Freunde von mir zum Flughafen gebracht.«

»Was? Warum hast du dann von Topeka aus angerufen?« Seine Stimme klang anders, ruhiger. Er hatte sein Headset aufgesetzt. »Der Flughafen liegt in die entgegengesetzte Richtung.«

Ich steckte meinen Finger noch einmal in die Erdnussbutter und dachte nach. Meine Schwester und ich hatten schon früh gelernt, dass es schnelles Überlegen und stählerne Nerven erforderte, um meinen Vater anzuschwindeln. Elise hatte es ein paarmal durchgezogen: Als Teenager hatte sie mit ihm endlose Diskussionen darüber geführt, ob der Verkehr wirklich so stark gewesen war, dass sie deshalb zu spät nach Hause gekommen war, oder darüber, ob sie irgendwie hätte mitbekommen müssen, dass jemand auf dem Rücksitz ihres Autos ein Bier getrunken hatte. Trotz ihrer Schlagfertigkeit und ihrer Courage hatte er meistens die Schwachstelle in ihrer Geschichte gefunden. Ich für mein Teil hingegen hatte schon längst entschieden, dass sich der Aufwand nicht lohnte. Ich hatte seit meiner Kindheit nicht mehr versucht, ihn zu belügen.

»Wie ich nach Topeka gekommen bin, meinst du?«

Er holte tief Luft und presste sie schnell wieder hinaus. »Ja, Veronica. Genau das wüsste ich gern.«

Ich berichtete ihm die Kurzfassung.

»Du bist per Anhalter gefahren?« Seine Stimme war auf einmal wieder viel lauter. »Du hast genau das getan, was ich dir strikt verboten habe?«

»Aber es hat geklappt«, erwiderte ich munter. »Er hat mich dahin gebracht, du weißt schon, zum ...«

»... Hardee's an der Mautstelle.«

»Genau.« Ich schluckte noch ein bisschen Erdnussbutter hinunter.

»In Topeka?«

»Hm.«

Keine Reaktion. Ich dachte schon, die Verbindung wäre abgebrochen. »Dad?«

»Warum so weit? Warum hat er dich nicht einfach in Lawrence abgesetzt?«

»Er hat die Ausfahrt verpasst.« Wieder eine lange, lange Pause.

»Dad. Ich bin erledigt. Ich möchte jetzt bloß noch unter die Dusche. Und da du unterwegs bist und ich gut angekommen bin, können wir vielleicht später ...«

»Gibt es nicht zwei oder drei Ausfahrten nach Lawrence?«

Ich nickte. Am Handy brachte das natürlich nichts, aber mehr bekam ich einfach nicht hin.

»Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott! OH MEIN GOTT!« Das Handy schien in meiner Hand zu vibrieren.

»Dad. Beruhige dich bitte. Mir geht's gut.«

Ich hörte einen dumpfen Laut. Es klang wie eine behandschuhte Hand, die auf ein Lenkrad schlug.

»HAT DIESER MENSCH DICH ANGEFASST?«

»Nein.«

»HAT ER DIR IN IRGENDEINER WEISE WEHGETAN?«

»Nein, Dad, mit mir ist alles okay.«

»Denn wenn er das getan hat ... wenn er das getan hat, finde ich ihn und BRINGE IHN UM. Oder ich ... ich finde ihn und BEZAHLE JEMANDEN DAFÜR, DASS ER IHN UMBRINGT. Du bist ... du musst mir versprechen, nie wieder eine solche Dummheit zu machen.«

»Versprochen.« Ich stützte meinen Kopf auf meine Hände und wünschte, ich hätte lügen können. »Es tut mir leid.«

»Okay. Morgen komme ich nach Lawrence. Ich habe ein bisschen Zeit. Wir können zusammen zu Mittag essen. Ich hole dich um elf Uhr ab. Und mach dir keine Sorgen. Du bist bei mir mitversichert. Ich bin kein Idiot.«

»Okay«, sagte ich. Für seine Hilfe würde ich teuer zahlen müssen - es würde noch mehr Ermahnungen und wahrscheinlich jahrelang Witze über meine Fahrkünste geben -, aber ich fühlte mich trotzdem getröstet und behütet. Er brüllte zwar, aber immerhin kümmerte er sich um mich.

