Kapitel 12
»Dieser Typ hat mein Handy? Wie ist das möglich?«
Wir saßen in ihrem Van, wo es nach nassem Hund roch. Aber es regnete zu stark, um ein Fenster aufzumachen. Bowzer hockte zwischen meiner Mutter und dem Lenkrad, die Vorderpfoten auf ihren rechten Arm gelegt. Er keuchte, hielt aber sein Gleichgewicht ganz gut, während er durch die beschlagene Windschutzscheibe schaute und gelegentlich ohne besonderen Grund blaffte.
»Hier musst du abbiegen«, sagte ich. »Nach links.« Jimmy hatte meine Mutter - beziehungsweise mich - aufgefordert, ihn und Simone beim Gemeinschaftszentrum abzuholen, wo sie bereits ungeduldig warteten, aber wenigstens trocken bleiben würden. Ich sollte anrufen, wenn wir ganz, ganz dicht beim Eingang waren. Er hatte nicht gesagt, ob ich seine Nummer oder die meiner Mutter wählen sollte. Wahrscheinlich hatte er beide Handys dabei.
»Du hast es wohl liegen gelassen, als du mir beim Saubermachen geholfen hast«, vermutete ich und wischte das beschlagene Seitenfenster ab. Sie fuhr langsam und vorsichtig, weil der Straßenbelag rutschig war. Ehrlich gesagt wäre mir jede Geschwindigkeit zu schnell gewesen. Am liebsten hätte ich angehalten oder - besser noch - umgedreht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass uns etwas Erfreuliches erwarten würde, und ich glaubte nicht, dass meine Mutter die Situation komplett erfasste - vor allem nicht, dass sie Jimmy Liff richtig einschätzte. Ich wusste, dass ich dankbar sein sollte, weil sie mir helfen wollte. Aber ich kam nicht umhin, zu denken, dass von meinen beiden Elternteilen mein Vater eine wesentlich größere Hilfe im Umgang mit jemandem wie Jimmy gewesen wäre. Meine Mutter meinte es gut, aber sie war lediglich eine ältere, erschöpfte und momentan obdachlose Version meiner selbst.
»Und er gibt es nicht zurück?« Ihre Stimme war ruhig, die Stimme einer Erwachsenen, die aus einem verstörten Kind Fakten herausholen will. Er wollte dein rosa Pony kaputtmachen? Bist du sicher, dass es Absicht war? Hast du es selbst gesehen? Sie trug immer noch die Zöpfe, deren Enden unter ihrer Mütze hervorlugten; ihr Schal war immer noch mit Ketchup bekleckert.
»Er behauptet die ganze Zeit, dass er nicht weiß, wo es ist. Mom, er ist stinksauer - wegen des Autos, wegen der Party ... Ich weiß nicht, ob du ihm einfach sagen kannst, dass er dir dein Handy zurückgeben soll. Ehrlich gesagt, ich denke nicht, dass er es dir gibt. Nicht bevor sein Auto repariert ist.«
Sie schaute zuerst mich an und dann wieder auf die Straße. »Warum hast du mir nichts davon erzählt? Warum hast du mir nicht erzählt, was los ist?«
Wir fuhren an aufgespannten Regenschirmen vorbei, an Leuten, die sich Jacken und Zeitungen über die Köpfe hielten. Ich wartete, sagte aber nichts: Ich wollte sie nicht verletzen.
Sie schaute wieder zu mir.
»Es sah so aus, als ob du selbst genug Sorgen hättest«, rechtfertigte ich mich. »Du weißt, was ich meine. Du musst mit deinen eigenen Problemen fertig werden.«
Sie schwieg. Ein Windstoß ließ den Regen von der Seite kommen. Ein Plastikmülleimer kippte vom Randstein und rollte auf die Fahrbahn. Meine Mutter riss das Lenkrad scharf nach links und wieder zurück. Bowzer schnaufte und legte sich auf ihren anderen Arm.
»Ich weiß«, gab sie zu. »Aber ich möchte dir trotzdem helfen.«
Hinter dem Hügel konnte ich das Dach des Gemeinschaftszentrums sehen. Angst legte sich bleischwer auf meine Brust. »Ich weiß nicht, ob du das kannst, Mom. Er ist ziemlich Furcht einflößend.«
Sie verdrehte die Augen. »Er ist ein Collegestudent, der neben einem Golfplatz wohnt.«
»Er handelt mit Drogen.«
Sie schaute zu mir. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht. Es sind Gerüchte.«
Sie trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und warf wieder einen Blick in meine Richtung.
