Kapitel 5

Auf dem Weg zum Flughafen dröhnte elektronische Musik aus Jimmys Stereoanlage. Ich saß hinter Haylie. Der Himmel war noch dunkel, die Kontrolllichter des Wagens ein grüner Schimmer, und zwischen Sitz und Kopflehne waren nur Haylies wippende, glitzernde Ohrringe zu erkennen. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, sodass es unmöglich zu sagen war, was sie von der Musik oder der Lautstärke hielt. Aber als wir uns auf dem Highway der Abfahrt zum Flughafen näherten und die Lichter der Economy-Parkplätze sichtbar wurden, gab sie plötzlich einen gequälten Laut von sich.

»Können wir das nicht wenigstens leiser drehen?« Sie wischte mit einem fingerlosen Handschuh über den Lautstärkeregler.

Jimmy stellte die Musik ab, ohne etwas zu sagen. Den Rest des Wegs legten wir schweigend zurück.

Am Flughafen reichte er mir wortlos die Schlüssel.

»Tschüss!« Ich winkte mit dem klimpernden Schlüsselbund in meiner Hand. »Gute Reise! Ruft mich auf meinem Handy an, wenn ihr wissen wollt, ob alles in Ordnung ist.«

Aber Jimmy ging schon auf die Eingangstür zu. Die Metallkette, die an seiner Brieftasche befestigt war, schwang hinter ihm her. Falls er mich überhaupt gehört hatte, drehte er sich jedenfalls nicht um. Haylie war noch damit beschäftigt, ihre Tasche aus dem Kofferraum zu holen. Als sich die automatischen Türen hinter Jimmy schlossen, blickte sie auf und verlor dabei beinahe das Gleichgewicht. Sie hatte ihre Jeans in schwarze Samtstiefel mit spitzen Absätzen gesteckt, die so aussahen, als ob es nicht leicht wäre, auf ihnen zu gehen.

»Er ist nicht unbedingt ein Morgenmensch«, erklärte sie. Sie nahm ihre Tasche und schaute mich an.

Trotz der coolen Fassade erinnerte sich ein Teil von Haylie Butterfield anscheinend immer noch genug an ihr altes Leben, um sich Gedanken darüber zu machen, was ich von ihrem neuen Freund hielt. Ich ging an der Kühlerhaube vorbei zur Fahrerseite. Haylie schaute mich immer noch an. Achselzuckend rutschte ich ins Auto. Ich wusste nicht, was ich ihrer Meinung nach verstehen sollte. Sie brauchte sich nicht für ihn zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, falls es das war, was sie beabsichtigte. Es interessierte mich nicht, ob Jimmy ein Morgenmensch war oder nicht. Sie war es, die das Wochenende mit ihm verbringen würde - ich hatte bloß die Schlüssel für sein Auto und sein Haus.

Als ich zehn Jahre alt gewesen war, hatte ich mein Fahrrad unabgeschlossen vor der Bücherei stehen lassen, und jemand hatte es gestohlen. Meine Eltern weigerten sich, mir ein neues zu kaufen. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass du es immer anketten sollst?«, fragte mein Vater. Meiner Mutter schien ich leidzutun, aber auch sie blieb hart. »Ich weiß, wie sehr du dein Rad geliebt hast«, sagte sie. »Aber wenn du das Geld für ein neues selbst verdienen musst, wirst du in Zukunft besser darauf aufpassen. Du wirst es mehr zu schätzen wissen.«

Als ich mir im nächsten Frühjahr ein neues Fahrrad kaufte, wusste ich es tatsächlich mehr zu schätzen und ließ es nicht ein einziges Mal unabgeschlossen stehen. Und obwohl meine Eltern glaubten, ich würde wegen der Stunden, die ich damit verbracht hatte, Laub und Gras zu rechen, Staub zu saugen und Bowzers Kot aus dem Garten zu entfernen, besser darauf achten, stimmte das eigentlich nicht. Es lag vielmehr an dem Jahr, das ich ohne Fahrrad verbracht hatte und in dem ich gezwungen gewesen war, neben meinen Freunden her zu rennen, wenn sie alle irgendwohin radelten, oder auf dem Gepäcksitz mitzufahren, was zwar angenehmer, aber auch demütigend war. An dem Tag, an dem ich mein neues Rad bekam, fuhr ich damit herum, bis es dunkel wurde, angetrieben von reiner Freude, mit Beinen, die sich wie Sprungfedern anspannten und wieder lösten.

Dieselbe reine Freude empfand ich, als ich endlich allein in Jimmys Auto saß und meine eigene CD einlegte. Ich weiß, dass manche Menschen es hassen, Auto zu fahren. Aber ich nehme an, die meisten von ihnen haben einen Wagen. Wenn sie irgendwohin wollen, müssen sie nicht höflich um eine Mitfahrgelegenheit bitten, sich nach dem Busfahrplan richten oder sogar zu Hause bleiben. Sie steigen einfach in ihr Auto und fahren los. Und unter Umständen wissen sie es nicht einmal zu schätzen, obwohl sie sich ihre Autos mit harter Arbeit verdient haben. Nach einer Weile ist es einfach eine Selbstverständlichkeit. Nicht so für mich. Als ich vom Flughafengelände fuhr, fühlte ich mich, als würde ich fliegen. Ich genoss die Geschwindigkeit und jede Sekunde meiner Freiheit.

Gerade war ich auf dem Zubringer zur Autobahn, als ein Regentropfen auf der Windschutzscheibe gefror. Ich sah noch einen und dann noch einen. Und auf einmal waren es so viele, dass die gefrierende Nässe in den Scheibenwischern hängen blieb und sie aus dem Takt brachte. Ein Geländewagen auf der äußeren Spur schlingerte ein paar Sekunden lang hin und her, ehe der Fahrer den Wagen wieder unter Kontrolle hatte. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel, auf die Autobahn hinter mir. Auf beiden Seiten der Straße war Farmland, kahle Felder, ein Silo. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich irgendeine Wahl hatte. Schließlich konnte ich nicht einfach umkehren.