Ich wollte schon auflegen, als er »Veronica« sagte. Ich hielt das Handy wieder an mein Ohr. »Ja?«

»Also ...« Mein Vater klang plötzlich gehemmt. »Weißt du«, setzte er noch mal an, »ich habe mich gerade gefragt, was mit deiner Mutter ist.« Er räusperte sich. »Ich nehme an, du hast zuerst versucht, sie zu erreichen.«

Ich legte einen Finger an meine Lippen. Ich konnte den Streifen geronnenen Blutes fühlen.

»Veronica? Hast du deine Mutter angerufen?«

Ich schaute auf meine Stiefel, die immer noch feucht von geschmolzenem Eisschnee waren. »Ich habe es versucht«, antwortete ich. »Sie war nicht zu Hause.«

Meine Schwester rief an, als ich gerade vom Duschen zurückkam. »Du bist also nicht tot?«, fragte sie. »Nicht einmal verletzt?«

»Mir geht's gut«, versicherte ich. Ich hatte mir ein Handtuch umgewickelt und konnte in dem Spiegel an meinem Schrank die Quetschung sehen, die der Gurt verursacht hatte. Ich fuhr mit einem Finger darüber, gerade fest genug, damit es wehtat.

»Niemand sagt mir Bescheid, dass die Krise überstanden ist. Das Letzte, was man mir gesagt hat, war, dass du irgendwo in der Prärie verloren gegangen bist, mit nichts zu essen außer Junkfood. Dad hat mich von unterwegs angerufen. Er war laut - sogar für seine Verhältnisse.«

Ich hätte beinahe gelächelt. »Warum hat er dich angerufen? Was hättest du von Kalifornien aus schon machen können?«

»Er wollte, dass ich Mom anrufe.«

Das Herz wurde mir schwer. Vielleicht hatte mein Vater die Telefonnummer meiner Mutter nicht. Aber ich vermutete, dass er, selbst wenn er sie doch hatte, es wahrscheinlich nicht über sich gebracht hätte, selbst bei ihr anzurufen. Und das, obwohl er angeblich so besorgt gewesen war. Er liebte mich, das wusste ich. Aber selbst in einer solchen Krise stand die Scheidung an erster Stelle.

»Und? Hast du?« Ich schlüpfte in meinen Bademantel und schlang das Handtuch um mein nasses Haar.

»Habe ich was?«

»Mom angerufen.«

»Moment mal«, sagte sie. »EINEN ESPRESSO GRANDE, BITTE. DREIFACH.« Ich hörte ein Rauschen in der Leitung und Hintergrundgeräusche. »Entschuldige. Ich bin in einem Drive-in und bereits seit sechs Uhr heute Morgen auf den Beinen. Sechs Uhr! Ich habe kein Leben. Wie auch immer, ja, ich habe versucht, Mom anzurufen. Sie ist nicht drangegangen.«

»Hm«, sagte ich.

»Was ist eigentlich passiert? Wie bist du in Topeka gelandet?«

Ich versuchte, ihr alles so schnell wie möglich zu erzählen. Aber auch sie nahm andere gern ins Kreuzverhör - wie mein Vater.

»Du hast den Unterricht geschwänzt, um diese Leute zum Flughafen zu fahren?«

»Nein.«

»Wie ist es zu dem Unfall gekommen?«

»Es gab einen Eissturm, Elise. Viele Leute hatten heute Morgen einen Autounfall.«

»Okay. Geh nicht gleich in die Defensive. Von dem Eis wusste ich nichts. Hier ist schönes Wetter, hier ist es immer schön.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Ich wünschte, ich müsste kein Kostüm tragen. Sogar eine Strumpfhose muss ich tragen. Das ist einfach lächerlich.«