Ich hielt mir mit beiden Händen die Augen zu. »NEIN! ICH NEHME KEINE DROGEN!«
»Nicht so laut, bitte.« Sie warf mir einen kurzen, missbilligenden Blick zu. »Fein. Na gut, denn das würde mir echt Angst machen.« Sie zuckte die Achseln. »Dieser Typ nicht.« Halblaut fügte sie hinzu: »Jetzt nicht mehr.«
Tatsächlich sah sie kein bisschen ängstlich aus. Bowzer auf dem Schoß konzentrierte sie sich auf das Fahren, darauf, uns die regennasse Steigung hinaufzubringen, ohne mit den Wagen vor oder hinter uns zusammenzustoßen. Es war falsch von ihr, keine Angst zu haben, dachte ich. Ich hatte Angst vor ihm, und es schien mir unwahrscheinlich zu sein, dass ich mich aus reiner Einbildung und Nervosität fürchtete und das ganze Drama nur in meiner Fantasie existierte.
Sie schaute mich an. »Was? Ist er bewaffnet oder so?«
»Das glaube ich nicht.«
»Okay. Das ist gut. Wird er mich verprügeln?«
In ihrer Stimme schwang ein Lachen mit, unbeschwert und spöttisch.
»Mom, lach nicht! Du kapierst das nicht.«
»Ein Schnappmesser?« Sie riss die Augen auf, und Bowzer leckte ihr Kinn ab. »Ein Nunchaku? Nein, warte: ein selbst gemachtes Messer wie in Knastfilmen?«
»Das ist nicht witzig. Er ist gruselig.«
»Er flucht gern, das habe ich schon mitbekommen. Am Telefon hat er schlimme Wörter benutzt.« Sie hielt Bowzer fest, als sie das Lenkrad drehte. »Soll mir das etwa Angst machen? Seine große Klappe?« Sie schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Ich habe absolut genug von Leuten, die so reden.« Am Ende einer Autoschlange blieben wir stehen. »Und wer ist diese Simone? Seine Freundin? Eine Gangsterbraut, hm?«
»Es ist Haylie. Simone ist Haylie Butterfield. Erinnerst du dich? Ich habe dir erzählt, dass sie ihren Vornamen in Simone geändert hat. Sie ist Jimmys Freundin - und sie ist jetzt auch eine von den Bösen.«
Meine Mutter drückte Bowzers Kopf nach unten, um mein Gesicht sehen zu können. »Die kleine Haylie Butterfield? Das Mädchen, mit dem du früher gespielt hast?« Sie hielt ihre Hand direkt unter ihre Schulter - wie ich annahm, um zu zeigen, wie groß die kleine Haylie Butterfield ungefähr gewesen war, als meine Mutter noch mit ihr zu tun gehabt hatte.
Ich nickte.
»Sie war in deiner Pfadfindergruppe!«
Sie wirkte erschüttert. Obwohl Bowzer immer noch auf ihrem Arm lag, fuhr sie gut, aber ihr Kiefer war angespannt und ihre Augen waren weit aufgerissen. Als Haylie und ich in die vierte Klasse gingen, war meine Mutter unsere Gruppenführerin gewesen. Die Treffen fanden normalerweise in unserem Keller statt. Die Fensterluken ließen genug Tageslicht herein, trotzdem ließ meine Mutter alle fünfzehn Kinder in die Küche, damit wir uns unsere Abzeichen für Sicheres Kochen verdienen konnten. Natürlich hatte meine Mutter ihre Pflichten als Gruppenführerin sehr ernst genommen. Sie organisierte Keksverkäufe, Erste-Hilfe-Kurse und den Besuch auf einer Farm, wo Blindenhunde ausgebildet wurden, und sie lernte sieben verschiedene Arten, Knoten zu binden, damit sie es uns beibringen konnte. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass sie sich die Lieder am Lagerfeuer - mit ihren eingängigen Texten über Loyalität und Freundlichkeit - so sehr zu Herzen genommen hatte, dass sie Haylie Butterfields Missachtung der Pfadfinderwerte noch Jahre später derart aus der Fassung brachte.