Deshalb stellte ich den CD-Player ab und setzte mich aufrecht hin. Ich konnte es schaffen. Meine Mutter hatte Elise und mich einmal in einem Schneesturm von der Schule nach Hause gefahren. Mit beiden Händen hatte sie das Lenkrad festgehalten und uns ermahnt, keinen Laut von uns zu geben, als wir langsam an Autos in Straßengräben und Autos, die sich ineinander verkeilt hatten, vorbeifuhren. Meine Mutter hatte beim Fahren geredet; ihre Stimme war ruhig gewesen, und ihre Augen waren unverwandt auf die Straße gerichtet. Wenn man auf Glatteis ins Schleudern komme, erklärte sie uns, dürfe man nicht einfach auf die Bremse treten. Bremsen sei der erste Impuls, aber manchmal müsse man ihn ignorieren. Man müsse einfach weiterfahren, sagte sie, und sich durchlavieren.

Der MINI Cooper - so schick er auch war - eignete sich nicht besonders gut für vereiste Straßen. Aber indem ich sehr langsam fuhr und kaum bremste, brachte ich einige Meilen glatter Brücken und rutschiger Kurven hinter mich. Ich kam an einem Sattelschlepper vorbei, der sich auf der Mittelspur quergestellt hatte, und an einem Van, der im Graben auf der Seite lag. Doch bei keinem von beiden blieb ich stehen; schon als Kinder hatten Elise und ich gebannt den Schauergeschichten meines Vaters gelauscht, wenn er erzählte, was einem Mädchen auf dem Highway alles passieren konnte, wenn es die Sicherheit seines Wagens verließ. »Bleibt für niemanden stehen!«, hatte er uns eingetrichtert. Er wisse, dass es hart klänge, aber es gebe da draußen Menschen, die eine Panne oder eine Verletzung vortäuschten, um einen in ihr Auto zu zerren. Wenn man auch nur das Seitenfenster öffne, sei man dran, falls der andere eine Pistole habe. »Egal, ob es ein Mann oder eine Frau ist«, hatte er hinzugefügt. Und jeder könne sich wie eine Nonne anziehen oder sich als älterer Mensch verkleiden. Ted Bundy habe einen Gips getragen. Es sei nett, anderen zu helfen, räumte mein Vater ein. Aber auf der Straße müsse man auf sich selbst aufpassen.

Deshalb fuhr ich weiter. Aber nachdem ich die gestrandeten Autos passiert hatte, griff ich in meine Tasche, um nach meinem Handy zu suchen. Ich fand, ich sollte wenigstens die Polizei anrufen. Doch es war nicht da. Ich tastete zwei Meilen lang danach und hoffte das Beste. Damit war ich gerade beschäftigt, als ich den Unfall baute. Es ging - wie es bei Autounfällen normalerweise ist - sehr schnell, und ich bezweifle, dass es anders gekommen wäre, wenn ich das Lenkrad mit beiden Händen festgehalten hätte. Ich drückte stoßweise auf die Bremse und versuchte selbst dann noch zu lenken, als der Wagen immer näher in Richtung Graben trudelte, um dann mit der Kühlerhaube voran hineinzukrachen. Glas splitterte, und ich flog nach vorne. Doch mein Gurt hielt mich, und ich sackte zurück.

Ein paar Sekunden lang rührte ich mich nicht. Ich saß einfach da, die Hände um das Lenkrad geklammert, einen Fuß fest auf die Bremse gedrückt. Bei dem Aufprall war der Rückspiegel abgebrochen; er lag auf dem Armaturenbrett, und zwar so, dass ich mein Spiegelbild sehen konnte, meine aufgerissenen Augen, meine entblößten Zähne. Ich atmete mehrmals tief durch. Ich löste meine Hände vom Lenkrad und bewegte meine Finger. Dann nahm ich meinen Fuß von der Bremse und wackelte mit den Zehen. Mein Hals und meine Schulter taten an der Stelle weh, wo der Sicherheitsgurt saß, aber ich war nicht ernsthaft verletzt. Ich fasste an meinen Kopf und strich mein Haar zurück.

Ich war okay. Meine Hände zitterten. Ich war okay. So schlimm war es nicht. Die Airbags waren nicht aufgegangen, aber ich hatte Glas splittern gehört. Irgendetwas war kaputt. Ich versuchte, nicht an Jimmy zu denken.

Was nun? Was nun? Der Motor lief noch. Ich trat vorsichtig auf das Gaspedal und hörte ein wildes, gurgelndes Geräusch, aber es bewegte sich nichts. Dann legte ich den Rückwärtsgang ein und versuchte es noch einmal. Nichts.

»Schon gut«, sagte ich laut, doch meine Zähne klapperten. »Schon gut. Alles in Ordnung.«

Ich stellte den Motor ab, setzte meine Mütze auf und öffnete die Tür. Das Unkraut knirschte unter meinen Stiefeln; jeder Halm, jedes Blatt war vollständig mit einer makellos glatten Eisschicht überzogen. Um Halt zu finden, legte ich eine Hand auf die Kühlerhaube, als ich um den Wagen herum nach vorne ging. Das Licht des wolkenverhangenen Sonnenaufgangs war schwach, aber ich konnte sehen, dass sich die Stoßstange in den rechten Vorderreifen gebohrt hatte. Das Glas, das ich splittern gehört hatte, war der rechte Scheinwerfer gewesen.

Ich lehnte mich an den Wagen und rieb mir die Schulter, die noch immer an der Stelle schmerzte, wo der Gurt gesessen hatte. Der Wind war stark, und winzige, eiskalte Regentropfen peitschten mir auf Wangen und Nase. Ich rieb mir weiter die Schulter und schaute mich um. Graues Eis, ein silbriger Himmel mit tiefhängenden Wolken und die leere Autobahn - mehr gab es nicht zu sehen. Ein Kombi glitt vorbei, und ich beobachtete, wie er in der Ferne hinter einer Anhöhe verschwand. Das war nur fair. Niemand sollte für irgendjemanden anhalten. Schließlich hätte ich eine Mörderin sein können.

Ich stieg wieder in das Auto und kramte in meinem Rucksack nach meinem Handy, in der Hoffnung, ich hätte es bloß übersehen. Hatte ich aber nicht. Ich hatte mein Physiologiebuch, meine Magnetstreifenkarte für die Kantine, meinen Führerschein, eine Tüte Bonbons und etliche Pistazienschalen dabei. Und das war's.

