Kapitel 2

Ich hatte nicht immer Ärztin werden wollen. Ich wusste nur schon sehr lange, dass ich nicht Anwältin werden wollte. Elise ist sechs Jahre älter als ich, deshalb hatte ich, als wir heranwuchsen, nie eine Konkurrentin in ihr gesehen; man könnte eher sagen, dass sie mich beeindruckte. Sie beeindruckte eine Menge Leute. Als sie auf der Highschool war, gewann sie zwei Jahre hintereinander die Landesmeisterschaft in Rhetorik und Debattieren. Sie war Klassensprecherin und hielt als Jahrgangsbeste die Abschiedsrede bei der Abschlussfeier. In dem Sommer, bevor sie aufs College ging, besuchte sie eine Sitzung im Rathaus und stritt mit dem Bürgermeister über Mülltrennung. Ihre Argumente schloss sie mit einer so leidenschaftlichen Rede ab, dass sie es in die lokale Nachrichtensendung schaffte.

Meinen Vater beeindruckte sie nicht. Aber sie war mehr als imstande, sich ihm gegenüber zu behaupten, was mich tief beeindruckte. Wenn er laut wurde, kümmerte es sie nicht. Manchmal wurde auch sie laut. Sie stritten über alles: über ihre Freunde, über Tibet, über den Sinn der Erhöhung der Grundsteuer und darüber, ob mein Vater so viel Butter essen sollte. Beide waren schlagfertig; keiner von ihnen brauchte lange, um ein soeben gehörtes Argument zu widerlegen. Beim Abendbrot saßen meine Mutter und mein Vater einander an den Kopfenden des Tisches gegenüber und je eine Tochter an jeder Seite. Wenn wir diese Sitzordnung jemals geändert hätten und Elise meinem Vater gegenübergesessen hätte, wären meine Mutter und ich wie Zuschauer bei einem Tennisspiel gewesen, die schweigend beobachteten, wie die Bälle hin- und herflogen.

Manchmal schien es ihn zu stören, dass er nicht in der Lage war, Elise in irgendeiner Weise einzuschüchtern. Aber meistens schien es ihn zu freuen, einen Sparringspartner zu haben und außerdem daran beteiligt gewesen zu sein, eine jüngere und hübschere Version seiner selbst zu erschaffen. Als Elise ihr Jurastudium begann, pfiff er tagelang Yes, Sir, That's My Baby, wenn er durchs Haus lief.

Aus diesem Grund wollte ich natürlich mit etwas ähnlich Beeindruckendem aufwarten. Allerdings wollte ich nicht dasselbe machen, was Elise machte, nicht einmal etwas in dieser Richtung. Ich wollte etwas ganz anderes anfangen, etwas, was ich besser konnte - mein ganz eigenes Ding.

Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, was das sein sollte. Ich hatte gute Noten und las gern. Ich konnte eine Brücke machen. Als Mädchen hatte ich die üblichen beruflichen Fantasien gehegt: Meeresbiologin, Pferdetrainerin, Delfin-Expertin. Aber meine Eltern haben mich beide auf ihre Art von einem Beruf, der mit Tieren zu tun hatte, abgehalten. Die Vorbehalte meines Vaters waren pragmatischer Natur. »Doofkopf«, sagte er. »Schätzchen, Tierarzt ist einer der schlimmsten Berufe, den du dir aussuchen kannst. Du musst genauso lange studieren wie ein Humanmediziner und verdienst nur etwa ein Fünftel des Geldes, Süße. Warum solltest du dir das antun?«

Meine Mutter fand auch, dass ich eine andere Richtung einschlagen sollte, wenn auch aus einem ganz anderen Grund: Sie wies mich wiederholt darauf hin, dass ich meinen eigenen Hund vernachlässigte. »Du hast versprochen, dass du dich um den Welpen kümmerst, wenn wir dir einen schenken«, erinnerte sie mich. »Du hast gejammert, gebettelt und gesagt, du würdest ihn füttern und ausführen. Und wer kümmert sich jetzt um Bowzer? Wer geht mit ihm Gassi, wenn es draußen fünf Grad kalt ist? Wer füttert ihn? Wer sorgt dafür, dass er frisches Wasser bekommt? Wer macht hinter ihm sauber?«

Die Antwort lautete natürlich, dass meine Mutter all das machte. Bowzer war ein süßer Hund, ein munterer, kleiner Schnauzermischling, und als er noch jung war, spielten meine Schwester und ich gern an sonnigen Tagen mit ihm im Garten und kuschelten abends mit ihm. Mein Vater hatte Bowzer auf dem Schoß, wenn er sich die Nachrichten anschaute, hielt ihn wie ein Baby und kraulte ihm den Bauch. Aber es war meine Mutter, die wirklich für Bowzer sorgte - auch bevor er alt wurde und zu müffeln anfing. Als ich aufs College ging, war er taub und praktisch blind, und aus seinem Rücken stand eine Fetttasche wie ein Griff hervor. Als sich meine Eltern trennten, bekam meine Mutter automatisch das alleinige Sorgerecht für Bowzer.

Erst in meinem zweiten Collegejahr, nicht lange nach der Trennung meiner Eltern, kam mir der Gedanke, Medizin zu studieren. Ich hatte im ersten Jahr in Biologie glänzend abgeschnitten, und mir gefiel die Vorstellung, Menschen zu helfen. Ich hatte unsere Hausärztin immer bewundert, eine ruhige, fürsorgliche Frau, die einmal im Jahr Urlaub von ihren Mittelschichtpatienten nahm, um in Kenia Flüchtlingskinder zu impfen. Sie irrte sich so gut wie nie bei ihren Diagnosen oder Behandlungsmethoden, und selbst mein Vater sprach immer voller Hochachtung von ihr. Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas auf dem Gebiet der medizinischen Forschung erreichen. Ich sah mich in einem ruhigen Zimmer irgendetwas Wichtiges mit Teströhrchen machen, das dazu beitragen würde, viele Leben zu retten - oder wenigstens zu verbessern. Geld bedeutete mir nicht besonders viel, jedenfalls nicht auf die Art wie meinem Vater. (»Das wird es«, versicherte er mir ernst.) Aber es bedeutete mir sehr viel, wie sehr er sich freute, als ich ihm sagte, dass ich Pre Med belegen wollte, Vorbereitungskurse für das Medizinstudium.

»Das ist sehr klug von dir«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf mich, obwohl außer uns niemand in seinem Wagen war. Wir waren auf dem Weg zur Reinigung, um zwei seiner Anzüge abzuholen. Offensichtlich sei das eine Aufgabe, die man nur zu zweit bewältigen könne, wie er mir erklärte, denn warum, zum Teufel, solle eine Reinigung auf die Idee kommen, Kundenparkplätze anzubieten? Warum nicht einfach davon ausgehen, dass ein zahlender Kunde seine Tochter, die er über einen Monat nicht gesehen hatte, mitbrachte, damit er im Wagen warten konnte, während sie ins Geschäft lief, um seine Anzüge zu holen? Er ließ sich gut drei Minuten lang über dieses Thema aus, und ich sagte nichts. Bis vor Kurzem hatte meine Mutter seine Sachen aus der Reinigung geholt, und ich wusste nicht, wo oder wie sie geparkt hatte.