Wir waren beim Gemeinschaftszentrum angekommen. Sie lenkte den Wagen in eine Lieferzone, direkt an den Bürgersteig. Ich holte mein Handy heraus, wählte aber nicht.
»Mom«, sagte ich so sanft wie möglich. Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Ich will nicht, dass du ihnen begegnest. Du kannst genauso gut mit Bowzer im Gemeinschaftszentrum warten, während ich sie nach Hause fahre. Mom, das habe ich angestellt. Ich hab's vermasselt. Ehrlich, du hilfst mir schon genug, wenn du mir den Van borgst.«
Sie schien mir zuzuhören, aber als ich fertig war, schüttelte sie bloß den Kopf. »Jeder macht mal Fehler«, sagte sie. »Er schikaniert dich. Das ist nicht in Ordnung.«
»Ich glaube nur, dass du im Moment nicht in der besten Verfassung bist.« Wieder versuchte ich, sanft zu sprechen, weil ich ihre Gefühle nicht verletzen wollte. »Ich weiß nicht, ob du eine große Hilfe sein kannst bei ... bei allem, was du sonst noch am Hals hast.«
Sie wandte den Blick ab und blinzelte hastig, sodass ich dachte, sie würde gleich weinen. Aber sie holte nur tief Luft und starrte auf die Windschutzscheibe, wo sich die Scheibenwischer hin- und herbewegten.
»Da bin ich anderer Meinung«, entgegnete sie. »Ich finde, dass es ein ausgezeichneter Zeitpunkt ist, um dir zu helfen. Weil du falschliegst. Ich habe im Moment nichts anderes zu tun. Nichts Wichtiges. Nichts Gutes.« Sie schaute Bowzer an und strich mit einer Hand über seinen Rücken. »Ich weiß, dass du Mist gebaut hast. Und ich weiß, dass du nicht schuldlos bist. Aber ich will nicht, dass irgendjemand so mit dir spricht.«
Ich nickte langsam, den Blick auf sie geheftet. Sie sah mich an und zuckte die Achseln. Obwohl ihre Worte deprimierend waren, machte eine gewisse Härte, die ich in ihren Augen entdeckte, mir ein wenig Mut.
Jimmy schien unschlüssig zu sein, ob er hinten einsteigen sollte. Meine Mutter hatte bereits auf den kleinen Knopf am Lenkrad gedrückt, um die seitliche Schiebetür zu entriegeln und zu öffnen. Aber er stand einfach da, im Regen, eine kleinere Version seiner selbst in meinem Seitenspiegel, seine Schultertasche auf dem Kopf. Er schien Bedenken wegen all dem Zeug zu haben, das hinten lag: die Lampen, der Beutel mit Hundefutter, die Pappkartons ... Haylie, die ein paar Schritte entfernt unter dem Vordach stand, spähte über seine Schulter, um zu sehen, was er machte, bevor sie sich in den Regen hinauswagte. Keiner von ihnen hatte einen Schirm.
»Auf dem Sitz ist für euch beide Platz, denke ich.« Meine Mutter lehnte sich zwischen unseren Sitzen nach hinten und lächelte strahlend. »Man muss nur die Decke wegnehmen. Einfach auf den Boden. Ist okay. Sie ist für den Hund.«
Er beugte sich vor, vielleicht nur, um nachzuschauen, was unter der Decke war, aber Haylie schien seine Bewegung für ein Signal zu halten: Sie schoss in den Regen hinaus, beide Arme über dem Kopf, und schlitterte mit ihren hohen Absätzen durch die Pfützen. Ich hörte, wie sie sich an ihm vorbeidrängte, bevor sie sich auf den Sitz hinter meiner Mutter fallen ließ. Ich schob mein Haar hinter meine Ohren und wandte mich zu ihr um. Sie trug wieder den knallroten Regenmantel, aber ihr Haar war nass und klebte an ihrem Gesicht. Unter beiden Augen war verschmierte Wimperntusche. Sie starrte mich an und öffnete den Mund, um etwas - wie ich annahm - nicht besonders Nettes zu sagen, aber dann drehte sich meine Mutter auch um. Haylie machte den Mund zu, und ihre Augen weiteten sich. Genauso gut hätte ein Känguru auf dem Fahrersitz sitzen können, so verunsichert sah sie aus, so überrascht.