Ich setzte mich aufs Bett und zog mir ein Paar Wollsocken an. Ich sah Elise vor mir, wie sie - das Haar zu einem schicken Knoten geschlungen und in einer Hand ihren Espresso - mit ihrem Volkswagen über die Autobahn fuhr. Elise konnte im dichtesten Verkehr Auto fahren, dabei telefonieren und gleichzeitig heißen Kaffee trinken, kein Problem. Wenn ihr Wagen keine Gangschaltung gehabt hätte, hätte sie wahrscheinlich am Lenkrad noch einen Geschäftsbrief tippen können. Sie fuhr keine Autos zu Schrott. Sie vermasselte nie etwas. Trotzdem ließ ich nichts aus, als ich ihr erzählte, was an diesem Morgen passiert war.

»Oh mein Gott«, sagte sie mit aufrichtigem Mitleid in der Stimme. »Schätzchen. Hast du das der Polizei erzählt?«

»Ja. Zu spät, schätze ich. Aber ich hab's ihnen gesagt.«

»Du musst furchtbare Angst gehabt haben.«

Dankbar für ihr Verständnis schloss ich die Augen. Ich bezweifelte, dass Elises Kollegen etwas von ihrer sanfteren Seite wussten. Aber es gab sie.

»Mir geht's gut«, versicherte ich, wohl nicht allzu überzeugend. Ich brauchte immer noch Mitgefühl. »Aber das war noch nicht das Schlimmste. Ich habe von dem Hardee's aus Mom angerufen. Sie hat einfach aufgelegt.«

Elise war einen Moment lang still. »Was meinst du mit ›Sie hat aufgelegt‹?«

»Sie hat behauptet, sie könne mich nicht abholen, und aufgelegt.«

»Wie bitte? Absichtlich?« Im Hintergrund hörte ich eine Möwe schreien. »Bist du dir sicher, dass es Absicht war?«

»Ja. Absolut sicher. Sie hat gesagt, sie sei nicht mehr mein Chauffeur, und dann aufgelegt.« Es tat gut, darüber zu reden. Bei meinem Vater hatte ich sie gedeckt, aber ich brauchte Trost, und meine Loyalität hatte Grenzen. Es befriedigte mich, dass meine Schwester tief einatmete und einen Moment lang sprachlos war. Ich stand auf und lehnte meine Stirn an das Fenster. Obwohl noch immer die Sonne schien, war das Glas kalt. Schmelzendes Eis tropfte von den Fensterblechen der oberen Stockwerke. Sieben Stockwerke weiter unten stiegen Leute aus einem Bus und trotteten zur Eingangstür des Wohnheims. Sie trugen dicke Jacken und Rucksäcke und hatten, wie ich vermutete, die zufriedenen Gesichter von Leuten, die es geschafft hatten, rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen und ihre Arbeit im Labor abzuschließen.

»Sie hat den Verstand verloren«, brachte Elise schließlich hervor. Sie klang traurig, vielleicht aber auch nur müde. »Ich wusste, dass sie schlecht drauf ist. Meiner Meinung nach hat sie so etwas wie eine Midlife-Crisis. Aber das ist absolut inakzeptabel. Du bist ihre Tochter. Du hast ihre Hilfe gebraucht.«

Ich nickte. Ihre Empörung half mir, mich ein bisschen besser zu fühlen. Aber nicht viel.

»Und was machst du jetzt?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Rufst du sie an?«

»Nein.«

»Veronica.« Das Mitgefühl war aus ihrer Stimme verschwunden. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. So verhält sie sich normalerweise nicht.«

»Vielleicht hat sie einen neuen Freund«, sagte ich. »Vielleicht ist er erst zwanzig.«

»Lass das!«

Ich runzelte die Stirn. Es gefiel mir besser, wenn ich diejenige war, um die Elise sich Sorgen machte. »Du kannst sie anrufen«, schlug ich vor.