»Medizin. Gut.« Er öffnete den Aschenbecher am Armaturenbrett und fischte die Zettel für die Reinigung heraus. »Manchmal macht es mir Sorgen, Töchter zu haben. Erst unlängst habe ich einen Artikel gelesen. Weißt du, welche Studienfächer am College den höchsten Prozentsatz an Studentinnen haben?«

Ich schüttelte den Kopf. Er reichte mir die Zettel und hob seine Hand, um an den Fingern abzuzählen.

»Pädagogik. Sozialarbeit. Englisch. Und dann das Fach, bei dem es um die Betreuung von Kindern geht, ich habe vergessen, wie es heißt. Rate mal, was diese Berufe alle gemeinsam haben?«

Ich zuckte zusammen, als wir nur einen knappen halben Meter an einem Radfahrer vorbeifuhren. »Man verdient nicht viel damit?«

»Bingo.« Er deutete mit dem Kopf auf das Handschuhfach. »Darin ist ein Zwanziger. Damit kannst du bezahlen. Lass dir eine Quittung geben.« Er wendete abrupt und stellte sich vor einen Hydranten. »Rate, welches Fach am College den geringsten Prozentsatz an Studentinnen hat?«

Ich antwortete nicht sofort. Er schnippte mit den Fingern.

»Pre Med?«

»Technik. Aber du siehst, worauf es hinausläuft. Und dann wundern sich die Leute, warum Frauen weniger verdienen als Männer. Bitte, da hast du es! Diese Mädchen sind selbst schuld. Warum? Warum beschließen sie, arm zu sein? Du und Elise, ihr seid klug. Ihr sorgt für euch selbst.«

Er stellte den Motor ab und lächelte mich voller Wärme und Stolz an. Ich lächelte zurück. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass er wartete.

»Liebes«, sagte er freundlich. »Die Anzüge.«

Im Herbstsemester meines zweiten Collegejahres ging ich zu meinem ersten Beratungsseminar für Pre Med. Es fand in einem Hörsaal statt - anscheinend wusste man, dass zweitausend von uns kommen würden. Gretchen und ich waren zehn Minuten vor Beginn da, aber die einzigen freien Plätze waren oben auf der Galerie. Ich machte mir Sorgen, dass wir nichts verstehen würden, aber als der Studienberater auf das Podium trat, erschien sein Gesicht gleichzeitig - wie der Zauberer von Oz - auf einem riesigen Bildschirm, der von der Decke hing. Auf einem anderen Monitor waren die nötigen Kurse, Noten und Testergebnisse zu sehen, die für die Zulassung zum Medizinstudium erforderlich waren. »Sehen Sie nach links«, sagte der Berater zu uns, und circa zweitausend Leute drehten ihre Köpfe nach links. »Sehen Sie nach rechts«, forderte er uns auf, und wir, brave Studenten, die wir waren, befolgten auch diese Anweisung. »Freunden Sie sich mit keinem Ihrer Nachbarn zu gut an«, sagte er. »Denn nur einer von Ihnen wird es schaffen.«

Selbst damals, als ich noch keine Ahnung von Organischer Chemie hatte oder davon, wie viel Kummer sie mir bereiten würde, schien es ein ausgesprochen schlechtes Omen zu sein, dass bei dieser Veranstaltung meine Freundin Gretchen rechts von mir saß.

»Es kommt nicht darauf an, neben wem du sitzt«, versicherte sie mir. »Er hat es rein statistisch gemeint.«

Gretchen bekam es manchmal nicht mit, wenn ich Spaß machte. Aber davon abgesehen war sie beängstigend intelligent. Wenn das Leben fair wäre, wenn harte Arbeit und Disziplin tatsächlich über reine Begabung siegen könnten, dann hätte ich spielend diejenige sein können, die in beinahe jeder Dreiergruppe in diesem Hörsaal das Rennen machte. Gretchen hingegen ging viel aus. Sie hatte drei verschiedene gefälschte Ausweise. Im zweiten Jahr hatten wir zusammen um sieben Uhr morgens Labor, Anorganische Chemie, und Gretchen tauchte regelmäßig mit Mascaraspuren auf ihren Wangen und wirrem, nach Zigarettenqualm riechendem Haar auf. Aber sie wirkte nie besonders erledigt, wenn sie ihren Kittel anzog und ihre Schutzbrille aufsetzte. Sie arbeitete sich durch komplizierte Titrationen und Gleichungen, als schlendere sie bloß durch den Speisesaal, um sich Kaffee und Cornflakes zu holen - als sei es nichts, was ein Mädchen mit einem leichten Kater nicht bewältigen könnte. Sie war meistens schnell fertig.

In dem Jahr war ich noch halbwegs gut zurechtgekommen. Ich investierte viel Zeit in meine Arbeit, lernte die Formeln, das Periodensystem und die Gesetze der Thermodynamik auswendig. Wenn Gretchen ausging, blieb ich zu Hause und lernte. Und obwohl es mir ein bisschen unfair zu sein schien, dass ich so viel mehr arbeiten musste als sie, war ich froh, überhaupt mithalten zu können. Die Zukunft strahlte und schien sicher zu sein. Mein Vater fing an »Is' was, Doc?« zu sagen, wenn er eine Nachricht auf meinem Handy hinterließ.

Aber in diesem Jahr war es anders. Das erste Semester war fast vorbei, und schon war ich auf dem absteigenden Ast. Organische Chemie war das, womit ich schon im vergangenen Jahr gekämpft, Anorganische etwas, was ich kaum verstanden hatte - nur, dass jetzt auch noch sämtliche Diagramme in 3D waren. Zum ersten Mal kam es nicht mehr darauf an, wie viel ich lernte. Schon Anfang September ging ich zu meinem Tutor und bat um zusätzliche Hilfe. Aber als ich versuchte zu erklären, was ich nicht verstand, benutzte er das Wort »offensichtlich« sehr häufig und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an, als würde ich mir einen Spaß mit ihm erlauben. Als wäre ich ein kleines Kind, das vorgab, Chemie zu studieren - keine Zwanzigjährige konnte so beschränkt sein.