Mein Vater hatte mir natürlich massenweise Ratschläge gegeben, was zu tun wäre, wenn ich einen Autounfall hätte. Ich sollte im Wagen bleiben, die Türen verriegeln und auf die Polizisten warten. Wenn sie kamen, sollte ich mir erst ihre Ausweise zeigen lassen, bevor ich das Fenster herunterkurbelte. Doch noch bevor ich irgendetwas von alldem tat, sollte ich meinen Vater anrufen - mit dem Handy, das ich immer bei mir haben sollte und das mein Vater mir gekauft hatte; nicht etwa, weil er es mir erleichtern wollte, den ganzen Tag mit meinen Freunden zu reden - »bla bla bla«, wie er es nannte -, sondern damit ich im Notfall eines zur Hand hatte.

Ich betrachtete mich im Rückspiegel. Meine Nase lief, und mein Gesicht war blass. Wenn er von dem hier hörte, würde er brüllen. Später würde er sagen, wie leid es ihm tue und dass er nur gebrüllt habe, weil er mich liebe und nicht wolle, dass mir etwas Schlimmes zustieß. Aber vorher würde er brüllen.

Ich weiß nicht genau, wie lange ich so dasaß. Meine Uhr hatte ich ebenfalls vergessen. Es kam mir wie eine Stunde vor, aber vielleicht war es auch weniger. Der gefrierende Regen wurde zu normalem Regen und hörte schließlich ganz auf. Mir war kalt, ich hatte Hunger, und ich sehnte mich nach Koffein. Die aufgehende Sonne war ein heller Fleck am Himmel. Ich starrte sie an, ohne die Augen zusammenzukneifen, und versuchte zu erraten, wie spät es war. Um zehn Uhr fing mein Physiologielabor an. Meine Lehrerin - eine Doktorandin aus Äthiopien, die aussah, als wäre sie vielleicht zwei Jahre älter als ich -, hatte uns mitgeteilt, dass ihr bewusst sei, dass Leute wirklich die Grippe bekämen und Großmütter wirklich stürben und dass es alle möglichen legitimen und tragischen Gründe gebe, die uns vom Unterricht fernhalten könnten. Aber sie sei der Überzeugung, dass diese Tragödien nicht ihr Problem wären. Letzten Endes war Arbeit Arbeit und musste zu einer bestimmten Zeit erledigt werden.

Trotzdem gab es nichts, was ich hätte tun können. In beiden Richtungen sah man nur die kalte Fahrbahn und Eis und keine Spur von der Autobahnpolizei. Ich stellte das Radio an und drehte den Regler an Countrymusik und krächzender Werbung vorbei, bis ich die leise Stimme eines Sprechers hörte, der vor den riskanten Straßenverhältnissen warnte. Vor allem Brücken seien gefährlich. Der Sturm zöge bereits über das Stadtgebiet von Kansas City und wandere dann weiter Richtung Norden. Den Personen, die bereits in Unfälle verwickelt seien, werde empfohlen, in ihren Autos zu warten, nicht 911 anzurufen - falls nicht ein echter Notfall vorliege - und sich auf eine lange Wartezeit einzustellen.

»Ehrlich«, sagte der Sprecher, während die ersten Takte von Hotel California allmählich lauter wurden, »wahrscheinlich ist es besser, wenn ihr einfach aussteigt, dem anderen Fahrer eins auf die Nase gebt und es unter euch ausmacht. Ihr seid beide Idioten, wenn ihr euch bei so einem Wetter ans Lenkrad setzt. Gesteht es euch ein, begrenzt den Schaden und fahrt heim.«

Als das Sonnenlicht ein bisschen kräftiger wurde, wischte ich die beschlagene Scheibe frei und entdeckte am Horizont etwas, das wie das Schild einer Tankstelle aussah. Es schien nicht allzu weit weg zu sein, höchstens ein bis zwei Meilen. Ich hörte im Kopf die Stimme meines Vaters und blieb noch eine Weile, wo ich war. Aber je kälter mir wurde, desto weniger sinnvoll schien mir sein Rat zu sein. Ich setzte mir meine Mütze wieder auf und stieg aus dem Wagen.

Schnell stellte ich fest, dass ich besseren Halt hatte, wenn ich auf dem Streifen mit dem vereisten Unkraut zwischen Fahrbahnrand und Graben ging. Ich trug meinen Rucksack vor der Brust, um besser das Gleichgewicht halten zu können. Ich war fünf, vielleicht zehn Minuten gegangen, als es wieder zu regnen anfing. Dicke, kalte Tropfen, die auf das Eis fielen und es noch rutschiger machten. Ich zog meine Kapuze über meine Mütze und machte sie zu, sodass nur noch meine Augen hervorschauten. Es könnte schlimmer sein, sagte ich mir. Immerhin hatte ich daran gedacht, Handschuhe anzuziehen, und ich trug die guten Stiefel, die meine Mutter mir geschenkt hatte.

Hinter mir hörte ich den Laster näher kommen, lange bevor ich ihn sah. Der Himmel hing tief, und der Hügel lag im Dunst. Als ich mich umdrehte, sah ich Scheinwerfer wie zwei gelbe Augen durch das Grau des frühen Morgens leuchten. An die Farbe der Fahrerkabine kann ich mich allerdings nicht erinnern. Ich erwartete nicht, dass er anhalten würde.

Aber er hielt an und blieb mit brummendem Motor fast direkt vor mir stehen. Ich wartete, unschlüssig, was ich machen sollte. Was das Fahren per Anhalter anging, musste ein Mädchen meinem Vater zufolge völlig den Verstand verloren haben, wenn es an so etwas auch nur dachte. »Sobald du bei jemandem ins Auto steigst«, hatte er zu Elise und mir gesagt, »hast du keine Kontrolle mehr. Du bist in der Welt der anderen, okay? Sie sagen, wo es langgeht.«

Mein Vater war natürlich per Anhalter gefahren, als er noch jung war. In dem Sommer, bevor er mit seinem Jurastudium angefangen hatte, war mein Vater mit einer Gitarre auf dem Rücken kreuz und quer durchs Land gereist, indem er am Straßenrand den Daumen heraushielt. Aber die Zeiten hätten sich geändert, meinte er. So etwas könne man einfach nicht mehr machen, schon gar nicht als Frau. Es täte ihm leid, falls sich das ungerecht anhöre. Als Elise den Mund aufmachte, hob er eine Hand. »Das Leben ist nicht gerecht«, fügte er hinzu. »Gewöhnt euch daran.« Er hatte ein ganzes Arsenal an Beispielen parat, um zu beweisen, dass die Welt ein Dschungel war und junge Mädchen häufig die Opfer. Wenn wir ihm nicht glauben würden, sollten wir die Zeitung lesen.

