Kapitel 14
Noch während ich die Prüfung machte, wusste ich, dass ich sie nicht bestehen würde. Listen Sie die Hydroxybutanal-Strukturen auf, die R-Konfigurationen haben. Ich bin mir nicht sicher, warum ich mich zwang, die vollen anderthalb Stunden zu bleiben. Welches Drehmuster würden Sie bei H-Atomen (grün) in den unten gezeigten Strukturen erwarten? Wahrscheinlich hätte ich dieselbe Note bekommen, wenn ich nach der ersten Viertelstunde abgegeben hätte.
Aber ich arbeitete mich durch jede Frage, so gut ich konnte, ruhig und ohne Eile. Tief in meinem Inneren hatte ich die Wahrheit bereits akzeptiert. Zwei von drei Studenten würden nicht zum Medizinstudium zugelassen werden - und eine davon war ich. Doch in diesen letzten anderthalb Stunden gab ich mein Bestes, bis sich die Lehrassistentin räusperte. Obwohl ich eine Veränderung wollte, brauchte ich anscheinend noch einen Schubs. Ich war noch nicht bereit zu springen.
Aber am Ende kam es auf dasselbe raus. Ich zog meinen Mantel an, gab meine Arbeit ab und ging in den kalten Morgen hinaus. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos; die Turmglocken läuteten. Auf der anderen Straßenseite arbeiteten zwei Männer auf Leitern, um mit Tauen einen riesigen Adventskranz über dem Eingang von Strong Hall aufzuhängen. Die Männer redeten nicht miteinander, aber ihre Bewegungen schienen aufeinander abgestimmt zu sein, und der Kranz hob sich langsam und pendelte sich über dem Tor ein. Ich setzte mich auf eine Bank und schaute zu. So etwas konnte ich mir nun leisten. Es war vorbei. Es gab nichts mehr zu büffeln, keinen Termindruck mehr, der drohend über mir schwebte. Es gab keinen Ort mehr, an dem ich jetzt sein musste.
Und dann kehrte der Schmerz in meiner Brust zurück. Während der Prüfung - und zwar nur während der Prüfung - war ich frei von der tiefen Trauer gewesen, mit der ich am Vorabend zu Bett gegangen war. Doch jetzt gab es nichts mehr, was mich abgelenkt hätte. Die Bank war aus Beton, und je länger ich da saß, desto kälter wurde es. Aber ich stand nicht auf. Der Adventskranz verschwamm vor meinen Augen, und ich zog mir meine Mütze tief ins Gesicht.
»Wie ist es denn gelaufen?«
Ich blickte auf. Tim stand vor mir, ohne Jacke, in demselben Pullover, den er schon gestern Abend getragen hatte, die Hände tief in seine Jeanstaschen gesteckt. Ich wollte lächeln, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht hielt mich davon ab. Sein dunkles Haar war gebürstet, sein Kinn glatt rasiert, aber ich konnte ihm an seinen Augen ansehen, dass er nicht geschlafen hatte.
»Ich war in der Bibliothek.« Er deutete mit dem Kopf hinter sich. »Ich habe dich gesehen und dachte, ich komme kurz vorbei, um zu fragen, wie es gelaufen ist. Die Prüfung, meine ich.«
Ich schüttelte den Kopf. Es war furchtbar, dass ich der Grund war, warum er so müde und traurig aussah. Wenn ich die Hand ausstreckte oder auch nur versuchte, mich ihm zu nähern, würde er mich daran hindern, das wusste ich. Aber er sah mich weiter an und wartete. Er wollte wirklich wissen, wie es mir bei dem Test ergangen war.
»Schlecht«, antwortete ich.
Er schüttelte den Kopf. »Bestimmt war es nicht so ...«
»Doch. War es. Wirklich. Aber das ist schon okay. Es macht mir nichts aus.« Ich starrte auf den Bürgersteig neben seinen Füßen und bemühte mich, nicht zu weinen. Wenn ich das täte, würde er Mitleid mit mir haben, und das wäre nicht richtig. Ich tat so, als müsste ich gähnen.
Er verlagerte sein Gewicht und verschränkte die Arme. Er bedeutete mir, ein Stück zur Seite zu rücken, setzte sich so weit wie möglich von mir entfernt auf die Bank und fing an, in seiner Büchertasche zu kramen. Dann nahm er einen Taschenrechner heraus, noch einen Taschenrechner, ein Buch mit dem Titel Thermo-Fluid-Systeme, eine Dose Cola, den Sportteil einer Tageszeitung und eine Orange. »Ich dachte, dass ich vielleicht ein Taschentuch dabeihätte«, erklärte er. »Vor ein paar Wochen hatte ich doch diese Erkältung.«
Ich lächelte und wischte mir die Wangen mit dem Handrücken ab. »Danke, dass du nachgeschaut hast«, sagte ich und schaute von ihm weg, auf die andere Straßenseite. Der Kranz hing jetzt über dem Eingang. Die Arbeiter standen darunter und schauten ihn an. Einer von ihnen zeigte auf die rote Schleife.
»Wenn du nicht bei mir einziehen wolltest, hättest du es ruhig sagen können.« Tim warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu. »Falls das wirklich das Problem war.«
Ich nickte, starrte aber immer noch auf den Kranz. Letztes Jahr um diese Zeit waren meine Eltern noch verheiratet gewesen, und ich machte mich gerade bereit, um über die Winterferien nach Hause zu fahren. Vielleicht war der Dachdecker schon im Spiel gewesen, aber ich hatte es damals noch nicht gewusst. Am ersten Weihnachtsfeiertag hatte meine Familie morgens Geschenke ausgepackt, wir hatten im Esszimmer Truthahn gegessen und waren dann zu Mr. Wansings Nachbarschafts-Kuchenparty gegangen - genau wie jedes Jahr. Als wir klein waren, waren es noch beide Wansings gewesen, Mann und Frau. Mrs. Wansing starb, als ich in der dritten Klasse war, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie sich vorsichtig vor mich kauerte, mir in die Augen sah und ganz ernst fragte, ob ich Kürbis- oder Nusskuchen wolle. Nach ihrem Tod glaubte meine Mutter nicht, dass Mr. Wansing immer noch alle zu sich einladen würde. Doch er tat es. Er kaufte die Kuchen im Geschäft, und obwohl sie nicht so gut waren wie die selbst gebackenen von Mrs. Wansing, war alles andere wie immer. Er deckte den Tisch mit poliertem Silberbesteck und servierte Schlagsahne, genauso, wie sie es gemacht hatte. Außerdem stellte er ein gerahmtes Foto von ihr auf den großen Tisch, auf dem all die Kuchen standen, damit es so aussah, als schaue sie zu und lächele ihre vertrauten Gäste an.
Und letztes Jahr waren wir alle dort gewesen: meine Mutter und mein Vater, Elise, Charlie und ich. Ich hatte mir nicht viel dabei gedacht. Ich hatte nicht geahnt, dass es das letzte Mal sein würde, dass sich danach alles ändern würde.
Tim stützte die Ellbogen auf seine Knie. Obwohl er die Knie geknickt hatte, ragten seine Beine weit auf den Bürgersteig. Als ein Mann vorbeiging, zog er sie ein. »Ich habe bloß gefragt«, sagte er, »weil ich dir helfen wollte. Du hasst deinen Job, stimmt's? Ich habe versucht, dir zu helfen.«
»Ich weiß«, erwiderte ich.