»Hi!« Meine Mutter drückte Bowzer fest an ihre Brust und drehte sich noch ein bisschen weiter nach hinten. »Meine Güte! Haylie Butterfield! Wie lang ist es her? Oh, und deine Haare sind ja jetzt so dunkel. Veronica hat mir erzählt, dass du sie gefärbt hast.«
Haylie nickte und sah verstohlen nach rechts, als Jimmy einstieg.
»Du erinnerst dich doch noch an mich? Veronicas Mom? Wir haben alle in meiner Küche Müsliriegel gemacht.« Sie verlagerte Bowzer in ihren Armen, sodass er nun auch in Haylies Richtung schaute. »Bowzer war auch dabei. Du erinnerst dich doch noch an Haylie, was, Bowzer?« Sie sprach leise und liebevoll mit ihm. »Damals warst du noch ein Welpe, aber du kannst dich an sie erinnern, stimmt's?«
Ich hörte ein Grunzen hinter mir. »Ich kriege die Scheißtür nicht zu! Wie geht das? He! Da draußen ist ein Scheißregen!«
»Loslassen, bitte.« Meine Mutter klang wie eine Stewardess - höflich und ruhig, aber voller Autorität. »Das Schloss wird von hier aus bedient.« Sie drückte wieder auf den Knopf am Lenkrad, und die Schiebetür schloss sich mit einem leisen Surren.
»Hier stinkt's.«
Seine Knie drückten sich hart an die Rückenlehne meines Sitzes. Doch ich saß nur ganz still da und starrte unverwandt nach vorne. Meine Mutter drehte sich um und sah ihn an.
»Was ist?« Er verlagerte sein Gewicht, sodass seine Knie weiter oben gegen meinen Rücken stießen. »Warum sitzen wir hier rum? Wir sind klatschnass, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Fahren wir endlich, oder was?«
Meine Mutter antwortete nicht, sondern schaute ihn nur an. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
»Ich bin Veronicas Mutter«, sagte sie schließlich. »Und ich war es, mit der Sie am Telefon gesprochen haben.«
Schweigen. Ich lauschte dem Regen, meine Finger fest um den Querriemen meines Sicherheitsgurtes geschlungen. Trotzdem empfand ich fast so etwas wie Hoffnung. Meine Mutter war sehr nett und brachte meistens auch bei anderen die netten Seiten zum Vorschein. Dazu kam, dass sie älter war. Vielleicht benahm er sich ihr gegenüber anders.
Jimmy bewegte wieder seine Knie. »Ist mir ein Vergnügen, echt. Warum hocken wir hier rum? Und was ist das für ein Scheißgestank?«
Gleich wirft sie ihn raus, dachte ich. Einmal, als Elise und ich noch klein gewesen waren und wir unsere Mutter beim Autofahren wegen irgendetwas genervt hatten, hatte sie uns rausgesetzt und uns zu Fuß gehen lassen. »Mir reicht's!«, hatte sie gebrüllt. »Ich hab das Gequengel satt! Raus mit euch beiden! Sofort!« Wir waren damals nicht weit von zu Hause entfernt gewesen, weniger als eine Meile, denke ich. Trotzdem hatten wir, als sie rechts an den Rand fuhr und uns befahl auszusteigen, nicht wirklich geglaubt, dass sie es durchziehen würde - bis wir nebeneinander auf dem Bürgersteig standen und das Heck ihres Wagens anstarrten, als sie einfach weiterfuhr.
Aber sie warf Jimmy und Haylie nicht hinaus. Sie drehte sich nur um und legte den Gang ein. »Anschnallen, bitte«, sagte sie munter. Die Kindersicherung schloss sich mit einem leisen Klicken an beiden Türen gleichzeitig, und wir fuhren los.
»Und wie geht es deiner Mutter, Haylie?« Meine Mutter blickte kurz über die Schulter.
Natürlich erhielt sie keine Antwort. Ich ging davon aus, dass meine Mutter nicht absichtlich gemein sein wollte. Wahrscheinlich hatte sie einfach wirklich vergessen, dass Haylie ihren Vornamen geändert hatte. Ich wandte leicht den Kopf, gerade weit genug, um Haylies Gesicht zu sehen. Sie trug knallroten Lippenstift, der ihre blassen Wangen betonte und zu ihrem Regenmantel passte. Aber sie fröstelte und starrte aus dem Fenster, die Arme fest vor der Brust verschränkt.