Ich starrte aus zusammengekniffenen Augen den Laster an. Der Rest meines Gesichts war immer noch von meiner Kapuze verborgen. Meine Freundin Becky Shoemaker von der Highschool war nach dem Schulabschluss per Anhalter bis nach Kalifornien und zurück gefahren, und ihr war nichts Schlimmes passiert. Im Gegenteil, sie war eingeladen worden, mit einem Kirchenverein, der durch Arizona reiste, eine Höhle zu besichtigen, und ein Fernfahrer, dessen Familie in Chula Vista lebte, hatte ihr für den Fall, dass sie in Kalifornien einen Platz zum Übernachten bräuchte, die Telefonnummer seiner Frau gegeben. Als Becky Shoemaker in Kalifornien angekommen war, hatte sie die Frau des Fernfahrers angerufen und war schließlich fast eine Woche bei ihr geblieben. Als ich Becky fragte, ob sie nie Angst gehabt hätte, bei Fremden ins Auto zu steigen und bei Fremden zu übernachten, hatte sie mich angeschaut, als sei ich nicht ganz bei Trost. »Etwas Schlimmes passiert nur dann, wenn man ständig daran denkt. Dann zieht man es praktisch an«, hatte sie mit der rechtmäßigen Autorität einer Person gesagt, die es geschafft hatte, sich mit weniger als fünfzig Dollar zwei Wochen lang in Kalifornien durchzuschlagen.

Der Fahrer drehte sein Fenster herunter und spähte zu mir hinaus. Er trug eine John-Deere-Kappe.

»Was machst du denn da?« Seine Stimme klang beruhigend freundlich.

Ich zog die Kapuze unter mein Kinn, so, dass mein Mund wieder frei war. »Ich hatte einen Unfall mit meinem Auto.« Mein Auto, dachte ich. Ich hatte einen Unfall mit meinem Auto gehabt. An Jimmy wollte ich nicht denken.

»Was?« Er legte eine Hand hinter sein Ohr.

Ich hielt meine Hände wie einen Trichter vor meinen Mund. »ICH HATTE EINEN AUTOUNFALL!«

»Ach so«, sagte er. »Du und alle anderen. Willst du mitfahren?«

Ich schüttelte höflich den Kopf, als würde ich einen Becher heiße Schokolade ablehnen. »Aber könnten Sie vielleicht die Autobahnpolizei für mich anrufen?«

»Klar.« Er legte eine Hand auf den Fensterrahmen. »Wird aber 'ne Weile dauern.« Er nickte mit dem Kopf unbestimmt nach hinten. »Die haben heute jede Menge Arbeit.«

Ich schaute zurück und nickte auch, sagte aber nichts. Wir standen da wie zwei Farmer, die sich über das Wetter unterhielten. Der Regen peitschte hart gegen mein Kinn. Ich schnürte meine Kapuze wieder fest zu. Der Motor des Lasters ächzte und knurrte, und beim Einatmen schmeckte ich Öl.

»Du wirst hier draußen ganz schön frieren. Wo soll's denn hingehen?«

»Bloß zu der Tankstelle da.« Ich hob einen Arm und zeigte zu ihr hinüber, als ob es eine andere Richtung gegeben hätte, in die man hätte gehen können.

»Komm schon, steig ein. Wir sind in ein paar Minuten da.«

Ich schaute zu ihm hinauf. Er war glatt rasiert, lächelte und schien nicht viel älter zu sein als ich. Wie ein Killer sah er nicht aus. Es musste frustrierend sein, wenn man ein netter Mann war, dachte ich, nett und hilfsbereit, und sich die Frauen trotzdem immer fragten, ob man sie nicht ermorden wollte.

»Du erfrierst hier draußen«, sagte er. »Und es ist gefährlich, zu Fuß auf der Autobahn zu gehen.« Dann lachte er auf eine Art, die erkennen ließ, dass er tatsächlich frustriert war. Er dachte wie ich. Mein Verhalten war albern. Ich machte ein paar zaghafte Schritte auf die Fahrerkabine zu, und die Tür sprang auf. Ich hatte Probleme, mich hochzuhieven - das Trittbrett schien für jemanden mit weit größerer Schrittlänge gedacht zu sein. Aber als ich endlich oben ankam, war da ein Beifahrersitz mit Sicherheitsgurt. Ich spürte den warmen Luftstrom einer guten Heizung, schloss die Tür und rutschte mit einem Seufzer auf den Sitz.

»Besser?« Er legte den Gang ein und lächelte, sodass sich um seinen Augenwinkel Lachfältchen bildeten. Die Kabine roch nach Zwiebeln, und ein Paar schwarze Socken lag zum Trocknen auf dem Armaturenbrett, aber die Wärme fühlte sich gut an. Eine Plastiktüte, die mit Fastfood-Packungen und leeren Pappbechern vollgestopft war, baumelte direkt über meinen Knien an einem Halter.

»Viel besser.« Es war mir peinlich, dass ich zunächst gezögert hatte. Ich hoffte, es mit Dankbarkeit wiedergutmachen zu können. »Vielen Dank«, sagte ich. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« In der Kabine war es fast unangenehm warm. Ich schob meine Kapuze zurück und nahm meine Mütze ab.

Er schaute kurz zu mir herüber und dann wieder auf die Straße. Ich konnte hören, wie Eis an die Scheibe schlug, aber ihm schien es nichts auszumachen - nicht einmal, als der Laster schneller wurde. Er trug Jeans und ein Flanellhemd, als ginge ihn das Wetter draußen nichts an.