Er verdrehte die Augen. »Okay, das stimmt nicht ganz. Ich wollte, dass du einziehst. Meinetwegen.«
»Aber du wolltest mir auch helfen. Das weiß ich.«
Er warf mir einen langen, forschenden Blick zu und ließ ihn von einem meiner Augen zum anderen wandern. Dann verzog sich sein Mund zu etwas, das beinahe wie ein Lächeln aussah. »Ich vergesse immer wieder, wie jung du bist.« Jetzt sah er wieder unglücklich aus. »Das macht einen Unterschied, denke ich.«
Ich nickte. Entgegen der allgemeinen Überzeugung war es nicht immer so toll, jung und verliebt zu sein. Und trotzdem musste ich mich sogar in diesem Moment auf meine Hände setzen, damit sie nicht zu ihm wanderten. Es war wie ein körperlicher Zwang.
Eine Weile saßen wir auf der Bank, ohne etwas zu sagen. Jemand ging vorbei und gab jedem von uns ein Flugblatt für einen Garagenflohmarkt.
Er rieb sich die Augen und sah mich an. »Was willst du, Veronica? Willst du mehr ausgehen? Willst du andere Jungs kennenlernen und dann wieder mit mir zusammenkommen? Das mache ich nicht mit. Das kann ich dir gleich sagen.«
»Nein. Das will ich nicht.«
»Was dann? Weißt du es?« Er deutete auf sich. »Ich weiß es nämlich.« Seine Ohren waren an den Spitzen leicht gerötet, vielleicht von der Kälte, vielleicht auch nicht. Er blinzelte in den Himmel. »Irgendwann ... möchte ich das haben, was meine Eltern haben. Das ist nicht so schlimm. Sie sind ziemlich glücklich. Okay? Ich weiß, dass du die Ehe im Moment eher zynisch siehst. Aber manchmal klappt es einfach. Das wüsstest du, wenn du meine Eltern einmal kennengelernt hättest.«
Das stimmte wahrscheinlich. Zwei Geschichten über sie hatten sich mir eingeprägt. Die erste - die noch aus der Zeit vor der Geburt von Tims ältestem Bruder stammte - war, dass seine Mutter einen Autounfall gehabt und dabei so schlimme Verbrennungen an ihrem linken Arm und ihrem Nacken erlitten hatte, dass sie monatelang im Krankenhaus liegen musste. Tims Vater hatte jede freie Minute bei ihr verbracht, um ihr vorzulesen oder einfach bei ihr zu sitzen, damit sie wusste, dass sie nicht allein war. Die zweite war erst letztes Jahr passiert. Die beiden waren gebeten worden, ein Kino zu verlassen, weil sie bei einem Film, der nicht komisch sein sollte, zu viel gelacht hatten.
»Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt«, sagte ich, weil es stimmte. Er drehte den Kopf um und sah mich zornig an.
»Warum?«, fragte er. »Aus welchem Grund? Reine Neugier?«
Ich schüttelte den Kopf, als wäre das eine vernünftige Antwort. Er wartete.
»Ich will ...« Ich rieb mir die Augen und versuchte nachzudenken. »Ich will mit dir zusammen sein, aber ...« Aber was? Mir fiel das richtige Wort nicht ein. Es war dasselbe Gefühl wie in dem LKW, als wir an allen Ausfahrten vorbeirollten. »Bei dir einzuziehen wäre so leicht. Es ist das, was ich mir wünsche. Aber es wäre vielleicht nicht gut für mich.« Noch während ich es sagte, hörte ich, wie kalt die Worte klangen, und ich hoffte, er würde an meiner Stimme merken, dass sie überhaupt nicht kalt gemeint waren. »Was ich gestern Abend gesagt habe, habe ich alles so gemeint. Ich habe eine große Dummheit gemacht, und ich möchte immer noch mit dir zusammen sein.« Ich langte zu ihm hinüber und zupfte am Bund seines Pullovers. Dort ließ ich meine Hand liegen, und eine Weile rührte er sich nicht.
Aber irgendwann tat er es doch. Schweigend packte er seine Sachen wieder ein. Als er endlich etwas sagte, dachte ich, ich würde eine Antwort bekommen, so oder so. Doch er starrte nur in den blauen Himmel und erzählte, das Wetter solle umschlagen, vielleicht werde es schneien. Ich schloss die Augen.
»Hör mal«, sagte er, als er aufstand. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich brauche ein bisschen Zeit.«
Überrascht riss ich die Augen auf. Er musste es bemerkt haben, denn er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er fest. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Ich nickte ernst. Ich verstand, was er meinte. Aber ich war trotzdem voller Hoffnung. Allein die Tatsache, dass er über uns nachdenken wollte, war tröstlich. Wann wusste jemals jemand wirklich, was er wollte? Menschen, die Jahrzehnte miteinander verheiratet gewesen waren, brachen Versprechen, die sie sich selbst und ihrem Partner gegeben hatten, gute Absichten hin oder her. So war es nun mal mit der Liebe. Entweder man hatte einen Plan B, oder man musste sich schnell einen zurechtlegen. Was Tim in dieser Woche auch beschließen mochte, er konnte seine Meinung jederzeit ändern.
Als ich ins Wohnheim zurückkam und meine Zimmertür aufmachte, sah ich meine Mutter neben Bowzer auf dem Fußboden sitzen - oder vielmehr auf Zeitungen, die überall herumlagen -, vor sich einen großen Eimer mit Sand. Ein dunkelhaariges Mädchen in einer rosa Kapuzenjacke saß rechts von ihr, Gretchen links. Drei andere Mädchen, die mir vage bekannt vorkamen, vervollständigten den Kreis um den Eimer. Alle schaufelten mit den Händen Sand aus dem Eimer und füllten ihn in kleine Papiertüten.
Bowzer bemerkte mich zuerst. Er wedelte mit seinem Stummelschwanz und rappelte sich hoch. Ein bisschen Urin tropfte herunter und bildete eine Pfütze auf dem Linoleumboden.
Meine Mutter blickte auf. »Oh, hallo, Liebes! Wie war die Prüfung?« Sie folgte meinem Blick zu Bowzer. »Ups«, kommentierte sie und stand auf. »Ich mach das schon. Ist ja nicht viel. Wischtücher habe ich in meiner Handtasche.«
»Hey, Veronica.« Gretchen winkte mir zu. Sie wirkte unbeschwert und entspannt - so, als wäre sie schon eine ganze Weile da. Dabei hatte auch sie heute Morgen die Chemieprüfung gemacht. Wir hatten denselben Bus genommen und waren zusammen in den Prüfungsraum gegangen. Aber sie war natürlich früher fertig geworden als ich. »Ich bin nur hergekommen, um mit dir zum Lunch zu gehen«, erklärte sie und schüttelte eine neue Tüte auf. »Und anscheinend genau zur richtigen Zeit.«
Ich schaute Bowzer an, dann wieder meine Mutter. Sie hatte den Fleck schon weggewischt und rieb mit einem anderen Tuch den Boden trocken.
»Ach so«, sagte sie. »Mach dir deswegen keine Sorgen.« Sie warf beide Tücher in den Mülleimer und wischte sich mit einem anderen die Hände ab. »Ich habe die Situation erklärt. Sie mögen Hunde. Alles in Ordnung.«
Alle blickten auf und nickten zustimmend. Ich trat einen Schritt zurück und überlegte, wo ich meine Tasche abstellen sollte. Noch nie hatte ich so viele Leute in meinem Zimmer gehabt.