»Scheiße, wer ist Haylie?«, fragte Jimmy.
Sie schaute erst ihn, dann mich an und dann wieder aus dem Fenster. Es hätte mir wahrscheinlich eine Genugtuung sein sollen, aber sie sah so elend aus, dass mir der Anblick nur peinlich war.
»Haylie?« Meine Mutter drehte den Rückspiegel in ihre Richtung. »Entschuldige, hast du mich gehört? Ich habe gefragt, wie es deiner Mutter geht.«
Ich sah meine Mutter an und schüttelte den Kopf. »Simone«, erinnerte ich sie. »Sie heißt jetzt Simone.«
»Oh! Stimmt, entschuldige. Simone? Wie geht es deiner Mutter denn so? Ich habe nicht mehr mit ihr geredet, seit ...«, die Augen leicht gesenkt schaute sie über die Schultern, »... seit sie umgezogen ist. Aber ich habe oft an sie gedacht. Und an deinen kleinen Bruder. Wie alt ist er jetzt, vierzehn? Wo geht er zur Schule?«
»Es geht ihnen gut«, antwortete Haylie. Sie klapperte mit den Zähnen.
Meine Mutter wartete.
Haylie räusperte sich. »Er ist in Oregon«, sagte sie schließlich. »Er lebt bei meiner Tante.«
Jetzt stellte meine Mutter keine Fragen mehr. Sie schien genauso wie ich begriffen zu haben, dass es Haylies Mutter wahrscheinlich nicht besonders gut ging, wenn Haylies jüngerer Bruder bei Verwandten lebte. Es war erst ungefähr fünf Jahre her, dass Haylies Bruder, als Roboter verkleidet, an Halloween vor unserer Tür gestanden hatte, um Süßigkeiten zu fordern. Haylies Vater, damals noch nicht wegen Veruntreuung angeklagt, hatte mit einer Videokamera auf dem Bürgersteig gestanden. Keiner von ihnen - auch Haylie und ihre Mutter nicht - hätte ahnen können, wie sehr sich bald alles für sie verändern sollte.
»Noch mal.« Jimmy klang müde und gereizt. »Wer ist Haylie, verdammte Scheiße?«
»Entschuldigung«, sagte meine Mutter und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Aber Sie sollten besser auf Ihre Sprache achten.«
Ich hielt den Atem an. Wenn er - eingesperrt auf dem Rücksitz, mit Kindersicherung und allem - wütend wurde und um sich schlug, würde ich es wahrscheinlich abbekommen. Theoretisch konnte er über den Sitz greifen und mir einen Schlag auf den Kopf geben oder fest an meinem Sicherheitsgurt reißen. Ich fragte mich, ob meine Mutter an eine dieser Möglichkeiten gedacht hatte.
»Danke für die Lektion, Mrs. Alte Schachtel. Aber an Ihrer Stelle würde ich mir eher Sorgen darum machen, dass Ihr egoistisches Miststück von Tochter keinen Respekt vor dem Eigentum anderer Leute hat.«
Wir blieben an einer Ampel stehen. Meine Mutter drehte sich um und schaute ihn wieder an.
»Hier«, sagte sie ruhig und nahm beide Hände, um Bowzer hochzuheben und über den Schaltknüppel auf meinen Schoß zu legen. Vielleicht strengte es sie einfach nur an, mit seinem Gewicht auf ihrem Arm Auto zu fahren, aber ich denke, sie wollte den Hund aus Jimmys Blickfeld haben, der sie von hinten mit seinem Blick fixierte.
Die Ampel sprang um. Bowzer rutschte zurück, als wir anfuhren. Ich legte beide Arme um ihn, den rechten unter sein Kinn. Mir war klar, dass ich Hundehaare auf meinem Mantel haben würde. Außerdem roch er so schlecht, dass ich durch den Mund einatmen musste. Aber er war taub und nahm Jimmy überhaupt nicht zur Kenntnis, und ich fühlte mich durch seine Nähe und seine langen, zufriedenen Seufzer getröstet.