Er nickte mit dem Kopf in die Richtung meiner Büchertasche. »Du gehst zur Uni?«

»Ja.« Ich staunte, wie weit oben wir saßen. Noch nie zuvor war ich in einem LKW mitgefahren. »Kansas University.«

»Klasse.« Er schnippte mit den Fingern und ahmte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole nach. »Rock Chalk Jayhawk.« Das war das Uni-Maskottchen.

»Hipp, hipp, hurra!«, entgegnete ich und hob müde einen Arm.

»Das ist in Lawrence, stimmt's?«

Ich nickte.

Er warf mir einen Blick zu, der mir wieder das Gefühl gab, albern zu sein. »Das liegt direkt auf dem Weg. Wohnst du da? Ich kann dich hinbringen.«

Ich machte den Mund auf, aber wieder fiel mir nicht ein, was ich sagen sollte. Wenn er mich nach Lawrence führe, könnte ich den Bus zum Campus nehmen und es wahrscheinlich noch rechtzeitig zu meiner Laborstunde schaffen. Ich könnte vorher sogar noch ins Wohnheim gehen, Kaffee trinken und mir die Zähne putzen. Wir näherten uns der Tankstelle. Er spähte zu mir herüber und ging vom Gas.

»Ja. Danke. Es wäre ganz toll, wenn Sie mich nach Lawrence bringen könnten«, sagte ich. »Danke.« Ich hielt mir meine zusammengeknautschte Mütze vor den Mund, um zu verhindern, dass ich mich noch einmal bei ihm bedankte. Im Fahrerhaus war es jetzt fast schon heiß, aber meine Zähne klapperten immer noch. Ich fühlte mich komisch, auf seltsame Weise aufgekratzt. Vielleicht war ich unterkühlt. Oder vielleicht hatte ich mir bei dem Unfall den Kopf angeschlagen und konnte mich nur nicht mehr daran erinnern. Oder ich machte mir einfach Sorgen wegen Jimmy.

Ich schaute den Fahrer an. Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick auf die Straße gerichtet.

»Ich habe das Auto von jemand anderem zu Schrott gefahren«, fing ich an.

Er warf mir einen kurzen, neugierigen Blick zu. Mehr brauchte ich nicht. Ich erzählte ihm alles, sprach zu schnell und atmete die trockene Wärme ein. Ich musste einfach irgendjemandem erzählen, was passiert war. Er war ein unbeteiligter Fremder, und ich wollte seine Meinung hören.

Er zuckte die Achseln. »Das war das Glatteis. Nicht deine Schuld.«

»Aber Sie kennen diese Leute nicht.« Und dann erzählte ich ihm von Jimmy und Haylie. Ich lieferte eine gute Beschreibung von Jimmy und erwähnte Haylies Warnung, ihn bloß nicht zu verärgern. Der Fahrer lächelte, sodass ich mich ein bisschen besser fühlte. Ich konnte das Ganze leichter nehmen, eine komische Geschichte daraus machen, etwas, das ich im Griff hatte.

»Hey«, sagte er. »Sprich weiter. Ich bin seit sechs Tagen unterwegs. Es ist schön, mal eine andere Stimme zu hören.«

Also redete ich weiter. Ich verriet ihm, dass ich mein Handy vergessen hatte und dass mein Vater mich umbringen würde. Außerdem erzählte ich ihm auch, dass ich wahrscheinlich zu spät zu meinem Physiologiekurs kommen würde und wie sehr ich mir wünschte, an diesem Morgen keinen Hundshai sezieren zu müssen. Er könne sich erinnern, auf der Junior High einen Frosch seziert zu haben, erwiderte er. Der Frosch habe ihm zwar ein bisschen leidgetan, aber er habe es toll gefunden, zu sehen, wie sein Inneres funktionierte.

Wir waren nicht mehr weit von Lawrence entfernt. Ich konnte in der Ferne den Campus auf dem Hügel sehen und die Zwillingsflaggen von Fraser Hall, die in der grauen Luft nur schwach zu erkennen waren. Vielleicht schaffte ich es ja doch noch ins Labor. Immerhin fuhren wir schnell und kamen gut voran. Ich betrachtete die Felder längs des Highways, auf denen tote Weizenstängel von all dem Wind und Eis auf den Boden gedrückt wurden.

»Bei der nächsten Ausfahrt kann ich aussteigen«, sagte ich.

»Erzähl mir noch was«, forderte er mich auf. »Du bist besser als das Radio.«

Aber mir fiel nichts mehr ein. Die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar. Meine Schulter tat weh, und ich war mir sicher, dass der Sicherheitsgurt eine Quetschung verursacht hatte.

»Entschuldigung. Ich bin müde.« Ich rieb mir die Schulter.

Er warf mir einen Blick zu. »Hast du dich verletzt oder so?«

»Ach, ich glaube, der Sicherheitsgurt hat meine Schulter gequetscht.« Ich zog Schal, Jacke und Pulli zur Seite und spähte nach unten. Als ich wieder aufblickte, sah er mich an.

»Da ist meine Ausfahrt.« Ich zeigte auf das Schild.

Doch er ging nicht vom Gas, und ich schaute ihn an, um zu sehen, ob er mich gehört hatte. Seine blauen Augen waren trübe, sein Kiefer schlaff.

»Da ist meine Ausfahrt«, wiederholte ich. Das Schild schien sehr schnell näher zu kommen. Ich zeigte immer noch mit ausgestrecktem Arm darauf. Wir fuhren daran vorbei, und ich zog meinen Arm zurück. Schweißflecken bildeten sich unter meinen Achseln. Mein Mund fühlte sich heiß und trocken an.

»Das war meine Ausfahrt«, sagte ich.

»Oh«, sagte er. »Das war deine Ausfahrt. Entschuldigung. Ich dachte, sie kommt erst später.«

Ich spürte ein Kribbeln unter der Haut, Blut, das meine Hände und meine Kehle erwärmte. »Schon gut«, erwiderte ich vorsichtig. Ich schaute auf die Straße, nicht zu ihm. »Weiter vorne kommt noch eine Ausfahrt Richtung Lawrence. Da können Sie mich rauslassen.«

»Klar«, versprach er. »Kein Problem.«

Ich starrte aus dem Fenster, lauschte auf den brummenden Motor und das Quietschen der Scheibenwischer. Alles in Ordnung. Alles würde gut gehen. Er hatte mich einfach nur nicht gehört.