»Wir machen Luminarias. Lichttüten«, erklärte meine Mutter. Sie schwenkte ihre Hände über dem Kopf, um sie an der Luft zu trocknen. »Für Weihnachten. Ich nenne sie jedenfalls Luminarias. Wie nennst du sie noch gleich, Inez?«
»Farolitos.« Das dunkelhaarige Mädchen hob den Kopf und lächelte. »Sie sehen bestimmt gut aus, wenn es schneit.« Dann zuckte sie die Achseln. »Sie sehen auf jeden Fall gut aus.«
Inez. Falls es nicht zwei Mädchen namens Inez auf meiner Etage gab, war das Inez aus Albuquerque, der erste Mensch aus Albuquerque, den meine Mutter kennengelernt hatte. Sie trug silberne Kreolen, so groß, dass sie ihre Schultern berührten, und ihr Haar war tiefschwarz und sehr glatt.
»Das sind nur Kerzen, Tüten und Sand.« Meine Mutter nickte Inez zu, lächelte und schaute dann erneut mich an. »Du hast den Einkauf bei Hobby Lobby verpasst.« Sie hockte sich wieder auf den Boden. »Setz dich doch, Liebes. Du kannst auch ein paar machen. Man kippt einfach genug Sand in die Tüte, damit sie schwer genug wird, und stellt eine Kerze hinein. Das macht Spaß.« Wieder sah sie zu mir. »Wie war der Test?«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Blick wanderte zu den Votivkerzen, die in einer Ecke standen.
»Wo wollt ihr sie aufstellen?«, fragte ich. Schon meine Stimme machte mich zum Spielverderber. Und worüber machte ich mir eigentlich Sorgen? Wir hatten doch schon einen Hund im Zimmer. Warum nicht einen Hund und ein Feuer?
»Draußen«, antwortete Inez.
»Wo draußen?«
»Einfach draußen. Direkt vor dem Wohnheim. Dann sieht es endlich mal freundlicher aus.«
Ich fing Gretchens Blick auf. Sie schaute mich an, runzelte die Stirn und hörte auf, ihre Tüte mit Sand zu füllen. »Mist«, sagte sie. »Du hast recht.«
Meine Mutter nahm sich noch eine Hand voll Sand. »Recht womit?«
»Ich weiß nicht, ob man es uns erlaubt«, erklärte ich. »Nicht auf dem Gelände. Kerzen sind praktisch verboten.«
»Es besteht keine Brandgefahr«, beteuerte Inez. Sie streckte ihr Kinn vor und fixierte mich mit einem harten Blick. »So ein Quatsch. Bei uns zu Hause macht das jeder.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich behauptete nicht, etwas über Luminarias zu wissen, und ich war noch nie in Albuquerque gewesen. Ich wusste nur, dass die Vorschriften in Bezug auf offenes Feuer sehr streng waren. »Wir können versuchen, sie draußen aufzustellen«, schlug ich vor. »Mal sehen, ob jemand was sagt.«
»Vergiss es.« Inez stützte sich auf ihre Hände und starrte auf ein Stück Zeitung, das auf dem Boden lag. »Ich hasse es hier. Es ist blöd, auch nur zu versuchen, etwas zu verbessern.« Sie blickte auf und schaute aus dem Fenster. Ihre braunen Augen schimmerten feucht, aber ihr Gesicht war völlig unbewegt. »Ich kann die Ferien kaum noch erwarten. Sobald ich meine letzte Prüfung hinter mir habe, bin ich weg. In meinem Auto. Auf dem Heimweg.«
Zuerst sah ich auf den Boden und dann in ihr Gesicht. Hier war jemand, der das Wohnheim genauso hasste wie ich - vielleicht sogar noch mehr. Dabei war dieses Mädchen jünger als ich und in vielerlei Hinsicht weiter weg von zu Hause. Und ich hatte es schlimm gefunden, ein bisschen älter als alle anderen zu sein!
»Machen wir doch einfach weiter«, entschied meine Mutter. Ihre Hände bewegten sich unaufhörlich. »Ich weiß nicht, was wir sonst mit all dem Sand anfangen sollen.« Sie griff nach der nächsten Tüte. »Wir überlegen uns später, was wir damit machen.«
Diesen Satz hatte ich schon oft von ihr gehört. All die Jahre - an kalten Nachmittagen und bei Pfadfindertreffen - war jeder, der sich in der Obhut meiner Mutter befand, ermutigt worden, mehr Kekse zu backen, als man essen konnte, mehr Dekoration zu basteln, als man aufhängen konnte, und mehr Kerzenhalter herzustellen, als man verschenken konnte. Und wenn unsere Werke verbrannten, zerbrachen oder einfach nur albern aussahen - kein Problem! Für meine Mutter ging es nur um das Anfertigen. Das Endergebnis hatte sie nie besonders interessiert.
Aber Inez wirkte jetzt lustlos, als sie neuen Sand in eine Tüte packte, und ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie nur weitermachte, um nicht unhöflich zu sein. Wir arbeiteten schweigend. Ich konnte das Geräusch von rieselndem Sand und knisternden Papiertüten hören. Gretchen verlagerte ihr Gewicht und seufzte.
Meine Mutter stupste mich an. »Hast du keine Weihnachtsmusik?«
Ich blickte von meiner Papiertüte auf. »Weihnachtsmusik?«
Sie nickte.
Ich schüttelte den Kopf. Sie wirkte überrascht, aber nein, ich hatte keine Weihnachtsmusik. Ich war Junior am College und lebte praktisch in einer Schuhschachtel mit hoher Decke. Aber sie schien enttäuscht zu sein, als hätte ich endlich zugegeben, dass ich mich trotz all der Jahre sorgfältiger Erziehung nicht schriftlich für Geschenke bedankte oder mir die Hände wusch, nachdem ich auf der Toilette gewesen war. Meine Mutter hatte jede Menge Weihnachtsmusik. Ihre Lieblinge waren Händels Messias und ein Album, das mit Judy Garlands schwermütiger Stimme und dem Lied Have Yourself a Merry Little Christmas endete. All das und mehr hatte ich in meiner Kindheit jeden Dezember immer wieder gehört. Die CDs waren jetzt vielleicht in einem Pappkarton verstaut, wahrscheinlich draußen im Van.
Ein Mädchen hob eine sandige Hand. »Ich habe die CD von den Jingle Cats.«
Alle starrten sie an. Sie war hübsch, mit langem, lockigem, rotem Haar. Als sie lächelte, sah man ihre Zahnspange.
»Ihr wisst schon, diese Katzen, die singen. Es sind richtige Katzen. Meowy Christmas?« Sie sah uns ungläubig an. »Oh mein Gott! Ihr kennt das nicht? Meine ganze Familie steht darauf. Und wir sind Juden.« Achselzuckend schüttelte sie eine Tüte mit Sand. »Hava Nagila ist auch drauf.«
Die Katzen halfen tatsächlich. Ich schob die CD in meinen kleinen Apparat, und es war gleich von Anfang an komisch. Nicht so komisch, dass man sich halb totgelacht hätte, aber es war schwer, zuzuhören und keine Miene zu verziehen. Am Schluss von Stille Nacht rang sich sogar Inez ein Lächeln ab. Wir arbeiteten alle weiter und füllten die Tüten, die sich glatt und beruhigend in meinen Händen anfühlten. Ich hatte das Gefühl, Druck abzulassen - als würde sich ein verborgener Muskel in meinem Inneren endlich lockern. Eine Weile waren wir alle still, und nur die Katzen, die Musik und gelegentlich ein Lachen waren zu hören.
Natürlich dachte ich daran, wer das hier lieben würde, wer eigentlich dabei sein sollte. Ich berührte meine Mutter am Arm. »Hast du Marley gefragt?«, flüsterte ich.
