Kapitel 11
Sie stand früh auf, um mit Bowzer rauszugehen. Sie zog sich dafür nicht an, sondern warf nur ihren Mantel über die Kleider, in denen sie geschlafen hatte, und zog ihre Stiefel über meine rosa Socken. Ihr Haar war ein Gewirr aus feinen Locken, aber sie hielt sich nicht mit Kämmen auf. Sie schaltete nicht einmal das Licht an, obwohl es draußen regnete und nur das fahle Grau eines verhangenen Sonnenaufgangs das Fenster erhellte.
Als sie merkte, dass ich sie beobachtete, legte sie erschrocken eine Hand an ihren Hals. »Entschuldigung«, wisperte sie. »Ich wollte ihn nicht warten lassen.«
»Warum flüsterst du?«
Sie verstaute Bowzer gerade unter ihrem Mantel. Er warf mir einen letzten verwirrten Blick zu, ehe seine Augen und seine Schnauze verschwanden.
»Weil du geschlafen hast.« Sie flüsterte immer noch. »Wann ist dein erster Kurs?«
»Um neun«, log ich. Ich hatte um elf einen Termin bei meinem Englischprofessor, vorher nichts. Ich rieb mir die Augen und blinzelte sie an, wobei ich mir überlegte, was andere Leute wohl denken würden, wenn sie sie im Flur oder unten in der Lobby sahen. Sie sah jetzt nicht mehr schwanger aus, sie sah aus, als würde sie etwas Unförmiges unter ihrem Mantel verstecken.
»Du musst vorsichtig sein, Mom. Du kannst ihn nicht einfach so auf den Rasen lassen. Im Ernst. Ich könnte meinen Job verlieren.«
»Ich weiß.« Sie klopfte auf ihre Manteltaschen. »Ich gehe wieder die Hintertreppe hinunter und fahre mit dem Van in irgendeinen Park oder so.« Sie warf mir eine Kusshand zu. »Und mein Bett mache ich, wenn ich zurückkomme. Deins auch, okay?«
»Es regnet«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Als sie sich zum Gehen wandte, stieß sie an meinen Metallpapierkorb. Sie zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie in den Flur hinaus und schloss die Tür so leise hinter sich, dass ich befürchtete, sie hätte sie gar nicht zugemacht.
Als ich vom Duschen zurückkam, war auf meinem Handy eine Nachricht von Tim. Er sei gut zu Hause angekommen, sagte er und wollte, dass ich mir überlegte, wo wir essen gehen könnten. Ihm sei alles recht, er wolle mich bloß sehen. Seine Stimme klang am Morgen immer kratzig, tief und warm. »Ich liebe dich«, schloss er, bevor er auflegte. Da war eine Pause, bevor er das sagte. Kein Zögern, sondern eher ein bewusstes Warten, als ob er genau wüsste, was er sagen wollte, aber erst darüber nachdenken müsste.
Mit klitschnassem Haar, das Handy unter mein Kinn geklemmt, saß ich auf dem Bett. Ich wollte überhaupt nichts tun. Vielleicht hätte ich noch lange so dagesessen, wenn ich mir nicht Sorgen darüber gemacht hätte, wo meine Mutter blieb. Sie war seit fast einer halben Stunde mit Bowzer unterwegs.
Ich schickte Tim eine SMS: »Bin in Eile. 7 abends ist gut. Bis dann.«
Ich starrte die Nachricht an, bevor ich sie abschickte, weil ich sichergehen wollte, dass es das war, was ich wollte. Es war in Ordnung: Ich log nicht, aber er würde auch nicht den ganzen Tag beunruhigt sein. Es gab keinen Grund, Andeutungen zu machen. Ich würde es ihm einfach sagen. Und dann würde ich meinen besten Freund verlieren und den einzigen Teil meines Lebens, der sich im letzten Jahr sicher und beständig angefühlt hatte. Vielleicht würde es mir bessergehen, wenn es vorbei war, wenn alles überstanden war.
Ich zog gerade meinen Mantel an, um zu gehen, als sie ins Zimmer platzte, die Kapuze ihres Mantels tropfnass über ihr Haar gestülpt. Der Ketchupfleck saß vorne, in der Mitte ihres cremefarbenen Schals. Ihr Gesicht war gerötet, und sie atmete schwer - wahrscheinlich war sie erschöpft, weil sie sieben Stockwerke zu Fuß mit einem mittelgroßen Hund unter ihrem Mantel hatte hinaufgehen müssen. Außerdem trug sie unter einem Arm eine weiße Papiertüte, die oben zusammengerollt war. Als sie Bowzer absetzte, fiel die Tüte auf den Boden. Sie schaute hinunter und lachte auf eine Art, die nicht sehr fröhlich wirkte.