»Das werde ich.« Wieder veränderte sich ihre Stimme, sie sprach die Worte schnell und knapp. Jetzt klang sie mehr nach unserem Vater. »Glaub mir, ich werde ihr die Hölle heißmachen.«

Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, legte ich mich aufs Bett, nur für einen Moment, wie ich mir sagte, eine kurze Ruhepause. Und dann würde ich Tim anrufen. Es würde nicht leicht sein, ihm am Telefon davon zu erzählen, was passiert war. Vielleicht erzählte ich es ihm lieber erst, wenn er wieder hier war. Ich wollte bloß mit ihm sprechen. Es wäre schön, einfach nur seine Stimme zu hören.

Aber in dem Moment, in dem ich die Augen schloss, schlief ich auch schon ein und träumte von meiner Mutter. Ich glaube, ich träumte eine ganze Weile von ihr, obwohl nur Fragmente in meinem Gedächtnis haften blieben, zum Beispiel ihr Gesicht im Profil, wie sie resigniert auf dem Beifahrersitz ihres Vans saß. Ich wusste, dass es ihr Van war. Ich saß auf der Rückbank, hinter dem Fahrersitz, und konnte ihr Gesicht deutlich sehen. Aber als ich aus dem Fenster schaute, sah ich, wie weit oben wir saßen, und plötzlich löste ich mich einfach in Luft auf. Sie saß nun auf dem Beifahrersitz eines Sattelschleppers, und es gab keinen Rücksitz, keinen Platz, auf dem ich hätte sitzen können.

Jimmy Liff blieb überraschend gelassen, als ich ihm von dem Unfall berichtete. »Tja, so was kommt vor«, sagte er nur. »Das Glatteis, hm? Unser Flug hatte eine Scheißverspätung.«

Ich wechselte den Hörer an das andere Ohr. Er konnte mich unmöglich richtig verstanden haben. Ich hatte mich vor diesem Anruf gefürchtet.

»Ich musste den Wagen abschleppen lassen«, sagte ich mit Nachdruck, obwohl ich ihm das schon erzählt hatte. Ich wollte ihm begreiflich machen, dass mehr als nur der Kotflügel beschädigt worden war. »Aber die Versicherung meines Vaters übernimmt die Kosten. Da ist er sich ganz sicher.«

Schweigen. Ich wartete. In meinem Zimmer war es schon ziemlich dunkel, fast ganz, aber draußen erstrahlte im Schein der untergehenden Sonne ein Stück Himmel in Rosa und Orange. Ich hatte Mittag- und Abendessen verschlafen.

»Willst du die Nummer der Werkstatt haben?«, fragte ich. »Sie haben gesagt, dass sie dein Auto irgendwann nächste Woche reparieren, aber ...«

»Ach, darum können wir uns später kümmern.« Er klang gelangweilt oder zumindest geistesabwesend. »Wir nehmen am Sonntag ein Taxi vom Flughafen. Mach dir deshalb keine Sorgen. Wir sind froh, dass dir nichts passiert ist.«

Ich war zu erstaunt, um auch nur einen Ton von mir zu geben. Jimmy Liff hätte meiner Mutter einmal zeigen können, wie man mit Unfallopfern umging. Damit hätte ich nie gerechnet.

»Aber du musst ins Haus und die Pflanzen befeuchten.« Jetzt klang er beunruhigt. »Okay? Ich möchte wirklich nicht, dass sie eingehen.«

Gretchen bot mir an, mich hinzufahren, und sie machte von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie keineswegs vorhatte, mich dort bloß abzusetzen. Sie fand, ich sollte nicht allein sein; die Sache mit dem Lastwagenfahrer hatte sie erschüttert. »Ist mir egal, was du sagst. Heute Abend lernst du nicht mehr«, bestimmte sie. Gretchen trug ein T-Shirt, auf dem ein Kätzchen mit riesigen, blauen Augen abgebildet war, das ihr seltsam ähnlich sah. »In meinem Zimmer habe ich eine Packung Makkaroni mit Käse. Ich bringe sie mit. Ich mache dir etwas zu essen.« Sie schürzte die Lippen. »Du siehst echt kaputt aus, Veronica. Sogar für deine Verhältnisse, meine ich.«