Sie nickte, ohne mich anzuschauen.
»Ist sie in ihrem Zimmer?«
Wieder nickte sie. Sie sah mich immer noch nicht an. Aber als ich aufstand und Sand von meinen Händen schüttelte, griff sie über meinen Stiefel und drückte mein Knie.
Der graue Teppichboden sah vor Marleys Zimmer etwas ausgeblichener aus als im übrigen Flur - es war der einzige Teil, der regelmäßig Sonne abbekam. Sie ließ fast immer ihre Tür offen, wenn sie da war - eine ständige, hoffnungsvolle Aufforderung an alle, bei ihr hereinzuschauen. Oder an fast alle. Vom Gang aus konnte ich nur die Spitze eines ihrer rosa Schweinchenslipper auf dem Fußboden sehen. Ich drückte mich an die Wand, als ich an die Tür klopfte.
»Herein.«
Rasch trat ich ins Zimmer. Sobald sie mich sah, starrte sie wieder auf ihre Arbeit.
»Was willst du?«, fragte sie.
Sie saß an ihrem Schreibtisch - wenigstens nahm ich an, dass es ihrer war. Das Zimmer war unverkennbar in zwei Hälften geteilt. Das Bett hinter mir war so ordentlich gemacht wie in einer Schaufensterauslage, mit einer geblümten Tagesdecke und passenden Zierkissen. Briefe einer Studentenverbindung, blau mit winzigen Gänseblümchen, hingen über dem Bett an der Wand. Auf der Kommode standen mehrere gerahmte Fotos von sonnengebräunten, lächelnden Mädchen in formeller Kleidung, die Köpfe aneinandergelegt, die Arme fast immer verschlungen. Ich betrachtete jedes einzelne Bild und versuchte, Marleys Mitbewohnerin zu entdecken. Es war wirklich nicht meine Schuld, dass ich sie nicht erkannte. Sie war praktisch nie da.
Das andere Bett war ungemacht. Die Quiltdecke, die Marley immer mit in die Lobby schleppte, war achtlos hingeworfen worden, und ein Kissen, dessen Bezug zu nichts passte, war auf den Boden gefallen. In einer Ecke lag das geblümte Kleid auf dem Boden, das sie getragen hatte, als ich sie anschrie. Das Waldhorn lag am Fußende des Bettes und sah mit all seinen geschwungenen Röhren schön und gleichzeitig kompliziert aus.
»Was willst du?«
Mein Blick wanderte zu ihrer Pinnwand. Sie hatte eine Ansichtskarte, auf der ein Junge mit einer Fritte in der Nase war, und eine andere von einem Frettchen, das gerade gebadet wurde, darangesteckt. Es gab noch ein großes Schwarz-Weiß-Poster von einem Mann mit Fliege, der Waldhorn spielte, aber auch das war nur mit Tesafilm an die Wand geklebt. Nur ein Bild war gerahmt, es stand auf ihrem Schreibtisch: Eine Frau mit schwarzer Brille saß am Klavier, neben sich ein lächelndes, kleines Mädchen. Ich beugte mich vor, um es besser anschauen zu können.
»Bist du das?«, fragte ich. »Mit deiner Mom?«
Sie nahm das Bild und drehte es um, sodass ich es nicht mehr von vorne sehen konnte. »Komm nicht hier rein und stell mir Fragen! Komm nicht hier rein und frag nach meiner Mom! Du bist noch nie in meinem Zimmer gewesen.« Wieder blickte sie auf. »Zum letzten Mal, was willst du?«, fragte sie. »Ich habe zu tun, wie du siehst.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, woran sie arbeitete. Ihr Schreibtisch war kreuz und quer mit Notenblättern übersät, die überall in Marleys eigener Handschrift bekritzelt waren. Warum mir das seltsam vorkam, weiß ich nicht. Ich hatte die Vorstellung, dass Leute, die ein Instrument spielten, Musik irgendwie auf magische Weise erfassten und wiedergaben. Natürlich wusste ich, dass sie üben mussten. Aber ich hatte es mir nie so vorgestellt, dass sie Musik richtig studierten, darüber nachdachten, wie ich vielleicht über ein Buch nachdachte.
»Möchtest du nicht in mein Zimmer kommen?« Schon wollte ich mich auf das Bett ihrer Mitbewohnerin setzen, ließ es dann aber doch lieber. »Wir machen Luminarias, aber das weißt du ja schon. Du solltest auch kommen, Marley.« Ich bückte mich und versuchte, ihren Blick einzufangen. »Bitte. Ich würde mich wirklich freuen.«
»Ich werde dein Zimmer nie wieder betreten.«
»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich.
Sie blickte auf. Ihre Nasenflügel bebten, und ihre Augen waren matt vor Traurigkeit. Erst jetzt begriff ich, wie sehr ich sie verletzt hatte und wie sehr sie vorher verletzt worden war.
»Ich nehme es zur Kenntnis. Und jetzt geh bitte.«
Ich hob einen Finger und überlegte. Auch heute Morgen bei der Prüfung hatte ich mich abgeplagt, um Lösungen für dieses oder jenes Problem zu finden. Die meisten waren falsch gewesen. Aber nicht alle. Also dachte ich angestrengt nach.
»Und wenn ich gehe?«, fragte ich. »Wenn ich gleich jetzt gehe und verspreche, in den nächsten Stunden nicht zurückzukommen? Ich meine, ich bin das Problem, nicht das Zimmer, oder?«
Treffer. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das würde gehen«, räumte sie ein.
Ich ergänzte, dass ich ein paar Minuten bräuchte, um meine Sachen zu holen. Kleine Schritte, sagte ich mir. Sie würde mir nicht von einem Moment auf den anderen verzeihen. Und darum ging es auch gar nicht. Sie brauchte Gesellschaft mehr als ich, und wenigstens das war ich ihr schuldig.
In meinem Zimmer griff ich mir Tasche, Mantel und Schlüssel und teilte der Allgemeinheit mit, dass ich eine Weile wegmüsse und Marley gleich käme. Meine Mutter und Gretchen beobachteten mich, aber keine von beiden sagte etwas. Ich wusste nicht, wohin ich sollte, was ich mit diesem Nachmittag anfangen würde.
Bevor ich das Wohnheim verließ, schaute ich in Gordon Goodmans Büro vorbei. Er runzelte die Stirn, als die Worte Kerze und Papiertüte in einem Satz vorkamen. Aber als ich ihm von Inez erzählte und wie viel Heimweh sie anscheinend hatte, kratzte er sich am Kinn und machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Heute Abend?«, fragte er. »Ihr wollt sie heute Abend rausstellen?«
»Heute Abend wäre am besten«, erwiderte ich. Wenn wir erst Formulare ausfüllen und eine Woche warten müssten, hätte Inez recht: Der Ort, an dem wir lebten, würde uns nicht wie unser Zuhause vorkommen.
»Ich muss ein paar Anrufe machen«, sagte er. »Komm rein und setz dich.«
Auf seinem Schreibtisch hatte er einen hohen Stapel Papiere und einen Taschenrechner, aber er schob beides beiseite. Ich schlug vor, ich könne die Anrufe selbst erledigen, wenn er mir sagte, wen ich anrufen sollte, und mir die Nummern gab. Er schien sich über das Angebot zu freuen, lehnte es aber ab. Die Hausverwaltung würde mit ihm persönlich sprechen wollen, erklärte er. Und wegen der vielen blöden Fehlalarme kannte er fast jeden bei der Feuerwehr.