»Frühstück«, sagte sie schließlich und lehnte sich an die Wand. »Bagels. Ich wollte auch Kaffee mitbringen, wusste aber beim besten Willen nicht, wie ich ihn hier raufbringen sollte. Entschuldige. Du magst doch Erdbeermarmelade, oder? Einen kleinen Klecks auf dem Hüttenkäse? Ich habe es extra so bestellt. Die im Geschäft fanden es seltsam, aber sie haben es gemacht.«
»Oh«, staunte ich. Bowzer fing an, die Tüte zu beschnuppern, und ich bückte mich, um sie aufzuheben. »Danke. Aber weißt du, ich kann mir jederzeit in der Kantine einen Bagel holen, und sie liegt direkt auf dem Weg zu meinem Unterricht. Du solltest dein Geld lieber sparen.«
Sie war immer noch außer Atem und sagte nichts, aber ich sah ihr an, dass meine Reaktion falsch gewesen war. Mein Handy klingelte. Ich nahm es aus meiner Tasche und schaute auf das Display. Meine Mutter rief an, das heißt, natürlich nicht meine Mutter, weil sie direkt vor mir stand und deprimiert und enttäuscht aussah, sondern Jimmy. Ich klappte das Handy zu und steckte es wieder ein.
»Trotzdem danke.« Ich machte die Tüte auf und nahm den Bagel heraus, aus dem rote Erdbeermarmelade tropfte. »Das spart mir Zeit.« Ich hatte schon meinen Mantel an, meine Tasche über der Schulter.
»Dein Haar sieht hübsch aus«, sagte sie. »Aber ich mag es auch lockig.«
»Danke.« Ich lächelte. Sie stand zwischen mir und der Tür.
»Du bist den ganzen Vormittag weg?«
Ohne zu wissen, ob sie die Neuigkeit gut oder schlecht fand, nickte ich. Sie schien Berechnungen anzustellen, vielleicht zählte sie im Kopf die Stunden zusammen.
»Was ... äh ...« Ich verlieh meiner Stimme einen leichten, unbekümmerten Klang. »Was hast du heute vor?«
»Ich weiß noch nicht so recht. Zuerst muss ich mir eine Zeitung besorgen. Dann werde ich mich irgendwohin setzen und die Stellenangebote studieren.«
Ich sagte nichts. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn über ihren Arm.
»Willst du ihn nicht aufhängen?«
»Ich sehe keinen Haken«, antwortete sie. »Du hast einen für deinen Mantel, aber ...«
Ich nahm ihr den Mantel ab und machte meine Schranktür auf. An der Tür war ein Haken für meinen Bademantel. Ich nahm ihn ab, warf ihn auf mein Bett und hängte ihren Mantel an den Haken.
»Oh ... das hättest du nicht ...«
Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, blieb aber weiter vor der Tür stehen. Ich wollte sie nicht bitten, aus dem Weg zu gehen, damit ich hinauskonnte. Sie schien sich ohnehin schon so zu fühlen, als wäre sie überall im Weg.
»Kann ich irgendetwas tun, bevor ich gehe?« Sie schaute sich im Zimmer um. »Ich könnte den Boden kehren oder so etwas. Ich könnte die Fenster putzen. Dann wäre es hier heller.«
»Das geht schon so«, wehrte ich ab. »Du musst gar nichts machen.«
Sie schaute mich an. »Ich arbeite erst wieder ab Donnerstag.«
»Oh«, sagte ich. »Okay.«
»Meine Abteilungsleiterin hat mir ein paar Tage frei gegeben.« Sie schob sich ihre Haare hinter die Ohren. »Ich habe am Samstagabend, nachdem ich alles im Van verstaut hatte, noch gearbeitet.« Sie redete schnell und verdrehte die Augen, als wäre sie gelangweilt von ihrer eigenen Geschichte. »Ich kam natürlich zu spät, und als ich endlich da war, sah ich wohl ein bisschen ... zerzaust aus.« Sie nahm sich einen Bagel aus der Tüte. »So nannte sie es, meine Abteilungsleiterin. Sie ist ein bisschen älter als du. Oder vielleicht auch jünger.« Sie lächelte. »Lindsay. Sie schlug vor, ich solle mir ein paar Tage frei nehmen.« Dann brach sie ein Stück von dem Bagel ab, beugte sich vor und hielt es Bowzer hin. »Ich glaube nicht, dass sie ein Nein von mir akzeptiert hätte.«
Bowzer wandte seine Schnauze von dem Bagel ab. Meine Mutter runzelte die Stirn, betrachtete das Stück, das er abgelehnt hatte, und steckte es sich selbst in den Mund.