»Du musst die Organische einfach hinter dich bringen«, sagte Gretchen. »Es ist eine Hürde, mehr nicht. Lass dich davon nicht fertigmachen.«

Ich schob den Karton mit Chicken Satay über den Tisch und bot ihr ein Stück an. Wir saßen in der Halle des neunten Stockwerks und lernten. Die Tür zum Frauenflügel stand offen, damit Gretchen ihre Zimmertür sehen konnte. Sie war Betreuerin für das neunte Stockwerk und hatte einer Studentin aus Malaysia im ersten Semester versprochen, an diesem Abend bis zehn Uhr da zu sein, um ihr beim Lernen für die Führerscheinprüfung zu helfen. Gretchen war immer so nett und hilfsbereit. Sie hatte heute Abend nicht einmal Dienst: Ich war es, die das Walkie-Talkie dabeihatte. Es lag neben mir auf dem Tisch, und jedes Mal, wenn es klickte, machte ich die Augen zu und beschwor es zu schweigen. Bis jetzt schien es zu funktionieren.

»Im Ernst«, sagte Gretchen. »Nichts von dem Mist, den wir hier lernen, hat etwas damit zu tun, Arzt zu sein.« Sie winkte ab, als ich ihr von dem Hühnchen anbot, und nahm noch einen Schluck Kaffee. Es war Mittwoch, neun Uhr abends, und sie hatte sich schon die zweite Tasse aus dem Automaten in der Eingangshalle geholt. In ihrer Lieblingskneipe war mittwochabends Ladies' Night - wenn wir fertig waren, wollte sie noch ausgehen. »Nach der Aufnahmeprüfung kannst du das alles vergessen«, sagte sie. »Mach's wie die Bulimikerinnen, okay? Gehirn vollstopfen, Test machen, entleeren. Das Ganze von vorne.«

Ich versuchte, beruhigt auszusehen, damit sie aufhörte zu reden. Ich war froh, dass sie mit mir lernte, weil es wirklich ein Akt der Nächstenliebe von ihr war: Sie war im Buch schon ein Kapitel weiter als ich. Aber ich konnte nicht gleichzeitig reden und ihr zuhören. Das R/S-System hat kein festes Verhältnis zum D/L-System. Zum Beispiel enthält die Seitenkette eins von Serin eine Hydroxygruppe - OH. Ich schlug im Lexikon am Ende des Buches nach. Das war Englisch. Das war meine Muttersprache. Es gab keinen Grund, warum ich es nicht verstehen sollte. Mir war ein bisschen warm. Ich zog meinen Pullover aus und schaute wieder in das Buch. Gretchen machte sich Notizen und blätterte eine Seite weiter.

»Können wir das noch mal durchgehen?« Ich beugte mich zu ihr vor. »Mir ist nicht einmal richtig klar, was ein chirales Molekül ist.«

Sie nickte und trank von ihrem Kaffee. »Chirale sind keine große Sache«, sagte sie. »In diesem Buch klingt es bloß verwirrend. Sie sind so etwas wie Spiegelbilder.« Sie stellte ihre Tasse ab, presste ihre Hände aneinander und spreizte ihre kleinen Finger ab. »Weißt du, du musst dir bloß vorstellen können, wie das Molekül aussieht, und es dann umkippen. Als würdest du es im Spiegel sehen.« Sie lächelte und wackelte mit den Fingern. Ihre Fingernägel waren in hellem, glitzerndem Pink lackiert.

Das war es, dachte ich. Das war es, was ich nicht konnte. Ich konnte Moleküle nicht im Kopf umdrehen. Schon bei der ersten Drehung fielen die Atome auseinander, und ich verlor den Überblick darüber, was und wo sie waren. Ich schaute wieder in mein Buch, damit Gretchen mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich wollte nicht, dass sie mich bemitleidete.

»Und was machst du so am Wochenende?«

»Das hier«, sagte ich. Ich blickte nicht auf.

»Oh. Fein.« Sie versuchte, angenehm überrascht zu klingen. »Wenn du sowieso hier bist ... kannst du am Samstag für mich einspringen? Ich tausche dafür jeden Wochentag mit dir, den du willst.«

»Geht nicht«, erwiderte ich.

Ich konnte fühlen, wie sie mich anschaute und wartete. Sonst sprang ich immer für sie ein, wenn sie mich darum bat.

»Ich mache Housesitting.«

»Oh. Cool. Für einen Dozenten oder so?«

Ich schüttelte den Kopf, und sie wartete wieder.

»Für Jimmy Liff«, sagte ich schließlich.

Gretchens überraschter Gesichtsausdruck bestand aus lauter Kreisen: ihre runden, blauen Augen, ihr o-förmiger Mund, die rosa Flecken auf ihren Wangen, die aussahen wie bei einer Puppe.

»Woher kennst du ihn überhaupt?«

»Er arbeitet hier. Er ist Sicherheitsbeamter.«

»Das weiß ich.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ihr befreundet seid.«

Ich stellte mich blöd, aber ich wusste, was sie meinte. Jimmy Liff war Soziologiestudent im sechsten Studienjahr und nahm es mit seiner Aufgabe als Sicherheitsbeauftragter des Wohnheims ein bisschen zu ernst. Die Entschlossenheit, mit der er dafür sorgte, dass die Regeln beachtet wurden, war wegen seines Aussehens ziemlich überraschend. Sein Kopf war rasiert, er trug enge weiße T-Shirts, sogar im Winter, und seine muskulösen Arme waren beide tätowiert - links ein Krokodil mit weit aufgerissenem Maul, rechts eine Reihe chinesischer Schriftzeichen. In seiner Nase steckte eine Art silberner Bolzen, der aussah, als sei er schwer und täte weh. Aber Jimmy Liff war kein Rebell, kein Anarchist. Er schrieb Leute auf, wenn sie nur ein bisschen zu laut Musik hörten, und war gnadenlos bei morgendlichen Joggern, die vergessen hatten, ihren Ausweis einzustecken. Um Halloween herum hatte er während eines Feueralarms ein Zimmer aufgeschlossen und auf dem Fensterbrett eine kleine Marihuanapflanze gefunden. Sobald die Sirenen verstummt waren, hatte er die Polizei verständigt. Es gab leisen Protest, aber ein furchtloser Student hatte das Wort FASCHISTENSCHWEIN auf die Tür von Jimmys orangerotem MINI Cooper gemalt, als er auf dem Parkplatz für Angestellte stand.

»Mir macht der Typ Angst.« Gretchen rümpfte die Nase. »Warum machst du das? Warum braucht er einen Housesitter?«

»Er fährt übers Wochenende weg. Ich glaube, er hat anspruchsvolle Pflanzen.«

Gretchen senkte ihr Kinn und machte ein skeptisches Gesicht.

»Orchideen«, erklärte ich. »Er hat etwas von Orchideen und Farnen gesagt.«

»Jimmy Liff züchtet Orchideen?«

»Hat er jedenfalls gesagt.« Ich starrte wieder ins Buch. »Ich muss sie bloß jeden Tag besprühen und die Luftfeuchtigkeit überprüfen. Außerdem braucht er jemanden, der ihn zum Flughafen bringt.« Lächelnd hob ich den Kopf. »Ich fahre ihn hin und kann dann am Wochenende sein Auto haben.« Dann lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und schwenkte meine Hände über dem Kopf. Ich war richtig aufgeregt.