Ich erhob keine Einwände. Ich brauchte jemanden, der mich zu Jimmys Haus fuhr. Und sie hatte recht: Ich war total überdreht. Ständig musste ich an den Augenblick denken, in dem ich die Kontrolle über den Wagen verloren hatte, als ich über das Glatteis schlitterte und rutschte und das Lenkrad völlig nutzlos geworden war. Dieselbe Hilflosigkeit hatte ich in dem LKW empfunden, als wir an der ersten Ausfahrt nach Lawrence vorbeigefahren waren, aber es war schlimmer, viel schlimmer, weil die Angst viel länger anhielt. Noch jetzt hatte ich das Gefühl, dass meine Hände zitterten, obwohl sie ruhig waren, als ich sie anschaute.

Auf dem Weg zu Jimmys Haus blieb Gretchen bei einem Spirituosengeschäft stehen. Ich protestierte nicht. Im Gegenteil, ich gab ihr zehn Dollar. Als wir bei Jimmy waren, machte sie Margaritas, während ich die Pflanzen befeuchtete. Sie fand schicke Gläser und sogar kleine Papierschirmchen und befahl mir, mich hinzusetzen und meinen Drink zu genießen, während sie sich um die Käsemakkaroni kümmerte. Wieder erhob ich keine Einwände. Der Drink war lecker.

»Meinst du, wir können ein bisschen von ihrer Milch nehmen?«, fragte sie. »Oder ist die auch sehr teuer?«

Sie spielte auf den Zettel an, den Jimmy an das Weinregal neben der Küche geklebt hatte: »ALLES SEHR TEUER«, stand darauf. »NICHT TRINKEN ODER AUCH NUR ANFASSEN!«

»Wir können welche nachkaufen«, schlug ich vor. Die Arbeitsfläche war aus rostfreiem Edelstahl, und ich konnte darin mein verzerrtes, verschwommenes Spiegelbild erkennen. Der Alkohol brannte in der Schnittwunde an meiner Lippe, aber im Inneren spürte ich eine angenehm betäubende Wirkung, die sich von meinem Mund aus verbreitete. Mir war klar, dass ich lieber warten sollte, bis ich etwas im Magen hatte. Ich war Alkohol nicht besonders gewohnt.

»Bitte.« Gretchen nahm eine Packung Milch aus dem Kühlschrank. »Ich denke, er kann eine Flasche Wein entbehren. Schau dir das hier an! Er muss über ein ganz nettes Einkommen verfügen.« Ihr Blick wanderte von den glänzenden Küchengeräten auf der Arbeitsfläche zum Oberlicht über unseren Köpfen. Es war dunkel. »Lebt diese Simone hier mit ihm zusammen?«

»Ich glaube schon«, antwortete ich. Ich hatte nicht einmal Gretchen erzählt, dass Simone in Wirklichkeit Haylie hieß oder dass ich sie von früher kannte. Wenn das arme Mädchen jemand anders sein will, dann lass sie eben. Ich nahm noch einen kräftigen Schluck von meinem Drink und schaute mich in der riesigen Küche um. Hier frühstückte also Haylie/Simone. Seltsam, dass ich so viel über ihr neues und auch ihr altes Leben wusste. Ich fragte mich, ob ihre Mutter oder ihr kleiner Bruder oder ihr Vater, der im Gefängnis saß, wussten, wo und wie sie lebte ... oder dass sie ihren Namen geändert hatte.

»Was ist das?« Gretchen drückte auf ein paar Knöpfe in der Wand, und laute - aber nicht zu laute - lateinamerikanische Musik ertönte aus irgendeiner unsichtbaren Quelle. »Ist ja cool!« Sie griff nach ihrem Drink und drehte sich langsam im Kreis. »Ich habe keine Ahnung, wo das herkommt.«

Sie stellte die Lautstärke höher. Ich schwang meine Beine im Rhythmus des Schlagzeugs. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir wegen der Nachbarn Gedanken machen sollte. Draußen sah man gepflegte Vorgärten, und alle Autos standen in Garagen. Es schien mir nicht die Art von Straße zu sein, wo man mitten in der Nacht laute Musik spielen konnte. Ich nahm mein Handy heraus, um nachzuschauen, wie spät es war, und stellte fest, dass meine Mutter angerufen hatte.