»Wie auch immer ...« Sie hielt sich beim Kauen höflich eine Hand vor den Mund. »Keine Sorge. Ich gehe tagsüber irgendwohin, in ein Café oder so. Für heute bist du mich los. Ich komme erst spät zurück.« Erneut runzelte sie die Stirn. »Ach, übrigens, weißt du was? Ich glaube, ich habe mein Handy verloren. Vielleicht ist es in einer der Taschen. Kannst du mich bitte kurz anrufen?«
Ich biss ein Stück von meinem Bagel ab und hob einen Finger, um ihr zu sagen, dass sie kurz warten müsse. Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte. Es wäre keine gute Idee, ihr zu verraten, dass Jimmy Liff ihr Handy hatte. Lieber sollte sie denken, dass sie es verloren hatte, bis ich es ihr zurückgeben konnte. Außerdem, wenn ich jetzt anfing, ihr die ganze Geschichte zu erzählen, würde ich nie aus dem Zimmer kommen.
»Du kannst es von dort versuchen«, schlug ich vor und zeigte mit dem Kopf auf das Festnetztelefon an der Wand. »Ich muss den Bus erwischen.«
»Entschuldige«, erwiderte sie. »Ich wollte dich nicht aufhalten.«
Ich wickelte meinen Schal um den Hals und ging schnell zur Tür. Als ich sie aufmachte, stand Marley Gould vor mir. Sie trug ihr Rüschennachthemd, aber sie hatte rosa Lippenstift und Rouge aufgetragen. Sie legte den Kopf zur Seite und versuchte, an mir vorbeizuschauen.
»Ist deine Mom noch da?«
»NEIN«, sagte ich laut und stellte mich vor sie. »MEINE MOM IST WEG. SIE IST NICHT MEHR HIER.«
Hinter mir hörte ich das Öffnen der Schranktür und das Klimpern von Bowzers Halsband. Ich blickte Marley mit einem breiten Lächeln starr in die Augen, bis ich hörte, wie die Schranktür geschlossen wurde.
»Oh.« Sie schaute auf meine Tür. »Mit wem hast du gesprochen?«
»Ich habe telefoniert. Brauchst du etwas?« Sie hatte ihr Haar schon zu Zöpfen geflochten, um jedes Ende eine rosa Schleife gebunden, und sie roch leicht nach Orangensaft. Ich fragte mich, ob sie schon unten gewesen war, um zu frühstücken. Manche Studenten gingen im Nachthemd oder Schlafanzug in die Kantine, als ob sie immer noch zu Hause lebten und nur nach unten schlurfen müssten, um Pfannkuchen mit ihren Eltern zu essen - und nicht in eine öffentliche Kantine gehen, in der täglich viertausend Menschen ihre Mahlzeiten einnahmen.
»Ich dachte bloß, ich hätte deine Mutter gehört«, sagte Marley. »Wahrscheinlich klingt deine Stimme wie ihre.« Forschend sah sie mich an. »Gestern Abend habe ich sie kennengelernt. Sie war echt nett, hat mich alles Mögliche über Musik gefragt. Hat sie dir das erzählt?«
»Sie hat es erwähnt«, antwortete ich. Ich schob meinen Mantelärmel hoch und sah auf die Uhr. Ein normaler Mensch hätte das als Aufforderung verstanden, aus dem Weg zu gehen.
»Und sie ist sehr hübsch. Unglaublich, dass sie deine Mutter ist.« Sie schüttelte den Kopf und hielt sich einen Zopf beschämt vor die Augen. »Nicht, weil sie hübsch ist, meine ich. Ich meine, weil sie so jung aussieht.«
Ich gab den Versuch auf, an ihr vorbeizugehen, lehnte mich mit verschränkten Armen an meinen Türrahmen und versperrte so nach wie vor den Eingang. Aber ich lächelte, womit ich sie mehr oder weniger aufforderte, weiterzureden. »Ja!«, stimmte ich zu, wobei meine Stimme nur ein kleines bisschen lauter war als sonst. »Das finde ich auch. Sie ist hübsch. Und sie sieht jung aus.« Ich brannte immer noch darauf, in die Bibliothek zu gehen, aber ich sah meine Mutter vor mir, wie sie sich - immer noch in Hörweite - mit Bowzer unter meiner Kleidung versteckte. Wenn es je einen Zeitpunkt gegeben hatte, an dem sie es brauchte, etwas Nettes über sich zu hören, dann war das jetzt.