»Wow. Das Auto, auf dem FASCHISTENSCHWEIN steht?«

Ich runzelte die Stirn. Das würde ich mir nicht von ihr vermiesen lassen. Sie hatte ein Auto, sie verstand das nicht. »Das Meiste davon hat er runterbekommen«, sagte ich. »Man kann es kaum noch sehen. Er zahlt mir fünfzig Dollar. Und ich habe gehört, dass sein Haus echt toll sein soll. Ich glaube, er hat einen Jacuzzi.«

»Ja, das habe ich auch gehört.« Sie schaute an meiner Schulter vorbei auf ihre Zimmertür. Dann schaute sie auch über ihre eigene Schulter. »Weißt du, warum es meiner Meinung nach so toll ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Drogas«, flüsterte sie. Gretchen studierte auch Spanisch. »Er verkauft drogas.«

Wieder runzelte ich die Stirn. Das waren Informationen, die ich nicht haben wollte.

»Weißt du das genau?«

Sie sah mich an, als wäre ich bescheuert, nicht nur in Bezug auf chirale Moleküle, sondern auch im Hinblick auf die Welt im Allgemeinen. »Wie viele Collegestudenten kennst du, die in einem Haus beim Country Club wohnen? Und der Wagen?«

»Indizienbeweise«, sagte ich. Das war es, was mein Vater gesagt hätte, und was Elise gesagt hätte. Manchmal konnte ich denken wie die beiden. Ich konnte bloß nicht die einschüchternde Art nachmachen, wie sie etwas sagten, gelangweilt und kampfbereit zugleich. Ich klang einfach nervös. »Vielleicht hat er reiche Eltern.«

»Warum hat er dann einen so schlecht bezahlten Job?« Sie klappte den Deckel des Chicken Satay zu. »Ich bitte dich. Da geht es um Kontakte. Ich wette, dass er das Wohnheim beliefert. Vielleicht sogar alle Studentenwohnheime.«

Ich hielt inne, um über das, was sie gesagt hatte, nachzudenken. Es ist eine Schwäche von mir, dieses Bedürfnis, einen Moment ruhig zu werden und die Informationen zu verarbeiten, mich ständig zu fragen, ob nicht ich es war, die falschlag. Weder Elise noch mein Vater schienen das jemals zu tun. Wenn ich in ihrer Gegenwart verstummte, dachten sie, ich wäre überfragt oder, wenn es eine Auseinandersetzung war, besiegt. Aber Gretchen wartete geduldig, das Kinn auf ihre Hand gestützt.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte ich. »Wenn das stimmt, warum hat er dann wegen der Marihuanapflanze die Polizei gerufen?«

»Weil er gemein ist.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe gehört, dass er vor allem Tabletten verkauft.«

Ich trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. Meine Fingernägel waren nicht schillernd rosa lackiert. Sie waren total abgekaut und sahen schrecklich aus. »Hast du das von vielen Leuten gehört? Von Leuten, die Bescheid wissen könnten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur von ein, zwei Leuten.«

»Also ist es eigentlich nur ein Gerücht?«

Sie hob ihre Hände hoch und nickte.

Ich nickte ebenfalls. Na schön, dann stimmte es wahrscheinlich nicht. Und selbst wenn es stimmte, kam es im Grunde nicht darauf an. Ich wollte nicht Freundschaft schließen mit Jimmy Liff, sondern lediglich in seinem schicken Haus wohnen und sein schickes Auto fahren. Außerdem hatte ich ihm bereits zugesagt. Er verließ sich auf mich.

Gretchen kniff die Augen zusammen. »Nimm's mir nicht übel, aber ich wüsste gern, warum er dich gefragt hat. Ausgerechnet dich, meine ich.«

Ich zuckte die Achseln, als ob ich es nicht wüsste. In Wahrheit war die Antwort auf diese Frage peinlich. Jimmy Liff hatte mir direkt in die Augen gesehen und dabei erklärt, dass ich einfach der langweiligste Mensch sei, den er kenne. »Ich meine, das ist nichts Schlechtes«, hatte er schnell hinzugefügt. »Ich meine damit nicht, dass es langweilig wäre, mit dir zu reden oder so. Ich meine damit, dass du auf eine gute Art langweilig bist. Auf eine Art, die gut für meine Pflanzen und mein Auto ist. Du rauchst nicht mal, oder?«

Seine Meinung von mir verletzte mich nicht. Ich verstand, was er meinte. Jimmy Liff und ich waren im vorangegangenen Frühjahr im selben Shakespeare-Kurs gelandet, und obwohl ich zuerst ein bisschen Angst vor ihm gehabt hatte, waren wir von unserem Lehrer dazu eingeteilt worden, zusammen eine Präsentation von Maß für Maß zu erarbeiten. Ich machte mich sofort an die Arbeit: Ich verfasste Handzettel, ich lernte einen von Isabellas Monologen auswendig, ich suchte Videoaufzeichnungen von verschiedenen Theateraufführungen heraus. Vielleicht tat ich ein bisschen zu viel des Guten, aber das war mein Glück, weil Jimmys Beitrag nämlich ausschließlich darin bestand, am Tag der Präsentation zu erscheinen. Aber Gruppenarbeit war Gruppenarbeit, und wir bekamen beide eine Eins. Seitdem war er immer nett zu mir gewesen.

»Ist mir egal, warum er mich gefragt hat.« Ich machte den Karton mit dem Chicken Satay wieder auf. Etwas Sauce tropfte auf das Diagramm eines Benzol-Moleküls in meinem Buch. »Wichtig für mich ist bloß, dass ich hier für ein Wochenende rauskomme. Es ist wie Hafturlaub.«

Gretchen lachte, hörte dann aber abrupt wieder auf. »Hasst du es hier so sehr?«

»Ja.« Ich nahm ein Stück Hühnchen. »So sehr hasse ich es.« Ich konnte nicht glauben, dass es ihr nicht genauso ging. Auch sie war im letzten Collegejahr. In der vergangenen Woche hatten wir dreimal Feueralarm gehabt - jedes Mal falscher Alarm -, und zwar immer zwischen drei und sechs Uhr morgens. Und in meinem Stockwerk hatte jemand an zwei Wochenenden hintereinander in den Flur gekotzt.

»Kommt Tim mit?«

Ich schüttelte den Kopf. An diesem Wochenende war die goldene Hochzeit seiner Großeltern. Er fuhr am Freitag nach Chicago und würde erst am Sonntagabend zurückkommen. Ich war beinahe froh darüber. Ich würde das ganze Wochenende lernen müssen, ununterbrochen, ohne Pausen. Der Test am Dienstag würde ausschlaggebend für unsere Semesternote sein: Wenn es gut ging, könnte ich immer noch die Kurve bekommen und auf einen Platz in Medizin hoffen. Wenn es nicht gut ging ... dann würde es nicht mal mehr einen Sinn machen, an der Abschlussprüfung teilzunehmen.