»Ich finde es toll, dass du das machst«, lobte er, das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Sein Lächeln war so anerkennend, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam. Er dachte, die Idee würde von mir stammen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass meine Mutter diejenige war, die alles organisiert hatte, oder dass sie meinen Job nach nur zwei Tagen besser machte als ich nach vier Monaten. Während er vier Anrufe tätigte und dafür ganze fünfundzwanzig Minuten am Telefon hing, war alles, was ich tun konnte, dazusitzen und ein dankbares Gesicht zu machen. Ich war dankbar und trotz meiner kleinen Schwindelei ermutigt. Manche Leute würden sich immer für einen ins Zeug legen, wenn sie merkten, dass man sich wirklich Mühe gab.
Als die offizielle Genehmigung kam, schickte ich Gretchen eine SMS, sie dürften die Lichter abends draußen aufstellen. Ich hätte auch anrufen können und somit vielleicht die Reaktion der anderen auf die Neuigkeit gehört, aber als ich aus Gordons Büro ging - vorbei an den piepsenden Videospielen in der Lobby und hinaus in den Nachmittag -, fühlte ich mich so wach und innerlich so ruhig, dass ich mit niemandem reden wollte. Der Himmel war immer noch klar und die Luft kalt, aber als ich erst einmal unterwegs war, fühlte ich mich wohl.
In dem Laden bot man mir zwei Möglichkeiten an: Ich konnte für mein Chemiebuch Bargeld bekommen - dreißig Prozent des Kaufpreises - oder vierzig Prozent in Gutscheinen. Ich kaufte mir ein gebrauchtes Exemplar von Middlemarch, Kaugummi, einen Hundekuchen aus organischer Erdnussbutter in Form einer Zuckerstange und einen herabgesetzten roten Strickschal.
»Wollen Sie es wirklich nicht behalten?«, fragte der Mann an der Kasse. Er strich über den Einband des Chemiebuches. »Es scheint Sie ein bisschen traurig zu stimmen, es herzugeben.«
Ich hätte zwar nicht gesagt, dass ich traurig war, aber mir war durchaus bewusst, was ich da gerade tat. In diesem Moment dachte ich nicht mehr bloß daran, aufzugeben, ich beschloss auch nicht, dass ich aufgeben sollte - ich gab tatsächlich auf. Und es war schwer, dieses dicke Buch anzuschauen und nicht an all die langen Tage und Nächte zu denken, die ich damit verbracht hatte und in denen ich mich mehr angestrengt hatte als je zuvor in meinem Leben. Doch jetzt war all die Arbeit, all die Mühe und Sorge, umsonst gewesen: Ich hatte versagt.
Auch das Gemeinschaftszentrum war festlich geschmückt. Blinkende Lichter und große Fahnen wünschten allen frohe Weihnachten, beziehungsweise ein schönes Kwanzaa- und Chanukka-Fest. Von dem Wechselgeld, das ich in dem Laden bekommen hatte, kaufte ich mir Kaffee und Pistazien. Ich fand einen leeren Sessel am Fenster, das so groß war, dass ich den Himmel sehen konnte, die ersten Wolken des kommenden Schnees am westlichen Horizont. Dann sah ich auf meine Uhr. Ich hatte Marley versprochen, einige Stunden wegzubleiben und war noch keine Dreiviertelstunde unterwegs. Ich schlug meine Beine übereinander, stellte sie nebeneinander, schlug sie wieder übereinander. Dabei betrachtete ich den Himmel. Immer wenn mein Vater sich einen seiner seltenen Urlaube gegönnt hatte - an Feiertagen und in den Sommerferien -, hatte er sich genauso verhalten, zappelig und nervös, unschlüssig, was er mit sich anfangen sollte.
Aber ich musste mich bloß daran gewöhnen. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Lesen. Middlemarch war genauso dick wie mein Chemiebuch, dennoch blätterte ich eine dünne Seite nach der anderen um. Im Sommer vor zwei Jahren hatte ich mir mit meiner Mutter und Elise die Verfilmung angeschaut, kurz vor Elises Hochzeit. Wir waren alle entsetzt gewesen, als Dorothea den gefühllosen, alten Mann heiratete, und litten mit ihr, als ihr bewusst wurde, was für einen Fehler sie begangen hatte. Bei der nächsten Werbepause schnalzte Elise mit der Zunge. »Eine Scheidung kam damals nicht infrage. Sie hängt fest. Ein Jammer.« Aber meine Mutter kannte das Buch und riet Elise, abzuwarten. Und tatsächlich, fast gleich nachdem der Film weiterging, starb der gruselige, alte Mann, zum Glück - denn Glück war es wirklich.
Als der Nachspann lief, klatschte Elise in die Hände. »Dann wird sie am Ende also doch noch glücklich. Schön!« Sie verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. Ich dachte immer noch an den letzten Satz: Aber ihre Wirkung auf die Menschen in ihrer Umgebung war unermesslich weitreichend; denn das Gute in der Welt hängt zum Teil von Taten ab, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Der Text war länger gewesen, aber den Rest hatte ich schon vergessen.
Meine Mutter stand von der Couch auf und streckte sich. »Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass sie glücklich ist.« Sie sah zur Treppe und runzelte die Stirn. Mein Vater war schon zu Bett gegangen. »Ihr solltet das Buch lesen«, empfahl sie uns.
Und das tat ich fast den ganzen kalten Nachmittag lang, als ich im Gemeinschaftszentrum saß. Schon am Anfang war in dem Film sehr viel weggelassen worden. Seit sie sich erinnern konnten, hatte es eine Mischung aus Kritik und Ehrfurcht in Celias Haltung gegenüber ihrer älteren Schwester gegeben. Die jüngere hatte stets ein Joch getragen, aber gibt es ein unterjochtes Geschöpf ohne persönliche Meinung? Ich unterstrich Sätze und machte Eselsohren in die Seiten. Hier findet sich eine Mine an Wahrheit, die, sosehr sie auch ausgebeutet werden mag, unsere Kohlevorkommen vermutlich überdauern wird. Als ich aufblickte, schien mir die untergehende Sonne hell in die Augen. Der Himmel war klar, mit nur wenigen orange und rot gesäumten Wolkenfetzen. Es hatte noch nicht geschneit, und vielleicht würde es auch nicht schneien.
Aber Inez hatte recht gehabt. Das konnte ich sehen, als ich auf dem Heimweg um die letzte Ecke bog. Selbst auf dem verdorrten Gras und dem matschigen Boden waren die Luminarias schön, vielleicht, weil es so viele waren. All die flackernden, tanzenden Lichter säumten die Gehwege rund um das Wohnheim. Einige Leute spazierten still um sie herum, und über mir sah ich an Hunderten von Fenstern Gesichter, die sich an die Scheiben pressten, und Hände, die Augen abschirmten.
Der Feueralarm ging kurz vor Tagesanbruch los. Meine Mutter tastete sich zu meinem Bett und packte in der Dunkelheit meinen Arm.
»Schon gut.« Ich gähnte, bevor ich die Augen aufmachte. Dann setzte ich mich langsam auf und knipste meine Lampe an. »Das ist bestimmt wieder ein Fehlalarm. Die haben wir ständig.«
Ich musste alles zweimal sagen. Die Sirene war so laut, dass sogar Bowzer sie hören konnte; er stand zitternd da und sah aus, als würde er sich am liebsten in den Schienbeinen meiner Mutter vergraben, ein Loch durch ihre Leggings und ihre Haut buddeln.