Marley schien sich über meinen plötzlichen Enthusiasmus zu freuen. »Sie ist auch witzig!« Sie nickte mir zu, als hätte ich sie gerade von etwas überzeugt. »Als sie auf der Junior High war, hat sie Saxophon gespielt. Das weißt du bestimmt. Aber sie hat sich über sich selbst lustig gemacht - wahrscheinlich hatte sie oft Ärger mit ihrem Lehrer, weil sie beim Spielen ihre Augen hervortreten ließ!« Marley ahmte einen Saxophonspieler mit hervorquellenden Augen nach.
Ich erwiderte nichts. Bisher hatte ich nicht gewusst, dass meine Mutter jemals Saxophon gespielt hatte.
»Sie hat lange hier draußen gewartet«, fügte Marley hinzu. Wieder versuchte sie, über meine Schulter zu spähen. »Hattest du dich verspätet?«
»Nein.«
»Hm.« Sie trat zurück und sah mir ins Gesicht. Ich nutzte den Umstand, dass Platz zwischen uns war, um in den Flur zu treten. Meine Mutter hatte genug für ihr Selbstbewusstsein gehört, und für mich war es Zeit zu gehen. Ich drehte mich um, schloss meine Tür und suchte in meiner Tasche nach den Schlüsseln. Konfiguration bezeichnet die dreidimensionale Orientierung von Atomen um ein chirales Zentrum und kann als R oder S bezeichnet werden.
»Wohnt sie in der Nähe?«
»Was?« Ich sah über die Schulter. »Ja. In Kansas City.«
»Oh, hast du ein Glück. Ich wette, du besuchst sie dauernd.«
Ich musste lachen, ein leises, mich selbst bemitleidendes Glucksen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter es gehört hatte. Falls ja, würde sie es - selbst in ihrer momentanen Lage - vielleicht auch komisch finden. Nur Marley begriff den Witz nicht.
»Ich lache nicht über dich«, setzte ich an, doch als ich wieder aufblickte, ging sie schon lautlos in ihren Hausschuhen den Flur hinunter. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie in ihrem Zimmer.
Das Institut für Anglistik befand sich im hässlichsten Gebäude auf dem Campus. Wescoe Hall war ursprünglich als Parkgarage geplant worden, aber die Universität hatte sich relativ spät in der Planungsphase anders entschieden und beschlossen, dort die Geisteswissenschaften unterzubringen. Es war einfach ein trauriger Anblick. Die Gebäude ringsum waren schön, alle aus Kalk- und Backstein. Viele davon erinnerten an Burgen mit Fahnen, die auf Ziegeldächern flatterten, und hohen Toren mit Spitzbögen. Die Bibliothek für Naturwissenschaften war besonders eindrucksvoll, hoch und luftig und mit viel Glas, das Geschenk eines großzügigen Ehemaligen. Wescoe hingegen war flach, gedrungen und aus grauem Beton. Die beiden unteren Stockwerke lagen im Keller, die oberen Etagen waren okay: Es gab viele Fenster, und die Räume waren groß und hell. Aber wenn man nach unten ging, dorthin, wo die Dozenten ihre Büros hatten, wirkten die Gänge wie Tunnel, die nur von flackernden Neonröhren beleuchtet wurden. Raucher drückten sich an beiden Eingängen herum, und manchmal roch es darin ein bisschen nach Abgasen - als wüsste das Gebäude irgendwie von seiner ursprünglichen Bestimmung und arbeitete immer noch daran, seinen Teil dazu beizutragen.
Aber während des Gesprächs mit meinem Englischprofessor an diesem Morgen verspürte ich trotzdem den Drang, tief durchzuatmen. Ich war gerade aus der Bibliothek für Naturwissenschaften gekommen, wo ich unter den hohen Decken zwei Stunden damit verbracht hatte, Moleküle anzustarren und zu versuchen, sie im Geist umzukippen, bevor ich direkt am Tisch, unter all dem Glas und bei hellem Licht - mit dem Kopf auf den Oberarmen eingeschlafen war. Als ich aufgewacht war, war Speichel auf meinem Buch, eine Seite klebte an meiner Wange, und ich kam mir in mehr als einer Hinsicht dumm vor.