»Sie hatte wegen des Eissturms einen Unfall.« Meine Mutter schaute in den Rückspiegel. »So was kommt vor.«
»Hm.« Ich konnte an Jimmys Stimme hören, dass er sich weiter nach hinten lehnte. »Und eine Party zu veranstalten und mein Haus zu verwüsten? Kommt so was auch einfach vor? Ich sehe schon, woher sie ihre Moralvorstellungen hat. Es ist scheißviel verschwunden, okay? Zum Beispiel CDs im Wert von dreihundert Dollar. Kommt das auch einfach so vor?«
Meine Mutter sah zu mir. Ich war unter die Kopflehne gerutscht, deshalb traute ich mich, leicht den Kopf zu schütteln.
»Damit werden Sie wohl fertig werden müssen.« Sie bog auf die Hauptstraße, die zu seinem Haus führte. Ihr Orientierungssinn war schon immer gut gewesen. »Verstehen Sie? Schieben Sie es auf Fehleinschätzungen aller Beteiligter. Das Leben ist nicht gerecht, Jimmy. Manchmal muss man einfach ein paar Verluste einstecken und weitermachen.«
Ich hielt den Atem an und beobachtete den Regen, die Pfützen, die in den Schlaglöchern blubberten.
»Wow. Diese Einstellung ist ja so was von Zen, Mom.« Seine Worte waren abgehackt. »Toll. Jetzt kennen wir Ihre Meinung. Wie wär's damit: Ich lade ein paar Freunde in Ihr Haus ein. Mal sehen, wie Sie damit fertig werden.« Er beugte sich vor. Ich spürte, wie eine seiner Hände meine Rückenlehne packte. »Ich kann herausfinden, wo Sie wohnen.«
Sie sah in den Rückspiegel und lächelte. »Da müssen Sie aber ganz schön auf Draht sein.«
Er begriff natürlich nicht, was sie meinte - trotz all der Möbelstücke und Kartons im Wagen.
»Seien Sie sich nicht zu sicher«, sagte er. »Ich kenne eine Menge Leute. Leute, für die Türen und Gegensprechanlagen kein Problem sind. Innerhalb eines Tages kann ich herausfinden, wo Sie wohnen.«
Sie bog um eine Ecke und warf mir einen Blick zu, immer noch grinsend, mit weit aufgerissenen Augen und hochgezogenen Augenbrauen. »Okay. Fein. Wenn Sie es wissen, sagen Sie mir Bescheid.« Einen langen Moment herrschte Schweigen. Und so unglaublich es auch war, ich fing an, albern zu lachen.
»Ach, ihr findet das komisch?«
Ich hörte auf. Meine Mutter spähte mit leicht schief gelegtem Kopf in den Rückspiegel, als würde sie tatsächlich über die Frage nachdenken. »Das nicht«, sagte sie. »Das eigentlich nicht. Es ist nicht komisch. Aber einiges andere schon.«
Ich saß ganz still, wartete ab und versuchte, mich zu erinnern, was ich in dem Selbstverteidigungskurs auf der Highschool gelernt hatte. Falls Jimmy auf mich losging und um meinen Sitz griff oder falls er auf sie losging, würde ich meinen Schlüssel vom Wohnheim zwischen meine Finger klemmen und damit so hart zuschlagen, wie ich konnte. Ich würde direkt auf den Bolzen in seiner Nase zielen - oder vielmehr auf die wunde, gerötete Haut darum herum. Ich würde Bowzer auf die Fußmatte legen, zwischen meine Füße, und meine Ellbogen wie eine Lanze gebrauchen.
»Das ist gequirlte Scheiße. Wissen Sie das?« Sein Knie bohrte sich wieder direkt hinter meinem Rückgrat in den Sitz. »Mir reicht's. Ich habe versucht, nett zu sein, aber jetzt reicht's. Mein Auto ist am Freitag fertig. Bis dahin nehme ich mir einfach ein Taxi.« Er beugte sich vor und schaute mich an. »Und du wirst es bezahlen. Du. Nicht ich.«
»Sie hat kein Geld.« Meine Mutter beugte sich vor und wischte mit dem Rücken ihres Handschuhs die beschlagene Windschutzscheibe frei. Sie hatte die Lüftung voll aufgedreht, aber bei all dem Gerede und Bowzers ständigem Keuchen waren sämtliche Fenster feucht angelaufen. »Sehen Sie?« Sie zeigte hinter sich, auf den hinteren Teil ihres Wagens. »Ich habe auch kein Geld. Man kann kein Blut aus einem Stein quetschen, Jimmy. Ich weiß nicht, ob es fair ist oder nicht, aber so ist es nun mal.«
Er brüllte noch mehr und rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Meine Mutter beobachtete ihn aufmerksam im Rückspiegel, als wäre er eine Tüte mit Lebensmitteln, die umzukippen drohte. Aber wir waren fast da, fuhren schon am Golfplatz vorbei. Regen klatschte auf das matschige Gras, und die sanft geschwungenen Grasflächen waren menschenleer. Haylie starrte unverwandt aus dem Seitenfenster. Und Bowzer - geschützt durch seine alten Ohren und seine Senilität, glücklich in seiner Ahnungslosigkeit - lag ruhig auf meinem Schoß.