Als sie ihre Stiefel anzog, hielt ich ihn fest, und als ich in meine schlüpfte, hielt sie ihn. In weniger als einer Minute waren wir fertig und Bowzer unter dem zugeknöpften Mantel meiner Mutter. Bevor ich die Tür aufmachte, hakte sie ihren Arm unter meinen.
»Ich liebe dich«, sagte sie und schaute auf den Boden. Sie scherzte nicht. »Ich will, dass du das weißt. Okay? Ich finde, dass du richtig toll bist.«
»Mom.« Ich beugte mich zu ihr. »Ich liebe dich auch. Aber ehrlich, es ist bloß falscher Alarm.«
Draußen im Flur - in dem wirklich keine Rauchschwaden waren - ging meine Mutter langsam und mit gesenktem Kinn, um Bowzers Kopf nach unten zu drücken. Überall wurden Türen geöffnet. Mädchen in Schlafanzügen traten schimpfend auf den Flur und hielten sich die Ohren zu.
»Ich muss vorgehen«, schrie ich. Im Flur war die Sirene noch lauter. »Vielleicht gehst du Marley suchen und nimmst sie mit. Sie hat kein Auto.«
Gerade als wir an Marleys Tür vorbeigingen, wurde sie aufgemacht. Meine Mutter drehte sich einen Moment lang zu mir um. Da sie beide Hände voll hatte, nickte sie mir nur kurz zu.
Also war es Marley, die mit ihr die Treppe hinunterging, und es war auch Marley, die mir später erzählte, wie Bowzer genau in dem Moment, als alle durch die Doppeltür hinausströmten, seinen Kopf aus dem Mantel meiner Mutter gestreckt hatte. Der Typ vom Sicherheitsdienst, sagte Marley, sei ausgesprochen unfreundlich gewesen. Sie kenne seinen Namen nicht - es sei der mit dem Nasenring und der hübschen Freundin gewesen. Es habe so ausgesehen, als ob meine Mutter ihn kenne. Er habe versucht, ihr den Hund wegzunehmen, doch sie habe es nicht zugelassen. Er habe zu ihr gesagt, dass sie nicht weggehen dürfe, sondern mit ihm kommen müsse. Und er habe sie ständig Mom genannt.
Marley war überrascht von dem, was meine Mutter als Nächstes getan hatte, ich allerdings nicht. Sie war furchtlos geworden, aber sie war nicht dumm. Als Jimmy seine große Hand auf ihren Ellbogen gelegt hatte, hatte sie getan, was vielleicht jede Frau in mittleren Jahren, die vor nicht allzu langer Zeit Krafttraining gemacht hatte, zumindest versucht hätte, wenn sie mit einem Hund in den Armen von dem rachsüchtigen Sicherheitsbeamten eines Studentenwohnheimes zur Rede gestellt worden wäre: Sie hatte mit dem Finger über seine Schulter gezeigt, war in die Menge eingetaucht und weggerannt.
Gordon Goodman rieb sich die Augen und stützte sich mit einem Ellbogen auf dem Tisch ab. Er trug sein weißes T-Shirt verkehrt herum, und das Etikett schaute unter seinem Kinn aus dem Kragen hervor.
»Man darf im Wohnheim keine Hunde halten«, sagte er. Er drehte sich um, schaute aus dem Fenster und blinzelte in die aufgehende Sonne. Erst vor einer halben Stunde hatten die Feuerwehrwagen - die wieder umsonst gekommen waren - ihre Blaulichter abgestellt und waren weggefahren. Ich fragte mich, ob er es an einem Morgen wie diesem bereute, seinen Beruf als Anwalt aufgegeben zu haben.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Es tut mir leid.«
Er drehte sich wieder um und sah mich verstimmt an. Wir wussten beide, dass er nicht mit mir schimpfte, sondern mit sich selbst redete und versuchte, sich die Problematik der Situation zu vergegenwärtigen. Ich hatte ihm schon erzählt, dass meine Mutter aus ihrer Wohnung geworfen worden war und nicht wusste, wohin sie sollte.
Leider hatte ich es damit gleichzeitig auch Jimmy Liff verraten, denn der befand sich auf der anderen Seite der Scheibe und tat so, als müsste er am Schreibtisch Formulare ausfüllen. Vielleicht machte er das sogar wirklich - einen Bericht über mich und meine Mutter. Er stand genau auf der anderen Seite der Scheibe, mit gesenktem Kopf und so nah, dass sein Scheitel beinahe das Glas berührt hätte. Als ich ihn dort entdeckte, blickte er auf und lächelte. Da wusste ich, dass er jedes Wort gehört hatte.
Gordon zupfte an seinem Bart. »Ihr habt keine Verwandten in der Nähe?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Freunde? Irgendjemand, bei dem sie bleiben kann?«
»Ich glaube, es ist ihr peinlich. Und es ist schwer wegen dem Hund.«
Auf der anderen Seite des Fensters schnitt Jimmy eine Grimasse. Es wirkte total übertrieben, wie eine Karikatur, als wollte er sich über sich selbst lustig machen, darüber, was für ein Ekel er sein konnte. Gordon sah, wie sich mein Gesichtsausdruck veränderte, und folgte meinem Blick. Er stand auf, öffnete die Tür und sagte zu Jimmy, dass er das, womit er gerade beschäftigt sei, später beenden könne. Seine Stimme klang streng, und das war eine kleine Genugtuung, mehr aber auch nicht. Es war mir egal, was Jimmy Liff über all das dachte, und ich bezweifelte, dass es meine Mutter interessierte. Aber ich fand es widerlich, dass er so selbstgefällig aussah und mir in die Augen schaute, als er ein letztes Mal am Fenster vorbeimarschierte.
Sobald er weg war, verlegte ich mich aufs Bitten. Ich sagte Gordon, dass meine Mutter nur noch ein paar Tage eine Bleibe brauche und dass Bowzer niemanden störe. Niemand habe sich beschwert. Und es sei meine Mutter gewesen, die die Idee mit den Luminarias gehabt hatte. Sie habe alle ins Geschäft gefahren, um Kerzen und Sand zu kaufen. Sie mache meinen Job besser als ich.
Gordon zog die Augenbrauen hoch. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte ihn weich gekriegt. Natürlich würde er nachgeben. Meine Mutter war ein zu netter Mensch, um sie in einem Van schlafen zu lassen.
Aber dann schüttelte er den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er. »Sie kann nicht bleiben, nicht mit dem Hund.« Er runzelte die Stirn, spürte das Etikett unter seinem Kinn, schaute nach unten und stopfte es in das T-Shirt zurück. »Kann sie heute Nacht irgendwo unterkommen?«
»Das weiß ich nicht.« Langsam stand ich auf. Mein Kopf fühlte sich schwer an. Gordon starrte auf sein Regal, auf eine seiner glasierten Keramikschalen.
»Ich hätte gern, dass sie herkommt und mit mir redet. Glaubst du, du kannst sie dazu bringen, das zu tun? Sie bekommt keinen Ärger, okay? Ich möchte nur helfen.«
»Ich frage sie«, versprach ich. Er war nett. Ich ging auf die Tür zu.
»Veronica!«
Ich drehte mich um. Gordon war aufgestanden.
»Redest du heute mit ihr? Hat sie ein Handy? Kannst du sie irgendwie erreichen?«
Ich nickte, obwohl die Antwort auf die letzten beiden Fragen Nein lautete.