Aber jetzt, gleich nebenan, in Wescoes trostlosem Tiefgeschoss, teilte mir mein Englischprofessor gerade mit, dass er sehr beeindruckt von dem Expose war, das ich für meine Semesterarbeit über Thomas Hardys Am grünen Rand der Welt abgegeben hatte. Ich sei die einzige Studentin, die dem Standpunkt, das Ende sei traurig, widersprochen habe, sagte er. Spürbarer Enthusiasmus für das Thema. Ein echtes Talent auf diesem Gebiet. Ich lächelte ihn an und fühlte mich benommen und ein bisschen erwärmt, obwohl es in seinem Büro kalt und mein Haar vom Regen noch feucht und kraus war. Es war eine Weile her, seit mir das letzte Mal jemand gesagt hatte, dass ich irgendetwas gut konnte.
Er meinte, er sei von jeder Arbeit, die ich in diesem Semester abgegeben hätte, beeindruckt gewesen. Und er dankte mir für die intelligenten Kommentare, die ich zu den Diskussionen während des Unterrichts beigesteuert hatte. Es sei schön, sagte er, so viel ehrliche Begeisterung für den Lehrstoff zu sehen. Dann fragte er mich, ob ich Englisch als Hauptfach hätte und beabsichtige, darin meinen Abschluss zu machen.
»Nein«, antwortete ich. »Ich will Medizin studieren.«
Die Worte kamen aus reiner Gewohnheit. Aber als ich sie diesmal aussprach, hatte ich das Gefühl, als kämen sie von außen, nicht aus mir selbst. Mein Blick streifte durch sein Büro. Die Regale waren voller Bücher von Hardy, Keats und Yeats - Bücher, die ich sehr gern gelesen hätte, wenn nur Zeit dazu gewesen wäre. Der Schreibtisch war mit Papieren übersät, und von der Wand hinter ihm starrte mich ein Druck von Virginia Woolfs Gesicht an. An die Wand neben seinem Schreibtisch hatte er mit Tesafilm mehrere Bleistiftzeichnungen von steifen Gestalten mit lächelnden Gesichtern geklebt. »FÜR DADY« stand in krakeliger Schrift auf einer davon.
»Medizin«, sagte er lächelnd und schob meine Arbeit über den Tisch. »Eine echte Renaissance-Frau, hm? Auf jedem Gebiet gut. Sehr klug, Medizin zu wählen. Damit bekommt man immer einen Job.«
Ich korrigierte ihn nicht, erklärte ihm nicht, dass ich keine Renaissance-Frau war, die alles konnte - oder dass ich demnächst aus meinem Hauptfach fliegen würde. Stattdessen stand ich nur da und dankte ihm, als es Zeit war zu gehen, mit einer Stimme, die vielleicht ein bisschen zu dankbar und zu laut für ein so kleines Büro war. Bevor ich ging, schaute ich mich noch ein letztes Mal um. Das Einzige, was hier fehlte, waren Pflanzen, und er hätte wahrscheinlich welche gehabt, wenn es ein Fenster gegeben hätte. Aber das, was zählte, war, dass er ein Büro hatte. Er verbrachte seine Zeit damit, das zu tun, was auch ich am liebsten getan hätte, und er wirkte nicht arm. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass er irgendwann gezwungen sein würde, im Studentenwohnheim seines Kindes einzuziehen, um Geld für eine Kaution zu sparen. Vielleicht war es kein Problem, das zu tun, was man wirklich wollte. Vielleicht war es nur ein Problem, meine Mutter zu sein. Ich dachte wehmütig an unsere Hausärztin und all die praktische Hilfe, die sie Menschen hier und auf der anderen Seite der Erdkugel zukommen ließ. Wenn ich mich nicht bald zusammenriss, würde ich nie in der Lage sein, Kinder in Kenia zu impfen - und vielleicht sogar nie etwas ähnlich Nützliches zu tun. Aber vielleicht fand ich ein anderes Gebiet, auf dem ich mich bewähren konnte.