»Was für eine Verschwendung«, sagte Gretchen. »Du weißt schon. Der Jacuzzi.« Sie lehnte sich zurück und lächelte. »Ich mag Tim. Er ist nett.«

»Danke«, sagte ich. »Finde ich auch.«

»Er macht im nächsten Jahr seinen Abschluss, stimmt's? In Technik, oder?«

Ich nickte.

Sie wackelte mit den Augenbrauen und stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann wird er mal eine Menge Geld verdienen.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Ich meine ja bloß ... Was ist daran schlecht? Warum wirst du gleich sauer?«

Kopfschüttelnd starrte ich in mein Buch. Ich wusste nicht, warum ich sauer war. Ich wusste nur, dass ich nicht auf den Test vorbereitet war.

»Tja«, sagte Gretchen, »da der Freund, der eines Tages vielleicht oder vielleicht auch nicht reich sein wird, am Wochenende nicht da ist, wäre es vielleicht ganz lustig, ein paar Leute einzuladen ... keine Party, sondern bloß so, du weißt schon ...«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss lernen. Das ist alles, was ich vorhabe.«

»Okay.« Seufzend blätterte sie eine Seite um. »Ich bewundere dein Engagement.«

Ich lächelte schwach. Mein Engagement, wenn man es denn überhaupt so nennen konnte, schien mir nichts Bewundernswertes zu sein. Ich hatte einfach die ganze Zeit Angst. Ich hatte schon allen - meinen Eltern, Elise, Tim - erzählt, dass ich mich um einen Studienplatz in Medizin bemühen würde. Wenn ich aufgab, würden sie natürlich Verständnis haben, aber sich auch denken, dass ich schwach war oder nicht so intelligent wie sie - oder dass ich es einfach nicht konnte. Es ging mir nicht um ihr Verständnis. Diejenige, die ich nicht enttäuschen durfte, war ich selbst. Ich wollte nicht mit dem Wissen durchs Leben gehen, dass ich etwas, was ich mir wünschte, aufgab, nur weil es zu schwierig war. Auch wenn es wirklich wahnsinnig schwierig war.

So ging es mir schon eine ganze Weile. Als ich in meinem zweiten Jahr Probleme in Infinitesimalrechnung gehabt hatte, hatte ich bei Goodwill eine sprechende Barbiepuppe entdeckt und in ihr sofort die Barbie erkannt, die sagte: »Mathe ist schwer! Lass uns einkaufen gehen!« Sie war auf den Markt gekommen, als ich noch klein war, und es war in den Nachrichten über sie berichtet worden - die Leute ärgerten sich über die Botschaft, die sie vermittelte, und schließlich änderte die Spielzeugfirma den Computerchip, sodass die Puppe nun etwas anderes sagte. Aber die Barbie von Goodwill war die Originalversion. Ich stellte sie auf meinen Schreibtisch. Wenn ich die Nase voll hatte von Mathe, weil ich mich mit Ableitungen und Integralrechnung herumschlagen musste, drückte ich auf den Knopf der Barbiepuppe und starrte in ihre dummen Augen, bis ich motiviert genug war, weiterzuarbeiten.

Tim hatte gesagt, dass er Barbie gern helfen würde; er machte ihr aus einer Büroklammer eine Nickelbrille und zeichnete direkt auf eine ihrer üppigen Barbiebrüste ein Stiftemäppchen. Gretchen fand sie auch lustig, und Elise wollte eine für sich haben. Nur meine Mutter lachte kein bisschen, als sie meine Barbie sah.

»Schätzchen. Warum machst du so was?« Sie hielt die verunstaltete Barbie hoch und richtete dann ihren sorgenvollen Blick auf mich. Es war immer eigenartig, wenn sie in meinem Zimmer im Wohnheim war. Auch wenn sie nur ein paar Minuten blieb, fühlte ich mich überfallen, belagert. Das Zimmer war einfach zu klein.

»Es ist ein Witz«, sagte ich. »Bloß ein Witz.«

Sie runzelte die Stirn. »Mit den Dingern habe ich dich nicht mal spielen lassen, als du klein warst.« Sie setzte die Barbie wieder auf meinen Schreibtisch. Die Puppe kippte nach hinten um, und meine Mutter knickte sie in der Taille, damit sie richtig sitzen konnte. Wieder schaute sie zu mir. »Veronica, du bist eine nette und kluge junge Frau. Wenn Mathe schwer ist, dann ist das eben so. Das heißt nicht, dass du eine Puppe bist.«

»Es ist ein Witz«, wiederholte ich.

Sie wirkte nicht überzeugt. »Diese Puppe hat nichts mit dir zu tun.« Skeptisch musterte sie die Barbie. »Schätzchen. Sie sieht uns nicht mal ähnlich.«

Punkt zehn Uhr klappte Gretchen ihr Chemiebuch zu. »Das wär's für heute Abend«, sagte sie. »Willst du nicht eine Pause machen? Mir helfen, etwas zum Anziehen auszusuchen?«

Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen Finger auf der Stelle des Kapitels liegen, wo ich gerade war. Die DL-Kennzeichnung steht in keinem Zusammenhang zu (+)/(-). Sie zeigt nicht an, welche Enantiomere rechtsdrehend beziehungsweise linksdrehend sind. »Nein, danke«, sagte ich. »Viel Spaß.«

Sie stand gerade auf, als die Fahrstuhltüren aufgingen und Clyde-vom-dritten-Stock ausstieg. Gretchen lächelte und setzte sich wieder hin.

Ich kannte Clyde-vom-dritten-Stock nicht. Ich kannte nur seinen Namen, weil jeder ihn kannte. Er war eine Wohnheim-Berühmtheit, berühmt für sein gutes Aussehen - mit seinem Wuschelkopf und seinen dunklen Augen -, das den Eindruck erweckte, als sollte er in Piratenfilmen mitspielen und nicht mitten unter uns in einem Studentenwohnheim in Kansas leben. Im August, als alle eingezogen waren, war es in der Halle so heiß und so voll gewesen, dass ein paar Jungs und sogar einer der Väter ihre Hemden ausgezogen hatten, als sie zusammengerollte Teppiche und Multimediasessel aus den Autos und Lastwagen holten. Aber als Clyde-vom-dritten-Stock, der gerade mit einem großen Topf-Feigenbaum auf einen Fahrstuhl wartete, sein Hemd auszog, stieß eine lächelnde Mutter ihre Tochter mit dem Ellbogen an und raunte ihr zu: »Guck dir den Adonis da drüben mal an!« Schon eine Woche später war sein richtiger Name genauso bekannt wie das Stockwerk, in dem er wohnte. Zwei Wochen später, als ich mir gerade die Zähne putzte, hörte ich, wie ein Mädchen unter der Dusche einem anderen erzählte, dass Clyde-vom-dritten-Stock nicht nur bildschön sei, sondern im Hauptfach Kunst studiere und noch dazu ein tapferer Umweltschützer sei. »Er hat sich an einen Baum gekettet«, rief sie mit ehrfürchtiger Stimme über den Duschvorhang. »Er ist also total schön und hat echt Tiefgang.«