Er beugte sich vor und fing meinen Blick ein. Auf der linken Wange hatte er einen tiefen Kratzer. »Du bist doch nicht sauer, oder?«

»Nein«, sagte ich. Im Spiegel erhaschte ich einen Blick auf mich. Etwas an meinem Gesichtsausdruck ließ mich an meine Mutter denken. »Es gibt ja noch eine Ausfahrt Richtung Lawrence. Ich steige einfach da aus.«

Ein Auto überholte uns und schleuderte mit seinen Reifen Matsch hoch. Es sah klein und flach aus.

»Magst du nicht mehr reden?«

Ich schüttelte den Kopf und schaute immer noch weg. Jetzt fielen winzige Schneeflocken. Sie prallten gegen den Außenspiegel, schmolzen und zerflossen. Ich hielt nach der nächsten Abfahrt Ausschau.

Er wartete ab, bis die Scheibenwischer ungefähr zehnmal hin- und hergeglitten waren, ehe er weitersprach.

»Du hast bestimmt einen Freund.«

Das war das erste Mal, dass seine Stimme überhaupt nicht freundlich klang. Vor allem das Wort Freund klang nicht freundlich. Ein Anflug von Vorwurf schwang darin mit, eine gewisse Gereiztheit. Alles in mir erstarrte, mein Atem, mein Herzschlag ...

»Ach so, jetzt willst du mir nicht mal das sagen?«

Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihm nicht antworten können. Mein Kiefer war verkrampft, meine Zunge klebte am Gaumen, und ich wollte nicht antworten. Es war schwer zu sagen, was klüger wäre, ein Ja oder ein Nein. Ich dachte an Tim. Er war mittlerweile längst unterwegs nach Chicago, nördlich des Unwetters, und ahnte nichts. Ich sah sein Gesicht vor mir und fühlte Tränen in mir aufsteigen.

»Ich wette, du hast einen«, sagte er. Er blies die Backen auf und stieß einen langen, bekümmerten Seufzer aus. »Ich wette, wenn er dich darum bittet, sprichst du mit ihm.« Eine Pause entstand, man hörte nur das Geräusch der Scheibenwischer. »Ich wette, du machst so ziemlich alles.«

»Dort ist eine Ausfahrt«, versuchte ich es und streckte wieder Arm und Zeigefinger aus. Ich sah ihn so unbefangen wie möglich an. »Das ist die letzte Ausfahrt Richtung Lawrence. Dort muss ich aussteigen.«

Er schaute mich nicht an, und ich wandte mich zum Fenster und sah zu, wie wir an der Ausfahrt vorbeifuhren. Ich blickte nach unten auf die weit entfernte Fahrbahn, die unter uns dahinjagte. Wieder schaute ich in den Außenspiegel. So ging das also. So ein Gefühl war das also. Ich war eine Fliege im Spinnennetz, ein Bär in der Falle. Ich hatte die falschen Entscheidungen getroffen - vielleicht auch nur diese eine -, und zum Umkehren war es zu spät.

Er schwieg so lange, dass ich mich schließlich wieder zu ihm umdrehte. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, und er saß kerzengerade. Seine Atemzüge waren lang und tief - irgendwie entschieden -, und seine Nasenflügel bebten, wenn er einatmete. Er schien selbst Angst zu haben, aber ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.

»Sie müssen mich rauslassen«, sagte ich, wobei ich mich dazu zwang, leise und ruhig zu sprechen.

Er schluckte und nagte dann an seiner Unterlippe. Die Scheibenwischer fuhren immer noch hin und her, obwohl es nicht mehr regnete.

»Sie müssen mich rauslassen. Fahren Sie einfach rechts ran. Lassen Sie mich aussteigen. Sie haben die Ausfahrten verpasst. Das ist kein Verbrechen.« Ich betonte das letzte Wort. »Aber ich möchte jetzt aussteigen.«

Er schüttelte den Kopf, ganz leicht nur - vielleicht, weil ihm einfiel, dass er mir nicht zu antworten brauchte. Ein anderer LKW überholte uns dröhnend. Der Fahrer starrte unverwandt nach vorne. Wir fuhren an den westlichen Außenbezirken von Lawrence vorbei, den neuen Wohngebieten, wo Häuser mit großen Rasenflächen und Garagen für drei Autos standen. Ein Haus war bereits weihnachtlich geschmückt, im Vorgarten stand ein Engel, der eine Trompete hielt, und an der Tür hing ein Adventskranz.

»Ich will raus«, bat ich wieder und schloss dann - als ich hörte, dass meine Stimme zu kippen drohte - den Mund. Ich wandte meinen Kopf ab. Wie von selbst tauchten meine Eltern vor meinem geistigen Auge auf und meine Schwester auch. Ich sah uns alle auf dem letzten Familienporträt, das vor der Scheidung gemacht worden war. Meine Mutter und mein Vater standen Arm in Arm hinter Elise und mir, die Hand meiner Mutter lag auf meiner Schulter, die meines Vaters auf der von Elise, und meine Schwester und ich standen wiederum so nahe beieinander, dass sich unsere Arme berührten. Wir waren alle miteinander verbunden, ein Kreis aus Schultern und Armen. Auf diesem Bild, das in unserem alten Haus über dem Kamin gehangen hatte und jetzt bei meinem Vater im Keller lag, lächelten wir alle. Ich dachte an Tim, an seine Hände in meinem Haar, an die Nachricht auf dem Zettel, den er an meiner Wange hinterlassen hatte.

»Sie müssen mich aussteigen lassen.« Ich starrte so lange an die Decke der Fahrerkabine, bis meine Augen trocken waren. Dann lehnte ich mich vor und sah ihm ins Gesicht. »Hören Sie zu. Ich habe einen Vater und eine Mutter und eine Schwester. Ich habe Freunde, und sie lieben mich. Sie lieben mich! Meine Eltern lieben mich. Verstehen Sie? Ich bin jemandes Tochter. Lassen Sie mich raus!« Meine Stimme war ruhig und gelassen, aber sehr fest. »Sie lassen mich jetzt sofort aussteigen.«

Er hob seine Hand und schirmte seine Augen ab, als wollte er mich aus dem Blickfeld haben. Dann schaute er in den Rückspiegel und fuhr sich mit einer Hand über die Stirn.