Ich fühlte mich seltsam beschwingt, als ich die Treppe zum Erdgeschoss hinaufging - sogar in Mantel und Stiefeln und mit meiner Büchertasche über der Schulter. Draußen blieb ich unter einem der vielen Vordächer von Wescoe stehen. Ein Bus kam angefahren, aber ich lief nicht in den Regen hinaus, um ihn noch zu erwischen. Talent auf diesem Gebiet. Ehrlicher Enthusiasmus. Ich starrte in den strömenden Regen und nahm vage zur Kenntnis, dass ich lächelte.
Ich hätte den Bus nehmen sollen.
»Veronica von Holten! Was für eine angenehme Überraschung!«
Jimmy Liff kam mit ausgestreckten Armen über den Innenhof auf mich zu, als wollte er mich umarmen. Als er näher kam - die Arme immer noch ausgestreckt - und es nicht danach aussah, als würde er stehen bleiben, trat ich einen Schritt zurück. Ich vergaß, dass ich auf dem Absatz einer kurzen Treppe stand, geriet ins Wanken und musste mich am Geländer festhalten.
»Was ist los?« Er stand vor mir und beugte sich ein bisschen nach vorne, sodass sein Gesicht ganz nah an meinem war. »Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?«
Ich warf einen Blick über die Schulter, um nach einem anderen Bus Ausschau zu halten. Ich wollte keine Angst vor ihm haben. Ich sagte mir, dass ich mich nicht vor ihm zu fürchten brauchte. Jeder konnte brüllen, mit Blumentöpfen schmeißen und so lange den Gangster-Rappern auf BET zuschauen, bis er selbst auch den coolen Gang mit den erhobenen Armen und das höhnische Grinsen perfekt draufhatte, und sich die Chicago-Bulls-Mütze tief in die Stirn ziehen. Aber seine Fixierung auf mich war beunruhigend. Noch vor wenigen Tagen hatte er geglaubt, mein Name sei Valerie. Jetzt kam ihm sogar mein Nachname leicht über die Lippen.
»Wie bist du heute Morgen zum Unterricht gekommen?« Seine Stimme klang freundlich, aber er bohrte mir zwei Finger ziemlich fest in die Schulter. »Bist du bei dem Regen den ganzen Weg zu Fuß gegangen?«
»Ich habe den Bus genommen«, erklärte ich. Um mein Gleichgewicht zu halten, setzte ich einen Fuß auf die erste Stufe. Jimmy stand immer noch unter dem Vordach, ich nicht. Regen tropfte auf meinen Kopf und meine Schultern.
»Aha. Du Glückspilz.« Er starrte mir unverwandt in die Augen. Der Bereich um seinen Nasenring war eindeutig entzündet. Die Haut sah rot und geschwollen aus und schob sich über die Ränder des Ringes. »Dahin, wo wir wohnen, fährt kein Bus. Die nächste Haltestelle ist ungefähr eine Meile entfernt. Wusstest du das?«
Noch einmal schaute ich über die Schulter. Immer noch kein Bus. Als ich mich wieder umdrehte, schien er sich keinen Millimeter bewegt zu haben. Sogar seine Augen waren ganz starr.
»Hast du dir vielleicht Gedanken darüber gemacht, wie ich heute Morgen zum Unterricht komme?« Er brüllte nicht; seine Stimme war immer noch sehr ruhig. »Oder Simone? Hast du an sie gedacht? Hast du an irgendjemanden außer an dich selbst gedacht? Nein? Kein Interesse? Na schön, ich sag dir jetzt was.« Ein paar Sekunden lang schwieg er und beobachtete mich nur. Anscheinend musste er nicht einmal blinzeln. »Ich musste einen Freund anrufen, jemanden, der nichts damit zu tun hat, dass mein Auto kaputt ist. Weil du nicht an dein Handy gegangen bist. Hast du es heute Morgen vielleicht nicht gehört? Schön ausgeschlafen?«
Er zog seine Augenbrauen hoch und wartete. Regen lief über meine Stirn und tropfte in meine Augen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich lieber nicht bewegen sollte, um die Tropfen wegzuwischen.
»Oder hast du dir einfach gedacht, dass es nicht dein Problem ist?«
Ich wandte mich zum Gehen, doch er stellte sich mir in den Weg.