Seine Stimme war auf jeden Fall tief. »Hi«, sagte er jetzt, als sich die Fahrstuhltür hinter ihm schloss. Auf seinem T-Shirt stand 5K-Lauf gegen Krebs, und es schmiegte sich eng an seine schlanke, geschmeidige Gestalt. Er warf einen Blick in Gretchens Richtung, aber er lächelte mich an. Irgendwann im September war Clyde-vom-dritten-Stock zu meiner Verwirrung dazu übergegangen, mich mit freundlicher Wärme zu betrachten und mir so lange in die Augen zu schauen, dass ich mir schon Sorgen machte, ob wir uns vielleicht von früher, von zu Hause, kannten. Aber an ein Gesicht wie seines hätte ich mich bestimmt erinnert, auch wenn er damals zwei Jahre jünger als heute gewesen wäre.

»Hallo«, sagte ich mit einer Stimme, die genauso benommen und erfreut klang, wie ich mich fühlte. Ich sagte bloß Hallo. Tim sagte bestimmt auch zu anderen Mädchen Hallo. Und manche Leute sind eben einfach attraktiv. Das heißt nicht, dass man nicht Hallo zu ihnen sagen kann. Er lächelte weiter, also lächelte ich auch. Nichts dabei. Hier war jemand, der freundlich sein wollte. Ich sollte genauso freundlich sein. Seine Unterarme, die irgendwie immer noch gebräunt waren, waren mit weißer Farbe bespritzt, ebenso wie seine Jeans und sein T-Shirt. Gretchen und ich beobachteten beide, wie er zur Tür des Männerflügels ging. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, drehte sie sich zu mir um.

»Was war das?«

Ich lächelte immer noch. »Was war was?«

Sie sagte nichts. Sie war verstimmt.

»Ich weiß nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne den Typen nicht mal.«

»Jeder kennt ihn.« Wieder starrte sie die Tür zum Männerflügel an. »Und er hat dir schöne Augen gemacht.«

»Glaub ich nicht.« Ich lachte und schüttelte den Kopf. Aber der Gedanke war schmeichelhaft, vor allem, weil ich neben Gretchen gesessen hatte, die blond war und im Moment ein tief ausgeschnittenes T-Shirt mit aufgedruckten lächelnden Lippen trug. Aber er hatte mich angesehen. Nicht dass es von Bedeutung gewesen wäre. Ich hatte einen Freund. Ich war verliebt in meinen Freund.

Ich blickte wieder in mein Buch. Ein Molekül ist achiral, wenn es eine Achse uneigentlicher Drehung hat; das heißt, eine n-fache Drehung gefolgt von einer Spiegelung führt auf einer Molekülebene zur Selbstabbildung. Der Auftrieb, den mir Clydes Lächeln verschafft hatte, flaute bereits ab.

Gretchen pikste mich in den Arm. »Und? Was hast du vor? Wirst du versuchen, mit ihm zu sprechen?«

Nur eine Sekunde lang war ich verwirrt. »Mit Clyde?« Ich schaute wieder zum Männerflügel. »Nein«, sagte ich. »Ich habe einen Freund.«

Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Du bist nicht verheiratet. Noch nicht.«

»Aber ich bin glücklich.« Ich lächelte und pikste zurück. Es war die Wahrheit und in meinen Augen die richtige Antwort. Aber ich konnte mir vorstellen, dass sie es anders sah. Als ich auf der Highschool gewesen war, hatte ich immer nur für höchstens zwei Monate einen festen Freund gehabt. Fast bemitleidete ich die Mädchen, die in der achten Klasse anfingen, mit einem Jungen Händchen zu halten und dieselbe Hand bei ihrem Schulabschluss immer noch hielten - ich fühlte mich ihnen sogar ein bisschen überlegen. Den Gedanken, die große Liebe mit vierzehn kennenzulernen, fand ich irgendwie beklemmend. Und vielleicht war es nicht fair, aber ich nahm an, dass die Mädchen, die jeden Tag mit ihrem Freund beim Lunch zusammensaßen, die auf dem Schulhof am Arm ihres Freundes hingen, während alle anderen herumschwirrten, die Mädchen waren, die wahrscheinlich später nicht aufs College gehen würden. Ihr Horizont schien damals schon begrenzt zu sein. Wenn es das war, was sie wollten, bitte. Aber ich war anders.

So dachte ich noch in meinem ersten Collegejahr, als ich mal mit diesem, mal mit jenem ausging. Aber dann traf ich Tim, und plötzlich war mir klar, warum einige der Mädchen auf der Highschool es nicht geschafft hatten, die Hand ihres Freundes loszulassen. Tim war einfach der Mensch, mit dem ich am liebsten redete, mit dem ich am liebsten zusammen war, den ich am liebsten anschaute. Ich hatte eine erste Ahnung, wie dumm es war, vorschnell zu urteilen und zu leugnen, dass es so etwas wie Schicksal gab, ernsthaft zu denken, ich sei diese und nicht jene Art von Mädchen, und zwar nur, weil ich glaubte, mich bewusst dafür entschieden zu haben.

Es war fast Mitternacht, als ich in mein Zimmer ging. Die Halle war leer, alle meine Erstsemester anscheinend im Bett. Jemand hatte »DU BIST NIE DA. DU DÜRFTEST DIESEN JOB NICHT HABEN!« auf mein Nachrichtenbrett geschrieben. Ich wischte es mit dem Ärmel meines Pullovers ab und steckte, das Walkie-Talkie zwischen den Knien, den Schlüssel ins Schloss.

Das Zimmer, das ich dieses Jahr hatte, sah ein bisschen trostlos aus. Als ich im ersten Collegejahr ins Wohnheim gezogen war, hatte mir meine Mutter eine neue, weiße Überdecke für das Bett und eine kleine, weiße Schreibtischlampe gekauft. Mit Weiß, sagte sie zu mir, ginge man auf Nummer sicher, egal, was meine Mitbewohnerin mitbringen würde. Und das hatte sich bis zu einem gewissen Grad bewahrheitet. Meine Mitbewohnerin im ersten Jahr, ein Mädchen aus St. Louis, das Schauspiel im Hauptfach hatte, hatte voller Stolz eine gesamte Ausstattung im Kuhfleckmuster angeschleppt. Alles - Bettdecke, Kissen, Vorhänge, sogar ein kleiner Bettvorleger - war weiß mit schwarzen Flecken, wie eine Holsteiner Kuh.