Ich wandte mich wieder ab und starrte nach unten auf die Fahrbahn. Ich konnte nicht aus dem Wagen springen. Ich würde mir wehtun und wäre draußen in der Kälte, kein Mensch in der Nähe, der mir helfen konnte, und wahrscheinlich nicht in der Lage, zu laufen. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, und das Eis auf den Bäumen und Feldern funkelte wie eine Million winziger Glasscherben. Das helle Leuchten eines sonnenüberfluteten Edelsteins. Meine Mutter liebte Mark Twain, und ich konnte mich daran erinnern, dass sie nach jedem Schneesturm diesen Satz zitiert und dabei glücklich aus dem Auto oder Küchenfenster geschaut hatte. Ich behielt die Worte im Kopf und klammerte mich an ihnen fest, während ich meine Hände in den Handschuhen zu Fäusten ballte. Das helle Leuchten eines sonnenüberfluteten Edelsteins.

Der Lastwagen rollte weiter, und wir kamen an einer Reklametafel vorbei, die für ein Hotel mit Innenpool in Topeka warb, nur fünfzehn Meilen von hier entfernt. Hoch am Himmel kreiste ein Falke. Ich war schon einmal auf diesem Abschnitt der Autobahn gewesen, bei einem Schulausflug zum Staatskapitol. Aber das war an einem sonnigen Apriltag gewesen, als Kühe auf den Weiden gegrast hatten und ein Fohlen an einem Zaun entlanggeprescht war.

Ich drehte den Kopf leicht in die Richtung des Fahrers und ließ meinen Blick umherwandern. Ein Eiskratzer lag auf dem Armaturenbrett, viel näher bei ihm als bei mir, und eine große Taschenlampe steckte in einem Sportbeutel, der über seiner Sitzlehne hing. Außerdem ragte der Abschnitt eines Tickets aus einem Aschenbecher neben dem Lenkrad. Mein Blick verharrte darauf, und mein Atem beruhigte sich: Wir waren ja auf einer gebührenpflichtigen Straße.

Ich blieb ganz ruhig und starrte unverwandt nach vorne. Um die Straße zu verlassen, würde er Maut bezahlen müssen. Es würde eine Kasse mit einem Angestellten geben. Manche Leute besaßen spezielle Vignetten, mit denen sie einfach durchfahren konnten, aber ich konnte nichts dergleichen auf seiner Windschutzscheibe entdecken. Er kam von außerhalb und war auf der Durchfahrt. Ich hob mein Kinn, atmete tief ein und blickte auf die Straße, die vor uns lag.

Er langte herüber, um die Heizung niedriger zu stellen. Als ich ihn ansah, stellte ich fest, dass seine Schläfen und Unterarme von Schweiß glänzten. »Ich lass dich raus«, versprach er. »Aber nicht hier, nicht auf der Straße. Ich lasse dich in Topeka raus. Oder bei der nächsten Ausfahrt, was auch immer.«

»Okay«, stimmte ich zu. »Ich glaube Ihnen.«

»Ich wollte dir nichts tun.« Lachend sah er mich an, als wäre allein die Vorstellung lächerlich. »Ich war bloß abgelenkt, weißt du, von deinem Gerede. Du redest viel. Ich bin es nicht gewohnt, jemanden hier zu haben, der redet.«

»Klar«, gab ich zurück. Ich brachte ein - wie ich hoffte - überzeugendes Lächeln zustande. »Klar. Das verstehe ich.«

Wir waren immer noch ein ganzes Stück von Topeka entfernt, als ich direkt vor uns die Wimpel einer Raststätte mit Tankstelle sah. Die Ausfahrt, die zu ihr führte, war auf halbem Weg einen Hügel hinauf. Es war eine Mautstation, ein geschlossener Bogen, ohne jede Möglichkeit, sich vor der Gebühr zu drücken.

Ich hob meine Hand und zeigte mit dem Finger darauf, als ob mir das vorher etwas genützt hätte. »Da«, sagte ich wieder. »Ich steige einfach aus ...«

»Ich weiß«, erwiderte er gereizt. Er schaltete, und so unglaublich es mir schien: Der Lastwagen wurde tatsächlich langsamer! Es war fast schon ein Wunder. Ich langte nach meiner Büchertasche, ohne dabei den Kopf zu senken, die Augen auf das Ausfahrtsschild gerichtet, den Fahrer immer noch im Blickfeld. Auf dem Parkplatz konnte ich Autos einer Hardee's-Filiale sehen und ein Paar in NASCAR-Jacken, das vorsichtig über das Eis zu seinem Wagen zurückging.

»Hey, hör mal ...« Er drehte sich zu mir um, eine Hand auf dem Lenkrad, die andere in meine Richtung ausgestreckt.

Doch ich hörte nicht. Wir waren immer noch weit von dem Restaurant entfernt. Zwar fuhren wir nicht mehr, aber der Motor lief noch. Ich machte die Tür auf und sprang. Meine Füße rutschten auf dem Eis weg, ich schlitterte nach vorne und schlug mit dem Gesicht gegen die offene Beifahrertür. Sofort stand ich auf und fiel wieder hin. Ich hörte die Tür zuschlagen und die Gangschaltung knacken. Schwer atmend blickte ich auf. Bis ich wieder auf den Beinen war, rollte der LKW bereits davon.

Bei Hardee's war kaum jemand. Ein Mann saß in einer der Fensternischen, spielte Solitär und trank eine Tasse Kaffee. Ein Mädchen meines Alters mit brauner Uniform fegte hinter der Theke den Boden. Als sie zu mir aufblickte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.

»Sie bluten«, stellte sie missbilligend fest.

Ich zog meinen Handschuh aus und tastete über mein Gesicht. An meinen Fingern klebte Blut.