»Wie, glaubst du, sollen Simone und ich nach Hause kommen? Bei dem Regen zu Fuß gehen? Versuchen, ein Taxi zu erwischen? Weißt du was? Wenn ich ein Taxi nehmen muss, wirst du dafür zahlen. Wir setzen es mit auf deine Rechnung. Du magst nicht ans Telefon gehen? Fein. Aber das kostet dich was. Und lass dir eines gesagt sein ... du wirst zahlen!«
Ich schaute ihm in die Augen und suchte nach einem Funken von Verständnis. Klar, dass er wegen der Party sauer war. Das wäre jeder. Und möglicherweise fehlten tatsächlich ein paar CDs. Aber selbst wenn CDs im Wert von dreihundert Dollar verschwunden sein sollten, war es nur schwer zu verstehen, warum er mich so böse anstarrte, warum er so erpicht darauf war, mich dafür büßen zu lassen. Ich dachte an sein Haus, sein Auto. Dreihundert Dollar plus Taxigeld war für mich eine Menge Geld, aber für ihn konnte es nicht viel sein.
»Jimmy«, erklärte ich erneut. »Ich habe kein Geld.« Wie zum Beweis breitete ich meine Hände aus. »Ich würde euch selbst fahren, wenn ich könnte. Aber ich habe leider kein Auto.«
Er schlug seine Hände so kräftig zusammen, dass es einen leisen Knall erzeugte, der an der Betonwand hinter ihm widerhallte. Aber seine Stimme war immer noch leise und ruhig. »Ach so. Du glaubst also, das geht dich alles nichts an. Ich schätze, es ist nicht dein Scheißproblem, dass ich nicht zum Unterricht und wieder nach Hause komme, weil mein Wagen noch drei Tage in der Werkstatt steht.«
Jetzt lächelte er, aber seine Stimme wurde lauter. Passanten drehten sich nach uns um, warfen einen Blick auf mein Gesicht - und schauten weg. Es gab nichts, was ich hätte sagen können, und keinen Ort, wo ich hätte hingehen können. Wenn ich ging, würde er mir folgen.
»Soll ich vielleicht zu Hause bleiben, bis das Auto repariert ist, und all meine Kurse versäumen? Hört sich das für dich fair an?«
Ich schluckte. Da hatte er recht. Ich hatte sein Auto kaputt gefahren. Seine Logik war nicht ganz abwegig. Ich schüttelte den Kopf. Schon wieder. Schon wieder machte ich dasselbe wie bei Elise und meinem Vater: Ich versuchte den Standpunkt des anderen zu verstehen, statt meinen eigenen zu verteidigen. Das war mir bewusst, aber trotzdem suchte ein Teil meines Gehirns immer noch nach einer Möglichkeit, es wiedergutzumachen. Ich hätte meine Mutter anrufen und sie bitten können, mir den Van zu leihen. Doch sie war weggegangen, um in der Bibliothek oder einem Café Stellenangebote zu lesen, es warm zu haben und mir nicht im Weg zu sein. Und dort konnte ich sie auch nicht erreichen - Jimmy hatte immer noch ihr Handy.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand ich.
Er seufzte. Er sah aus, als täte ich ihm wirklich leid.
»Besonders clever bist du nicht, stimmt's, Veronica?« Er schüttelte den Kopf und beantwortete sich die Frage selbst. »Was Bücher angeht vielleicht. Beim Lernen kommst du gut zurecht. Aber nicht in der Realität, oder? Muss ich es dir laut vorsagen?«
Obwohl ich wusste, dass es falsch von mir war, fand ich, auch das war ein Punkt für ihn.
»Mein letzter Kurs hört um eins auf«, sagte er. Er sprach langsam und betonte jede Silbe, als spräche er mit einem Kleinkind. »Simones genauso. Damit bleibt dir eine ganze Stunde, um dir was einfallen zu lassen. Du kannst uns beim Brunnen abholen.« Er hob sein Kinn und fixierte mich. »Komm ja nicht zu spät!«
Gretchen war nicht in ihrem Zimmer, ihre Autoschlüssel auch nicht. Ich dachte daran, Tim anzurufen, überlegte es mir aber schnell anders. Um halb eins rannte ich über den Parkplatz zum Speisesaal und suchte an den Tischen nach irgendjemandem, den ich auch nur entfernt kannte. Aber alle, die ich fragte, sagten, sie hätten kein Auto, oder falls doch, waren sie gerade auf dem Weg zum Unterricht, schon spät dran, der Schlüssel im Zimmer eingesperrt. Ich hatte den Verdacht, dass einige von ihnen logen, und ehrlich gesagt konnte ich es ihnen nicht verdenken. Ich konnte mir vorstellen, wie ich aussah: weit aufgerissene Augen, schwer atmend, regennasses Haar im Gesicht - nicht unbedingt die Person, der man bedenkenlos einen Autoschlüssel zuwerfen würde. Als die Aufsicht vom dritten Stock - ich wusste, dass sie zwei Sommer hintereinander als Kellnerin gearbeitet hatte, um ihren Jeep zu kaufen - wegschaute und murmelte, es täte ihr leid, dass sie mir nicht helfen könne, traute ich mich nicht mehr, noch jemanden zu fragen.