Als meine Mutter zum ersten Mal zu Besuch kam, amüsierte sie sich darüber. »Findest du das nicht ein bisschen zu unkuuuuuhl?«, fragte sie. Sie stand in meiner Hälfte des Zimmers, die Hände tief in den Taschen ihres Regenmantels vergraben, als hätte sie Angst, etwas mit Kuhflecken zu berühren. Meine Mitbewohnerin war gerade bei einer Theaterprobe.

»Versuch einfach, dich damit abzufinden«, empfahl mir meine Mutter. »Manchmal geht es eben nicht anders.« Sie schaute sich im Zimmer um und lächelte. »Betrachte es als neue Erfahrung. Du weißt schon: den Rahm von der Milch abschöpfen und so.«

Dieses Jahr hatte ich ein Zimmer für mich allein, und es gab keine Kuhmuster, die ich hinnehmen musste. Aber ich hatte weder die Zeit noch die Energie, mein Zimmer irgendwie zu gestalten. Ich hatte ein Poster mit dem Periodensystem der Elemente an eine Wand gehängt, damit ich es anstarren konnte, während ich mir die Haare föhnte. Und ich hatte einen Kalender an meine Pinnwand gehängt, gleich neben ein Foto von Tim, auf dem er vor seiner Wohnung einen Kopfstand machte. Aber das war auch schon alles an Wanddekoration. Ich hatte immer noch die weiße Überdecke, und ich legte ein weißes Laken über die Matratze auf dem zweiten Bett. Als der Herbst anfing, ich noch die Fenster offen hatte und die Sonne hell auf den Linoleumboden schien, sah es noch ganz okay aus. Aber an grauen Tagen und nachts wirkte mein Zimmer kahl und trist.

Sobald ich meine Bücher abgelegt hatte, überprüfte ich mein Handy und stellte erfreut fest, dass Tim zweimal angerufen hatte.

Er gähnte, als er abhob. »Guten Abend«, sagte er. »Oder guten Morgen. Wie spät ist es?«

»Spät. Entschuldige, ich hatte mein Handy nicht dabei. Habe ich dich geweckt?«

»Nein.« Er aß etwas Knuspriges. »Wir schauen uns gerade El corazón verdadero an. Du versäumst was. Lorenzo findet gerade heraus, wer sein richtiger Vater ist.«

Ich seufzte neidvoll. Tims Studienfach war berüchtigt dafür, sehr schwierig zu sein, aber darauf wäre man angesichts der vielen Freizeit, die Tim zu haben schien, von selbst nie gekommen. Er lebte in einer Wohnung außerhalb des Campus, und er schaffte es, regelmäßig in den Supermarkt und in den Waschsalon zu gehen. Er ging jeden Morgen joggen. Wenn das Wetter gut war, spielte er mit seinen Freunden Kickball. Er und sein Mitbewohner schauten sich im Fernsehen sowohl Dokumentationen über den amerikanischen Bürgerkrieg als auch schlechte Doku-Soaps an. Die spanischen Serien sahen sie so oft, dass sie tatsächlich ein paar Brocken Spanisch lernten. Und trotzdem war Tim vor Kurzem zu einem Dinner im Alumni-Center eingeladen worden, weil er wieder den bestmöglichen Notendurchschnitt erreicht hatte. Er hätte mir das nie erzählt, aber es wurde beim Dinner erwähnt, und er hatte mich als Gast mitgenommen.

»Heute Nacht gibt es einen Serien-Marathon«, sagte er. Im Hintergrund konnte ich dramatische lateinamerikanische Musik hören. »Du solltest herkommen.«

»›No puedo«, entgegnete ich.

»He, he!« Ich hatte seine Aufmerksamkeit. »Im Ernst. Kein Fernsehen. Ich schalte den Apparat ab. Aber kannst du nicht herkommen? Ich könnte dich gleich abholen. Pack einfach deine Zahnbürste ein. In zehn Minuten bin ich da.«

»Ich habe Dienst.« Das Bedauern in meiner Stimme war echt. Es machte mir Spaß, mit ihm auf seiner großen Couch zu sitzen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und spanische Fernsehserien anzuschauen. Morgens ging sein Mitbewohner dann manchmal Donuts kaufen.

»Dieser Job«, sagte er. »Dieser Babysitterjob, den du da hast.«

Ich ließ mich aufs Bett fallen, das Handy zwischen Schulter und Hals geklemmt. »Du könntest zu mir kommen.«

Ich wusste, dass er es nicht tun würde. Er war nicht gern im Wohnheim. Da gab es den Sicherheits-Check-in, den man umgehen musste, und dazu die durchaus reale Möglichkeit eines nächtlichen Feueralarms. Und wenn er mitten in der Nacht pinkeln musste, hatte er bis zum nächsten Männerklo einen langen Weg und eine Treppe vor sich.

»Morgen Abend?«

Ich schaute auf dem Kalender, der neben seinem Foto an der Pinnwand hing, nach. Auf dem Donnerstag klebte genauso wie auf dem Mittwoch ein Sticker mit einem traurigen Gesicht.

»Hab ich wieder Dienst.«

»Du weißt, dass ich am Freitag wegfahre?«

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann nicht.«

»Aber du könntest mit mir nach Chicago kommen.« Seine Stimme war jetzt leiser. Er hatte den Fernseher abgeschaltet, oder vielleicht war er auch nur ein paar Schritte weggegangen. »Du müsstest nicht beim Dinner dabei sein. Du könntest einfach mit mir hinfahren. Ich würde dir die Stadt zeigen, und wenn ich bei dem Essen bin, könntest du ins Kino gehen oder so. Oder lernen. Ich meine, du bist zu dem Dinner eingeladen, aber wenn du nicht hinwillst ...«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht will. Ich habe gesagt, ich würde mir komisch vorkommen.« Ich setzte mich auf und schob meine Haare über meine Schultern nach hinten. »Ich meine, es ist eine ganz große Sache. Bestimmt wollen sie nur die Familie dabeihaben.«

»So eine große Sache ist es nun auch wieder nicht.«

»Fünfzig Jahre verheiratet zu sein?«

»Das schaffen viele Leute. Meine Großeltern sind bloß scharf auf Geschenke. Und Zuwendung. Sie wollen ständig Zuwendung, die beiden.«

»Mhm.« Ich lächelte. Tim hatte in seinem Zimmer ein Foto seiner Großeltern. Sie saßen beide im Rollstuhl und hielten Händchen. »Und was schenkst du ihnen?«

»Ich wollte unterwegs etwas besorgen. Was schenkt man zum fünfzigsten Hochzeitstag? Ich meine, es ist die goldene Hochzeit, stimmt's? Aber was schenkt man, wenn man jung und knapp bei Kasse ist? Sweatshirts im Partnerlook? Ich habe keine Ahnung.«

Ich griff in das oberste Fach meines Schrankes und holte den Plastikbehälter herunter, in dem meine Zahnbürste, Zahnpasta und Seife waren. »Deshalb willst du also, dass ich mitkomme. Du willst, dass ich ein Geschenk aussuche.«

»Ich will, dass du mitkommst, weil ich mir wünsche, dass alle dich kennenlernen.«

Ich schwieg und schaute aus meinem dunklen Fenster. Ich war so hoch oben. Wenn es wirklich einmal brannte, würde ich vielleicht nicht herauskommen.