Wir fuhren in die Auffahrt. Noch bevor der Wagen stehen blieb, fing Jimmy an, an der Tür zu zerren.
»Ich will raus«, fluchte er. »Ich will aus diesem stinkenden Scheißwagen raus!«
»Einen Moment.« Meine Mutter drehte sich um. »Rufen Sie meine Tochter nicht mehr an. Sie kann Ihnen nicht helfen. Sie hat kein Auto.«
Er versuchte immer noch, gewaltsam das Schloss zu entriegeln, indem er mit der Hand darauf schlug. Ich drehte mich halb nach hinten. Haylie saß völlig regungslos da und starrte immer noch aus dem Seitenfenster.
»Ich behalte Ihr Handy«, drohte er. »Ich gebe es nicht zurück.«
Er klang armselig. Er klang wie ein kleiner Junge. Vielleicht hatte er schon die ganze Zeit so geklungen, aber ich hörte es jetzt erst. Ich drehte mich komplett zu ihm um. »Du klaust das Handy meiner Mutter?«
»Scheiße, dreh dich bloß wieder um!«, schrie er. »Ich will dein beschissenes Gesicht nicht sehen.« Er krümmte sich, als bereite ihm mein Anblick wirklich Schmerzen. »Ich halte es nicht aus, dir ins Gesicht zu gucken. Ich kann Leute wie dich nicht ertragen. Unser braves Musterkind, was? Du verlogene Schlampe! Rennst jedes Mal zu Mommy und Daddy, wenn es Probleme gibt.« Er zeigte auf sich selbst. »So was kenne ich nicht. Ich stehe auf eigenen Beinen, seit ich fünfzehn bin. Total unabhängig.« Er schlug sich auf die Brust. »Scheißunabhängig. Mir hat keiner geholfen. Keiner.«
Seine Hand an seiner Brust zitterte leicht, und die Überzeugung in seinen Augen wirkte echt, aber etwas an seiner kleinen Rede erweckte den Eindruck, dass er sie - vielleicht mit genau denselben Worten - schon sehr, sehr oft gehalten hatte. Er hing darin fest, das merkte ich sofort. In so einer Rede kann man leicht stecken bleiben.
Meine Mutter nahm mir Bowzer ab. Ich sah Jimmy an, bis er den Blick abwandte.
»Lasst mich aus dieser Scheißkarre raus.« Er schlug mit der Faust ans Fenster.
Meine Mutter entriegelte das Schloss. Die Tür hinter mir glitt auf. Als auch Haylie ausstieg, drehten meine Mutter und ich uns beide nach ihr um. Ich weiß nicht, was wir erwartet hatten. Sie wohnte in dem Haus. Alle ihre Sachen waren darin. Sie schaute keine von uns beiden an, bevor sie Jimmy hinaus in den Regen folgte.
»Er hat immer noch dein Handy«, sagte ich. Ich wollte meine Tür aufmachen, aber meine Mutter hielt meinen Arm fest und zog mich zurück.
»Soll er doch.« Sie schaute über die Schulter, bevor sie aus der Einfahrt zurücksetzte. »Wenn es ihn glücklich macht, kann er es behalten. Ich brauche sowieso eine neue Nummer.«
»Er könnte damit telefonieren«, warf ich ein. Einerseits war ich ihr dankbar, andererseits schuldbewusst. Ich wäre gern zurückgegangen, um wenigstens zu versuchen, ihr Handy zu bekommen. »Du könntest die Rechnung aufgebrummt kriegen.«
»Klar. Ich mache mir ja solche Sorgen um meine Kreditwürdigkeit.«
Zuerst lächelte ich, doch dann hatte ich auch deshalb ein schlechtes Gewissen. Besonders komisch war das eigentlich nicht. Aber sie schien unbekümmert zu sein - nicht nur wegen des Handys, sondern auch wegen allem anderen -, als glaubte sie wirklich, was sie zu Jimmy gesagt hatte: Manchmal war das, was passierte, einfach nicht fair, aber irgendwann musste man seine Verluste abschreiben und weitermachen.