Gretchen stellte die Musik leiser. »Was ist los? Wer hat angerufen?«

»Niemand«, sagte ich. Ich hatte ihr nicht erzählt, dass meine Mutter heute Morgen einfach aufgelegt hatte. Vielmehr hatte ich meine Mutter überhaupt nicht erwähnt. Es war mir zu peinlich. Alles andere, was an diesem Morgen passiert war, ließ sich überwiegend auf Pech und schlechtes Timing schieben. Aber die Reaktion meiner Mutter, oder vielmehr ihre mangelnde Reaktion, schien darauf hinzuweisen, dass etwas in ihr - und vielleicht auch in mir - kaputtgegangen war.

»Es war Tim«, log ich. »Bloß Tim.«

»Ach so.« Sie angelte mit einer Gabel ein Stück Makkaroni aus dem kochenden Wasser, schaute mich dabei aber weiter an. »Habt ihr ... habt ihr gestritten oder so?«

Ich schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Nicht mal, wenn ich nüchtern war, konnte ich gut lügen. Und jetzt fühlte ich mich ziemlich benommen. Ich hielt mein Glas mit beiden Händen fest. »Er möchte, dass ich bei ihm einziehe. Nächstes Jahr. Die Miete übernimmt er, hat er gesagt.«

Sie pustete auf das dampfende Stück Makkaroni. »Ist das ein Problem?«

Mein Handy piepste. Ich schaute auf das Display. Schon wieder meine Mutter. Ich drückte auf »Ignorieren«. Zu spät! Zu spät für dich! Ich nahm mir noch einen Drink.

Gretchen schaute mich besorgt an. »War das wieder Tim?«

»Ja.« Ich nickte bestätigend. »Ja. Er ist echt ... also, er ist echt ziemlich hartnäckig. Ruft ständig an.«

Sie zog die Nase kraus. »Um dich unter Druck zu setzen?«

»Nein. Nein.« Ich hielt mir den Mund zu. Ich fühlte mich mies, wenn ich ihn hinstellte, als wäre er herrschsüchtig oder sogar ein bisschen verrückt. In Wirklichkeit hatte er mich noch gar nicht angerufen, seit er nach Chicago aufgebrochen war. Ich musste aufhören zu reden. »Er hat bloß angerufen, um Hallo zu sagen.«

Sie drehte sich um, um das Wasser abzustellen, und schaute mich dann wieder verwirrt an. »Das verstehe ich nicht. Es scheint dich ja zu stören, dass er anruft. Beunruhigt es dich, dass er sich wünscht, dass du bei ihm einziehst?«

Ich nickte.

»Du hast doch erzählt, wie schön es neulich Abend mit ihm war. Pausenlos hast du davon geschwärmt, wie glücklich du warst.«

»Ich habe nicht pausenlos davon geschwärmt.«

»Na gut. Aber dein Gesicht war ...« Sie lächelte. Ihre Augen wirkten plötzlich ausdruckslos. »Und du hast gesagt, dass du total glücklich warst.« Sie warf mir einen schnellen Blick zu. »Und du hasst das Wohnheim.«

Ich seufzte. Sie war genau wie er. Ich war offensichtlich die Einzige, die das Problem erkannte. »Ja, aber was ist, wenn wir uns trennen?« Ich hob mein Glas, als wollte ich anstoßen. »Dann kann ich nirgendwohin. Dann habe ich keinen Job mehr.«

Sie nickte und kippte die Nudeln in ein Sieb. Dampf stieg auf. »Okay. Da hast du recht.«

»Was soll das heißen?«

»Dass du recht hast. Zieh nicht bei ihm ein.«

Das war nicht das, was ich von ihr hören wollte. Ich stützte mich mit den Ellbogen auf die Arbeitsfläche und stützte mein Gesicht in meine Hände. »Aber ich möchte es gern«, gab ich zu.