»Na? Wie sieht's aus?«

Ich war noch nie in Chicago. Und er würde mich wahrscheinlich fahren lassen, zumindest einen Teil der Strecke. Aber ich konnte nicht mitfahren, weil ich lernen musste. Und dieses Wochenende würde ich Jimmy Liffs Auto haben: Ich konnte fahren, so oft ich wollte und wohin ich wollte.

Tim nahm meine Absage nicht sehr gut auf.

»Du hütest für diesen Sicherheits-Typen das Haus? Der Kerl, der früher diese blöden Kontaktlinsen getragen hat, mit denen seine Augen wie die einer Katze ausgesehen haben?«

Ich runzelte die Stirn. Die Kontaktlinsen hatte ich vergessen. »Ja. Aber das tut nichts zur Sache. Er ist am Wochenende nicht da.«

»Hm. Kennst du das chinesische Tattoo auf seinem Arm? Weißt du, was es bedeutet?«

»Ich wusste nicht, dass du Chinesisch kannst, Tim.«

»Ich habe es nachgeschlagen. Es heißt: ›Ich kann auch kein Chinesisch.‹«

Ich stand auf und setzte mich gleich wieder hin. »Kommst du morgen Abend her? Du bist meine einzige Hoffnung. Ich werde in dem Turm hier gefangen sein. Komm mich retten!«

Er lachte ein bisschen. »Gute Nacht, schöne Veronica. Wir sehen uns morgen Abend.«

Ich saß noch fast eine ganze Minute lang da und hielt mir das stumme Handy ans Ohr. Ich hätte auf der Stelle einschlafen können, ohne mir auch nur die Schuhe auszuziehen. Am nächsten Morgen musste ich früh aufstehen. Jimmy Liff wollte mich um acht abholen. Er hatte gesagt, das sei der einzige freie Termin, den er vor dem Abflug habe, und er wollte mir zeigen, wie man zu seinem Haus kommt und wie man die empfindlicheren Pflanzen gießen musste.

Ich zog Schlafanzug und Hausschuhe an, nahm meinen kleinen Korb mit Waschzeug und schlurfte zum Badezimmer am Ende des Gangs. Aber als ich mit frisch gewaschenem Gesicht und geputzten Zähnen in mein Zimmer zurückkam, ging ich noch nicht gleich ins Bett. Ich zerrte den schweren Holzstuhl vom Schreibtisch zum Schrank und stieg hinauf, um an das oberste Fach zu kommen. Dort oben bewahrte ich alles auf - Jahrbücher, Fotoalben, Schlittschuhe, eine Buchbesprechung, die ich auf der Junior High im Radio vorgelesen hatte -, all das, was eine Collegestudentin, die Eltern hatte, die noch miteinander verheiratet waren, wahrscheinlich zu Hause in ihrem Zimmer ließ.

Ich fand den Pappkarton, den ich gesucht hatte, und setzte mich auf den Stuhl.

Meine Mutter machte tolle Fotoalben. Meine Schwester und ich hatten jede unser eigenes, unsere Name waren im Kreuzstich auf die Vorderseite gestickt. Innen hatte sie jedes Bild mit Datum, Ereignis und dem Namen der Abgebildeten beschriftet. Früher, vor der Zeit der Digitalkameras, hatte sie manchmal den Hintergrund, wo er störte, mit der Schere abgeschnitten und unsere blitzlichtroten Augen mit einem braunen Marker übermalt. Doch sobald sie eine Digitalkamera hatte, konnte sie all ihre Energien auf die Gestaltung konzentrieren. Sie benutzte Tapetenstreifen für bunte Umrahmungen, legte Einladungen zu Partys und Nachrichten von Lehrern bei sowie eine gepresste Blume vom Anstecksträußchen meines Abschlussballs.

Ich nahm ein Album nach dem anderen aus dem Karton, bis ich beim Hochzeitsalbum meiner Eltern angekommen war. Als ich das letzte Mal in der Wohnung meiner Mutter gewesen war, hatte sie mich gefragt, ob ich es aufheben wolle. Sie sagte, dass sie es nicht mehr haben wolle.

Langsam blätterte ich die Seiten um. Die Kanten waren vergilbt, und einige der Bilder klebten an den glänzenden Zellophanhüllen. Als Kind hatte ich das Album so oft und so ausgiebig angeschaut, dass sich jedes einzelne Bild in mein Gedächtnis eingebrannt hatte: die kleine Campus-Kapelle, wo die Trauung stattgefunden hatte; der Priester, der vor einem blühenden Magnolienbaum stand; mein Vater, kaum wiederzuerkennen, jung und mager in seinem Smoking, das Haar bis über die Ohren fallend. Und meine Mutter, deren Haare bis zu ihrer Taille hinabhingen, in einem weißen Kleid mit weitem Rock und einer überdimensionalen Schleife auf der Brust. Sie war zweiundzwanzig und sah auf dem Bild glücklich aus, mit ihrem strahlendem Lächeln, den leuchtenden Augen und dem Wind in ihren Haaren und ihrem Schleier. Es gibt ein Bild von ihr und meiner mittlerweile verstorbenen Großmutter, auf dem beide so fröhlich aussehen, meine Großmutter mit einem hellblauen Hut, der Kopf meiner Mutter an ihrer Schulter. Es gibt ein Bild von meinen Eltern, wie sie zusammen die Hochzeitstorte anschneiden. Mein Vater sieht meine Mutter an und sagt etwas, und sie schaut in die Kamera und bemüht sich unverkennbar, nicht zu lachen.

Es war schwer, gerade dieses Bild zu betrachten und bei dem Gedanken, wie alles ausgegangen war, nicht deprimiert zu sein. Ich verstand nicht, warum meine Mutter das mit dem schlafenden Dachdecker gemacht hatte - was auch immer es gewesen sein mochte -, warum sie unsere ganze Welt in diese fremde und chaotische Landschaft hatte stürzen lassen. Sie sei unglücklich gewesen, sagte sie. Ich starrte auf ihr junges Gesicht im Blitzlicht der Kamera und suchte nach einem Hinweis darauf, ob sie von Anfang an hätte ahnen können, wie sehr sich das, was sie sich an diesem Freudentag erhoffte, von all dem unterscheiden würde, was sie nicht voraussah.