Sie fuhr mit gestrafften Schultern und nach vorne gerecktem Kinn. Bowzer balancierte sie wieder auf ihrem linken Arm.
»Danke«, sagte ich. »Danke für deine Hilfe.«
»Kein Problem.« Sie streckte eine Hand aus, um mein Bein zu tätscheln, wandte den Blick aber nicht von der Straße.
***
In meiner Erinnerung verschmelzen die Gespräche, die ich an diesem Abend mit Marley und Tim führte, miteinander. Was ein bisschen überraschend ist, weil sie - wenigstens rein optisch - ganz unterschiedlich waren. Als ich mit Marley sprach, stand sie in ihrer Tür und schaute mich aus kleinen, zusammengekniffenen Augen an. Tim und ich redeten in seinem Wagen, der direkt vor dem Wohnheim stand - selbst im Sitzen musste ich zu ihm aufblicken, weil er mit dem Kopf beinahe an die Decke stieß. Und er lächelte, weil er sich freute, mich zu sehen - jedenfalls am Anfang.
In beiden Fällen wurden meine Entschuldigungen nicht angenommen. In beiden Fällen versuchte ich, mein Verhalten zu erklären, und scheiterte. Aber keiner von beiden brüllte mich an oder wurde wütend. Im Gegensatz zu Jimmy waren sie nicht darauf erpicht, es mir heimzuzahlen. Sie wollten sich einfach zurückziehen und sich von mir fernhalten. Und das war ehrlich gesagt viel schlimmer.
Ich hatte vorgehabt, in meinem Zimmer mit Tim zu sprechen. Aber meine Mutter wollte sich kurz hinlegen und streckte sich mit Bowzer an ihrer Seite auf dem Gästebett aus, die Mütze bis über die Augen gezogen. »Nur ein kleines Nickerchen«, hatte sie gemurmelt, bevor sie einschlief, obwohl das goldene Licht der Nachmittagssonne noch durchs Fenster fiel. Zwei Stunden später schlief sie immer noch, und ich ging nach unten in die Lobby, um dort auf Tim zu warten.
Ich erzählte ihm sofort alles: was ich getan hatte; wie sehr ich wünschte, ich hätte es nicht getan; wie sehr ich ihn jetzt schon vermisste und wie viel Angst ich davor gehabt hatte, bei ihm einzuziehen. Er sagte gar nichts, legte seine Hände auf das Lenkrad und lehnte sich leicht nach vorne. Wir schauten einander in dem rötlichen Licht einer Parkplatzlaterne an, beide mit fast demselben Gesichtsausdruck: gesenkte Augenbrauen und zusammengepresste Lippen. Ich sagte ihm, dass ich immer noch gern mit ihm zusammen wäre und dass ich an der Scheidung meiner Eltern schwer zu schlucken hätte. Ich wurde vielleicht ein bisschen zu ausführlich, bis er mich schließlich unterbrach und mir so freundlich wie möglich mitteilte, es wäre ihm lieb, wenn ich jetzt aussteigen könnte.
Also stieg ich aus. Seine Reaktion war so, wie ich es erwartet hatte - zumindest was meinen Verstand anging. Es war das, was ich verdiente.
Aber ich hatte gedacht, mit Marley würde es besser laufen. Ich wollte ihre Einsamkeit nicht ausnutzen, aber ich war davon ausgegangen, dass sie zu meinen Gunsten wirken würde. Selbst als sie schon anfing, die Tür zuzumachen, fragte ich sie noch, ob sie Lust hätte, mit mir zu Abend zu essen. Sie erwiderte, sie habe schon gegessen. Ich muss zugeben, ich war überrascht. Bis sie tatsächlich die Tür vor meiner Nase zuschlug, schien es mir undenkbar zu sein, dass Marley mich nicht mehr brauchen könnte.