Sie fing an zu lachen. Ich blickte verärgert auf.

»Ehrlich?« Sie griff nach ihrem Drink und nahm einen Schluck. »Von mir aus kannst du hier sitzen und dich herumquälen, so lange du willst, aber ich werde mich lieber nach einer neuen Wohnheim-Freundin umschauen. Ich gehe jede Wette ein, dass du nächstes Jahr bei ihm wohnst. Du nimmst im Sommer an keinem Kurs teil. Warum machst du dir ständig so viele Gedanken? Es ist okay. Es ist okay, das zu tun, was du willst.«

Ich schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang freundlich, und sie lächelte, aber das, was sie sagte, gefiel mir nicht. Für jemanden wie dich ist das okay. Schön, dass du jemanden gefunden hast, der sich um dich kümmern will. Als Studentin bist du nicht besonders gut. Ich wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Ich war ein bisschen beschwipst. Vielleicht war ich auch nur ein bisschen paranoid.

»Es wäre etwas anderes, wenn es dir nur darum ginge, aus dem Wohnheim herauszukommen. Aber das allein ist es nicht, oder?« Sie rührte den Käse ein. »Du möchtest nicht nur in seiner Wohnung wohnen. Du möchtest mit ihm in seiner Wohnung wohnen.«

Ich räusperte mich, konzentrierte mich auf meine zittrigen Lippen und zwang sie, die Worte korrekt zu formen. »Nur weil ich das gern möchte, muss ich es nicht unbedingt tun«, sagte ich. »Ich versuche, keine Dummheiten zu machen.«

Sie zuckte die Achseln.

Ich lehnte mich auf dem Barhocker zurück und verschränkte die Arme. Ich konnte zwischen den Zeilen lesen: Anscheinend war ich sehr leicht zu durchschauen und immer bereit, den leichtesten Weg zu wählen. In meiner Hosentasche klingelte mein Handy. Meine Mutter hatte eine Nachricht hinterlassen. »Laden wir ein paar Leute ein«, sagte ich.

Zuerst dachte sie, ich mache nur Spaß, und tat bloß so, als würde sie nach ihrem Handy greifen. Sie kannte mich doch nicht so gut, wie sie glaubte. Das tat mir gut.

Ich kann die Entscheidungen, die ich den restlichen Abend über traf, nicht wirklich auf den Alkohol schieben. Es stimmt, dass ich Alkohol nicht gewohnt war und wenig Erfahrung mit Tequila hatte. Aber das hatte ich gewusst. Doch schon bevor ich das Glas zum ersten Mal an die Lippen setzte, muss irgendetwas in mir gewesen sein, etwas, das sich nach einem abrupten Abweichen von dem geraden Weg sehnte, den ich vor langer Zeit eingeschlagen hatte. Etwas, das durch die Ereignisse des Morgens freigesetzt worden war. Ich denke, mein Plan war es - zumindest unbewusst -, so lange zu trinken, bis ich wackelig genug auf den Beinen war, um einfach in eine andere Richtung zu taumeln.

Es funktionierte.

Ich war bereits in bester Stimmung, als die Leute allmählich eintrudelten. Einige von ihnen kannte ich nur flüchtig aus dem Wohnheim, aber ich hieß jeden willkommen, vor allem die Leute, die ich überhaupt nicht kannte und deren Gesichter wie frische Formen waren, in die ich einen Abguss meines neuen, impulsiven Ichs prägen konnte. Mit schwungvollen Gesten bat ich sie ins Wohnzimmer, dankte ihnen dafür, dass sie noch mehr Alkohol mitgebracht hatten und ... vergaß alles: schüchtern zu sein, Jimmy und Haylie sowie die Tatsache, dass wir uns in ihrem Haus befanden. Ich konzentrierte mich ganz darauf, eine gute Gastgeberin zu sein, und nickte nur beifällig, wenn jemand die Musik wechselte oder die Lautstärke immer höher und höher stellte. Ich schleppte Mäntel die Treppe hinauf und breitete jeden einzelnen davon sorgfältig auf dem riesigen Bett aus. Ich weiß noch, dass es im Laufe des Abends immer schwieriger wurde, die Treppe hinaufzukommen. Ich trug eine schwarze Federboa, die jemand aus Haylies Schrank gezogen hatte, und trat ständig auf sie.