Später am Morgen rief sie aus einer Telefonzelle vor einem Supermarkt an. Doch sie wollte nicht mit Gordon sprechen. Nein, sagte sie, sie habe keine Angst vor Jimmy. Es habe ihr nicht gefallen, von ihm auf diese Art in die Enge getrieben und herumkommandiert zu werden. Aber es sei ihr egal, ob er da sei. Sie sagte, es sei ihr einfach unangenehm, dass sie mir so viel Ärger gemacht habe. Sie klang müde, aber nicht besonders aufgeregt. »Später hole ich meine restlichen Sachen ab«, fuhr sie fort. »Liebes, ich komme schon zurecht. Wirklich. Ich möchte dich nur eine Weile in Ruhe lassen.«
Aber ich ließ nicht locker. Ich bettelte und versprach ihr, dass es nicht lange dauern würde und dass ich bei Bowzer im Van warten würde. Als nichts davon funktionierte, erzählte ich ihr, der wahre Grund, warum sie kommen müsse, sei, dass man mich feuern würde, weil ich einen Hund in meinem Zimmer gehabt hätte, und dass ich eine Bestätigung meiner Geschichte bräuchte, damit mir mein Boss vielleicht noch eine Chance geben würde. Dabei ließ ich meine Stimme aufrichtig und kläglich zugleich klingen. Es war zu ihrem eigenen Besten, sagte ich mir. Wenn Gordon meine Mutter einmal kennengelernt hatte, konnte er unmöglich noch erwarten, dass sie im Van schlief. Sie würde ihn mit ihrem Charme bezaubern. Er würde verstehen, dass sie nichts von alldem verdient hatte - auch wenn sie sich nicht von dem Hund trennen wollte. Er würde die Regeln beugen und ihr erlauben, zu bleiben.
Ich irrte mich. Zwanzig Minuten nachdem meine Mutter ins Wohnheim gegangen war, kam sie mit einer handgeschriebenen Liste mit den Adressen von Sozialhilfeagenturen und Obdachlosenheimen zum Van zurück. Bowzer, der vor Aufregung über ihre Rückkehr zitterte, presste sich an meinen Arm. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, ließ ich ihn los. Er machte einen Satz und landete zwischen ihrem Schoß und dem Lenkrad.
»Und er glaubt, damit kann er dir helfen?« Ich riss ihr die Liste aus der Hand. Ich las Wörter wie »Heim«, »Krise«, »obdachlos«, »Notfall«. Gordon hatte sorgfältig Telefonnummern, Öffnungszeiten und Vorschriften notiert. Zu einer Adresse hatte er hinzugefügt: »Nach Carla fragen - Benzingutscheine.«
»Ich fand es sehr nett von ihm.« Sie nahm ihre Mütze ab und legte sie aufs Armaturenbrett. »Das Ganze ist nicht sein Problem. Aber so, wie er geredet hat, wäre man darauf nicht gekommen.« Sie nahm mir die Liste wieder weg und studierte sie. Wenn man berücksichtigte, dass sie heute Morgen nicht geduscht und den Großteil des Tages im Van verbracht hatte, sah sie eigentlich nicht schlecht aus. Sie trug den Schal, den ich ihr geschenkt hatte. Im Sonnenlicht, das durch die Scheiben fiel, sah er kratzig aus, aus billigem Garn angefertigt. Und das Rot war zu knallig für ihren Teint.
»Er hat mir noch ein paar Tipps für meine berufliche Laufbahn gegeben.« Sie blickte auf und lächelte mich an.
Ich wartete, aber sie winkte ab.
»Was? Was hat er gesagt?«
»Später. Vielleicht.« Sie starrte wieder auf die Liste. »Dort sind nirgendwo Hunde erlaubt.«
»Mom. Das ist egal. Du gehst nicht in ein Obdachlosenheim.«
Sie wollte etwas sagen, aber als sie mein Gesicht sah, hörte sie auf zu lächeln, und ganz plötzlich sah sie aus, als wäre ihre Haut auf einmal zu schwer für ihr Gesicht. Sie legte eine Hand über ihre Augen und wandte sich ab.
»Mom. Lass mich Elise anrufen.«
Sie schüttelte den Kopf. Dabei hielt sie immer noch die Hand über ihre Augen, einen Ellbogen auf das Lenkrad gestützt. Bowzer schnaubte zufrieden auf ihrem Schoß.
»Dann eben Dad. Ich werde nichts von dir sagen, sondern einfach behaupten, dass ich Geld brauche. Ich lasse mir irgendetwas einfallen. Ich ...«
Sie legte ihre Hand auf mein Knie. »Hör bitte auf«, sagte sie. »Bitte. Ich brauche einfach einen Moment Ruhe. Ein bisschen Würde ist mir noch geblieben, und die würde ich gern behalten. Mir fällt schon etwas ein, wenn du mir nur eine Minute Zeit lässt. Okay? Ich überlege mir etwas.«
Ich gab ihr eine Minute Zeit. Dann zwei. Dann fünf. Dann zehn. Sie sagte nichts und ich auch nicht. Stattdessen schaute ich aus dem Fenster in den Himmel, der heute Morgen fahl und grau war, aber noch keine Anzeichen für Schnee zeigte. Tim. Ich könnte Tim anrufen und ihn bitten, den Hund zu nehmen. Meine Mutter würde bei ihm bleiben können. Aber ich konnte ihn nicht anrufen. Ein paar Tage nach der Sache mit Clyde-vom-dritten-Stock schien nicht der beste Zeitpunkt zu sein, um ihn zu bitten, den leicht inkontinenten Hund meiner Mutter aufzunehmen. Man konnte jemanden nicht erst wegstoßen und sich dann auf ihn stützen. Und obwohl meine Mutter schwieg und bis jetzt noch keine Idee hatte, wusste ich, dass sie - wenn sie Bescheid wüsste - sicherlich nicht wollen würde, dass ich Tim anrief.
Außerdem dachte ich, dass sie nachgeben würde, wenn ich lange genug wartete. Sie würde mir erlauben, Elise anzurufen oder meinen Vater zu belügen. Ihr würde klarwerden, dass es keine andere Möglichkeit gab.
Aber sie gab nicht nach. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Im Wagen wurde es kalt. Sie hatte eine Hand auf Bowzers Rücken gelegt und trommelte mit der anderen auf das Lenkrad. Ihre Augen spähten über den Parkplatz, obwohl es dort nichts zu sehen gab. Vielleicht würden wir beide den ganzen Tag lang so dasitzen. Je mehr Zeit verging, desto wahrscheinlicher schien das zu werden. Ich wollte sie nicht allein auf dem Parkplatz zurücklassen. Doch obwohl sie sich weigerte, es zuzugeben, gab es für sie wirklich keinen Ort, wo sie mit Bowzer hätte hingehen können.
Und dann gab es plötzlich doch einen.
Unsere Rettung nahte in der unerwarteten Gestalt - und dem sehr ungewohnten Anblick - Haylie Butterfields, die auf der anderen Seite des Parkplatzes aus dem Bus stieg. Ich brauchte einen Moment, bis ich sie erkannte - nicht wegen der dunklen Haare, an die hatte ich mich gewöhnt, sondern weil ich sie in den letzten fünf Monaten nur in Jimmys Auto gesehen hatte, wenn sie unterwegs war; sie nahm nie den Bus. Außerdem trug sie Laufschuhe. Sie hatte den roten Lackmantel und einen langen, schwarzen Rock an und sah von den Knöcheln aufwärts auffallend und glamourös wie immer aus, aber unterhalb der Knöchel: Laufschuhe. Hellblau mit weißen Streifen.
»Ist das nicht ...?« Meine Mutter starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe.