»Ich bin hingefallen«, erklärte ich. »Ich bin draußen auf dem Eis hingefallen.«

»So eine Scheiße.« Sie griff nach dem Besen und fegte weiter. »Also, ich bin seit Mitternacht hier, aber ich weiß, dass das Eis draußen der Horror ist. Von der Vormittagsschicht ist noch niemand hier aufgetaucht. Ich hätte schon vor einer halben Stunde Feierabend haben sollen.«

Links und rechts der Theke hingen Lautsprecher, aus denen eine Instrumentalversion von I Can See Clearly Now schepperte. Das Mädchen mit dem Besen schaute mich an. Ich schaute zurück. Später, als mir wieder warm war und ich mich etwas ruhiger und nicht mehr so erledigt fühlte, fragte ich mich, warum ich dem Mädchen nicht von dem Fernfahrer erzählt hatte - und sei es auch nur, um zu erklären, warum ich so durcheinander war.

»Möchten Sie etwas bestellen?« Sie fragte das, als wäre die Idee lächerlich. »Oder wollen Sie sich lieber zuerst frischmachen?« Sie hob eine Hand, die in einem Plastikhandschuh steckte, und zeigte nach links. »Um die Ecke ist ein Waschraum.«

Dort angekommen drückte ich eine Papierserviette auf den Schnitt an meiner Unterlippe. Ich starrte mein Bild im Spiegel an und fragte mich, ob ich mir vielleicht wirklich den Kopf verletzt hatte. Meine Pupillen sahen leicht erweitert aus, meine Wangen waren voller roter Flecke - vielleicht von der Kälte -, und meine Hände zitterten immer noch. Ich beschloss, meine Mutter anzurufen. Sie würde ruhiger reagieren als mein Vater. Sie war immer der weichere Elternteil gewesen, tröstender und verständnisvoller, wenn man Fehler machte.

Ein frisches Papiertuch an meine Lippe gepresst verließ ich den Waschraum. Ich konnte warme Backwaren riechen, irgendetwas mit Zimt. Aus der Stereoanlage kam jetzt Hang On Sloopy, aber es war kaum noch zu hören, nachdem ich durch die Doppeltür in den Vorraum getreten war, in dem sich die Telefonzellen befanden. Ich nahm einen Hörer von der Gabel und stöberte in meiner Tasche. Meine Finger schoben sich unter mein Physiologiebuch in die Reißverschlusstaschen. Ich stach mich an einer Sicherheitsnadel, aber irgendwann hatte ich fast eine Hand voll Kleingeld beisammen.

Natürlich hätte ich versuchen können, Gretchen anzurufen oder auch Tims Mitbewohner. Beide hatten ein Auto. Jetzt am Vormittag hatten beide höchstwahrscheinlich Unterricht, trotzdem hätte ich eine Nachricht hinterlassen können, und irgendwann hätte mich sicher einer von ihnen abgeholt. Aber das hätte Stunden dauern können. Nur meine Mutter oder mein Vater würden sofort kommen, sofort alles andere stehen und liegen lassen.

Ich musste fast all meine Münzen in den Apparat stecken, um ein Ferngespräch führen zu können. Ich sah, wie sich meine blutende Lippe im blanken Metall des Apparats spiegelte, lehnte mich dagegen und schloss die Augen.

»Ja?«

Ich machte die Augen auf. Ich hatte gut aufgepasst, damit ich auch ja die richtige Nummer und die Vorwahl für Overland Park wählte. Aber so meldete sich meine Mutter normalerweise nicht am Telefon.

»Wer ist da?« Ihre Stimme klang ein bisschen rau, aber sie war es.

»Ich bin's. Veronica.«

Eine Pause entstand. Ich konnte im Hintergrund Hupen hören, das Aufheulen eines Motors. »Veronica? Wo bist du? Warum sehe ich deine Nummer nicht?«

»Ich telefoniere von einem öffentlichen Apparat aus. Hör mal ...«

»Warum rufst du von einem öffentlichen Apparat aus an?«

»Ich habe mein Handy nicht dabei. Mom, du musst herkommen und mich abholen. Ich bin in einem Hardee's in Topeka. Oder kurz vor Topeka. Es ist bei der Mautstelle.«

Jetzt entstand eine sehr lange Pause. Ich überlegte, ob ich ihr vielleicht mehr erzählen sollte, aber ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch dran war.

»Mom?«

»Was machst du in einem Hardee's in Topeka?«

Sie war es und war es doch wieder nicht. Es klang, als wäre sie schon von vornherein zornig gewesen, bereit für einen Streit.

»Das ist eine lange Geschichte. Bitte, du musst mich hier abholen.«

»Warum bist du in Topeka?«

Ich hörte noch eine Hupe und Bowzers Gebell im Hintergrund. »Fährst du gerade Auto? Mom, hör mir zu. Es ist wichtig. Fahr rechts ran und hör mir zu.«

»Ich fahre nicht Auto. Was machst du in Topeka? Es ist Freitagmorgen, Veronica. Du solltest im Unterricht sein.«

»Das erzähle ich dir später. Du musst herkommen und mich abholen ...«

»Das geht nicht.«

Ich hielt den Hörer ein Stück von meinem Gesicht weg und starrte ihn an.

»Ruf deinen Vater an. Er kann bei der Arbeit kommen und gehen, wie es ihm passt. Ich nicht.«

Ich drückte den Hörer wieder an mein Ohr. »Mom, du verstehst nicht ...«

»Nein, nein. Du verstehst nicht.« Sie brüllte. Es war schlimmer, als wenn mein Vater brüllte, denn ich war es nicht gewohnt. Sie klang kurz angebunden und angespannt. »Immer wenn irgendjemand irgendetwas gebraucht hat, war ich zur Stelle. Sechsundzwanzig Jahre lang habe ich alles für jeden getan. Das kann ich jetzt nicht mehr. Verstanden? Jetzt muss ich mich um mich selbst kümmern. Ich bin nicht mehr dein Chauffeur.«

Ich hörte Metall klimpern, als die Münzen tiefer in den Apparat rutschten. Trotzdem blieb ich, wo ich war, den Hörer fest an mein Ohr gedrückt. Dass sie aufgelegt hatte, begriff ich erst, als ich das Freizeichen hörte.