Doch ich erinnere mich nicht wirklich daran, Clyde-vom-dritten-Stock hereingelassen zu haben. Vielmehr erzählte mir Gretchen, dass ich es getan hätte. Sie erinnerte sich genau an den Moment, als er kam, weil ich anscheinend begeistert gejuchzt und mich - noch bevor er im Haus war - an seinen Freunden vorbeigedrängt hatte, um ihn zu umarmen. Mir ist nicht ganz klar, ob der Umstand, dass ich nichts mehr davon weiß, das Ganze mehr oder weniger peinlich macht. Gretchen zufolge hatte ich allen Neuankömmlingen die Mäntel abgenommen und vor allen Anwesenden lautstark darauf bestanden, dass Clyde mir dabei helfen sollte, sie nach oben zu tragen.

»Ich habe mir deshalb keine Sorgen gemacht«, sagte sie später zu mir. »Du hast nicht gelallt oder so. Du hattest bloß ...« Sie lehnte sich zur Seite und flatterte so mit den Lidern, dass sie ziemlich albern aussah. »Du hattest bloß ein bisschen Schlagseite.«

Trotzdem kann ich nicht gut behaupten, Clyde-vom-dritten-Stock hätte die Situation ausgenutzt. Eigentlich glaube ich nicht, dass er dazu überhaupt Gelegenheit hatte. Vielmehr erinnere ich mich deutlich an seinen bestürzten Gesichtsausdruck, als ich die Boa abnahm und sie ihm um den Hals schlang. Ich weiß noch, wie ich daran dachte, wie recht Becky Shoemaker hatte: Ich konnte tatsächlich Dinge geschehen lassen, indem ich sie mir einfach vorstellte. Ich hatte gewusst, dass Clyde auftauchen würde, als ich beschloss, eine Party zu schmeißen, und jetzt war er da. Es war Vorsehung - oder auch das Gegenteil. Wir waren hier oben in Jimmys und Haylies Schlafzimmer, ganz allein, und standen neben dem Bett, auf dem sich mittlerweile ein Berg von Mänteln und Jacken türmte. Das heißt, Clyde stand, sollte ich wohl sagen. Ich hingegen tanzte. Gewissermaßen. Jedenfalls dachte ich das - dass ich mich anmutig und schwerelos bewegte. Im Nachhinein glaube ich, dass ich nach wie vor einfach Schlagseite hatte und vielleicht das vage Gefühl, auf die Toilette zu müssen.

Seine Augen wanderten hin und her, als sich die Boa auf seine Schultern senkte. Er sagte etwas, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Die Musik unten war sehr laut geworden. Er war bei Weitem nicht so groß wie Tim, und ich erinnere mich, dass genau dieser Unterschied anziehend wirkte, wie ein greifbarer Beweis dafür, dass in meinem Bewusstsein eine kleine, aber dauerhafte Verschiebung der Perspektive stattfand. Wir schauten einander unverwandt an, die Augen auf einer Höhe und leuchtend vor Spannung. Er legte einen Finger auf den Schnitt in meiner Lippe und zog ihn sanft nach.

Und mehr war nicht erforderlich. Ich presste meinen verletzten Mund auf seinen. Geistreiche Dialoge führten wir nicht. Vielleicht kann ich mich auch bloß nicht daran erinnern, aber das halte ich für eher unwahrscheinlich. Ehrlich gesagt, so betrunken war ich nun auch wieder nicht. Meine Jacke lag unter allen anderen, und ich erinnere mich noch genau an das gedämpfte Piepsen meines Handys aus der Jackentasche. Es hätte vermutlich auch das Handy von jemand anderem sein können, aber ich hielt es für meins, und ich weiß noch, was für ein gutes Gefühl es war, es zu ignorieren.