Ich nickte, während ich beobachtete, wie Haylie auf den Eingang des Wohnheims zuging. Etliche andere Leute waren gleichzeitig mit ihr ausgestiegen, aber sie war ihnen schon weit voraus. Sie bewegte sich mit schnellen, forschen Schritten und war fast schon bei der Tür, als sie plötzlich - als hätte sie die Blicke von mir und meiner Mutter gefühlt - stehen blieb und sich umdrehte. Sie schirmte ihre Augen mit dem Handrücken ab und kam auf uns zu.
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf. »Sie sollte lieber nicht herkommen«, sagte ich. »Es sollte lieber nicht um Jimmys Auto gehen.«
»Schon gut, Liebes«, beruhigte mich meine Mutter. »Du weißt nicht, was sie von uns will.« Trotzdem drückte sie auf den Knopf für die Zentralverriegelung.
Als Haylie noch ungefähr fünf Meter entfernt war, steuerte sie die Fahrerseite des Vans an. Ich entriegelte meine Tür und stieg aus. Es war nicht meine Schuld, dass meine Mutter eine schwere Zeit durchmachte, wenigstens nicht direkt. Aber ich wollte nicht, dass Haylie sie jetzt belästigte.
»Was willst du?«, fragte ich.
Sie sah mich an, senkte den Blick und versuchte, an mir vorbeizugehen. Ich stellte mich ihr in den
Weg.
»Was? Willst du uns wieder etwas über euer Auto vorjammern? Wie schlimm es ist, dass du den Bus nehmen musst? Fein.« Ich zeigte auf mich. »Du kannst mir was vorjammern, Haylie. Lass meine Mutter in Ruhe.«
Sie sah mich an, als wäre ich diejenige, die sie quälte, und nicht umgekehrt. Ihre Nase war von der Kälte gerötet.
»Ich habe extra den Bus genommen, um herzukommen«, sagte sie und senkte wieder den Blick. »Ich will bloß mit ihr reden. Mit ihr, nicht mit dir. Ist das okay?«
Ich schüttelte den Kopf. Der Bus fuhr nicht mal in die Gegend, in der sie lebten. Ich starrte ihre Laufschuhe an.
»Sprich einfach mit mir«, forderte ich sie auf.
Der Motor des Vans sprang an. Wir drehten uns beide um, als das Fenster auf der Seite meiner Mutter nach unten glitt. Sie legte ihren Arm auf den Türrahmen, und Bowzers Gesicht tauchte auf.
»Was ist denn los?« Meine Mutter runzelte die Stirn, als kalte Luft in den Wagen kam, und wickelte sich ihren Schal fester um den Hals.
»Ich soll Ihnen das hier geben.« Haylie griff in ihre Manteltasche und zog einen Umschlag heraus. Sie versuchte, ihn meiner Mutter zu geben. Als meine Mutter ihn nicht nahm, hob Haylie den Blick zum Himmel, der fast genau die Farbe ihrer Augen hatte. Und es war schwer, sie anzuschauen - sogar in diesem Moment - und nicht daran zu denken, wie unfair es war, dass sie so schön war. Haylie Butterfield würde immer schön sein, egal, was sie mit sich anstellte. Schwarzes Haar. Lila Haar. Zu viel Make-up. Ein Nasenring. Es wäre egal. Sie würde ihre Schönheit nicht loswerden - nicht einmal, wenn sie es versuchte.
»Jimmy hat mir gesagt, dass Sie im Studentenwohnheim leben«, erklärte sie. »Und was heute Morgen passiert ist. Er hat es mir erzählt. Ich habe meine Mom angerufen, und sie will, dass Sie sich gleich bei ihr melden. Sie hat gesagt, dass Sie bei ihr bleiben können. Der Hund auch.«
Wieder versuchte Haylie, den Umschlag zu überreichen, und diesmal nahm meine Mutter ihn.
»Darin steht ihre Telefonnummer. Und ich habe aufgeschrieben, wie man zu ihr kommt.« Sie schob sich eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr. »Sie wohnt in einem Apartment beim Med Center. Es ist ziemlich klein, und es gibt keinen Garten. Aber sie hat gesagt, dass Sie dort bleiben und den Hund mitbringen können, wenn es wirklich nur für eine Woche ist. Sie geht zurzeit auf die Schwesternschule und ist praktisch nie zu Hause. Deshalb ist mein Bruder in Oregon.«
Sorgenvoll betrachtete meine Mutter den Umschlag. Vielleicht dachte sie an Haylies kleinen Bruder, aber vielleicht war ihr auch gerade klargeworden, dass selbst diese neue und für sie beste Möglichkeit nicht schmerzlos sein würde. Wenn es nur für eine Woche ist. In jeder anderen Situation, in unserem früheren Leben, wäre das eine so zögerliche Einladung gewesen, dass meine Mutter sie nicht angenommen hätte. Sie und Haylies Mutter waren befreundet gewesen, mehr als nur Bekannte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie jemals gute Freundinnen gewesen waren. Doch im Moment konnte sich meine Mutter keine Sorgen darüber machen, ob sie sich anderen aufdrängte. Wenn das die einzige Möglichkeit war und diese an Bedingungen geknüpft war, na schön.
»Danke, Simone«, sagte meine Mutter und legte den Umschlag auf ihren Schoß.
Haylie wirkte verlegen. Ich wusste nicht, ob es das »Danke« oder das »Simone« war, was sie nicht hören wollte. Aber in diesem Augenblick wurde mir etwas anderes klar. Es hätte mich nicht überraschen dürfen, dass sie den weiten Weg gemacht hatte, um uns zu finden. Was auch immer sie in den letzten zwei Jahren versucht hatte, aus sich zu machen, etwas in ihr musste sich daran erinnert haben, wie man sich fühlte, wenn alles in die Brüche ging. Wirklich, es wäre überraschender gewesen, wenn sie über Jimmys Geschichte gelacht und sich kein bisschen Sorgen um meine Mutter gemacht hätte.
»Es tut mir leid«, sagte sie. Sie sah nur kurz zu mir. »Es tut mir leid, was er heute Morgen gemacht hat.«
Meine Mutter nickte. »Du kannst nichts dafür, Liebes. Du bist nicht er.«
Es war nett von ihr, das zu sagen, vielleicht das Netteste, was unter den gegebenen Umständen möglich war. Aber Haylie sah wieder verstört aus. Es war, als hätte meine Mutter ihr als Gegenleistung für das Geschenk, das der Umschlag beinhaltete, ein Problem aufgehalst. Sie zog den Gürtel ihres roten Mantels enger.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
»Sollen wir dich irgendwohin fahren?«
Für einen Moment überlegte sie. »Keine gute Idee«, entschied sie dann. »Ich will nach Hause.« Sie drehte sich um und ging zur Bushaltestelle. Auf halbem Weg blieb sie stehen. Meine Mutter und ich sprachen nicht miteinander - wir taten nicht einmal so, als würden wir etwas anderes tun, als sie zu beobachten. Haylie stand ein, zwei Minuten lang da, die Hände in ihre Manteltaschen gesteckt. Dann ging sie die Stufen zum Wohnheim hinauf.
Dort war sie immer noch und saß auf der obersten Stufe, als ich aus dem Wagen stieg. Sie starrte nach vorne, die Ellbogen auf den Knien, das hübsche Kinn auf ihre Hände gestützt. Als ich die Stufen hinauflief, fragte ich sie noch einmal, ob wir sie nicht fahren sollten. Meine Mutter winkte ihr vom Wagen aus zu, aber Haylie schüttelte wieder den Kopf.
Es gehe ihr gut, versicherte sie. Sie müsse nachdenken.