Auf dem Weg zu meinem Zimmer lehnte ich den Kopf an die Fahrstuhlwand und schloss die Augen. Mein Herz hämmerte immer noch, aber ich konnte bereits fühlen, wie ich ruhiger wurde, der Schweiß unter meinem Pullover abkühlte und meine Haut feuchtkalt wurde. Es war wirklich eine Erleichterung, einfach aufzugeben, mir einzugestehen, dass ich nichts mehr machen konnte. Ich griff in meine Tasche und stellte mein Handy ab. Jimmy würde bald anrufen, und er würde später noch mal anrufen. Doch im Moment wollte ich nur noch schlafen. Meine Mutter war den ganzen Tag unterwegs, und ich wollte mein Zimmer für mich haben. Ich wusste, dass ich den ganzen Mist nur hinausschob, aber ich konnte nur noch daran denken, was für ein gutes Gefühl es sein würde, eine Weile allein in meinem dunklen Zimmer zu liegen und mir keine Sorgen zu machen über das, was auf mich zukam.
Als ich die Tür aufmachte, sah ich meine Mutter und Marley neben meinem Bett auf dem Boden sitzen, zwischen sich eine große Tüte M&M's. Marley flocht meiner Mutter die Haare, und Bowzer schlief friedlich auf meinem Bett. Beide Betten waren gemacht, die Kissen aufgeklopft. Die Fenster sahen verdächtig sauber aus.
»Oh! Veronica! Hey!« Meine Mutter blickte auf, so gut sie konnte, ohne den Kopf zu bewegen. Marley machte ihr Rattenschwänzchen, auf jeder Seite eins; der Zopf, mit dem sie schon fertig war, ringelte sich an der Spitze ein bisschen nach oben. »Was treibt sie da hinten? Ich verstehe nicht, wie sie das macht. Mein Haar ist doch stufig geschnitten.«
»Halt still, Natalie.« Marley schüttelte den Kopf und lächelte. Sie trug wieder ihre Hausschuhe, die wie kleine Plüschschweinchen aussahen, und ein Kleid mit einem Oberteil aus Jeansstoff und einem geblümten Rock. Ihr Waldhornkoffer lag offen auf dem Gästebett, und das Instrument funkelte auf dem weichen Untergrund aus gepresstem, blauem Samt.
Der Blick meiner Mutter ruhte auf meinen Augen. »Entschuldige, Liebes. Ich wollte gerade gehen, als deine nette Nachbarin kam und mir Musik und Schokolade anbot.« Sie zog ihre Nase kraus und warf Marley über die Schulter ein Lächeln zu. »Wie hätte ich da widerstehen können? Und sag mal, hast du sie je spielen hören?« Sie nickte in Marleys Richtung, als ob ich sonst nicht hätte erraten können, wen sie meinte. »Sie macht das wirklich toll! Noch dazu ist es eines der schwierigsten Instrumente. Wusstest du das? Irgendjemand hat es mir mal erzählt. Man würde es nicht glauben, wenn man diesem Mädchen zuschaut. Sie muss auf ihre Atmung achten, auf ihre Hände und sogar darauf, wie sie es hält. Marley, du musst es Veronica zeigen, wenn du fertig bist.«
»Okay«, sagte Marley. Sie blickte zu mir auf. »Was ist denn los? Du siehst irgendwie merkwürdig aus.«
Ich wollte sie nicht da haben. Ich wollte keine von beiden in meinem Zimmer haben. Ich senkte den Blick und legte eine Hand an meinen Mund. »Mom«, sagte ich. »Ich muss mir deinen Wagen leihen.«
»Warum?« Sie legte den Kopf zurück, um mich anzuschauen. Marley schnalzte mit der Zunge und zupfte sanft an ihrem Zopf.
»Kannst du mir bitte einfach die Schlüssel geben?«
Meine Mutter sah mich an, ohne etwas zu sagen. Langjährige Erfahrungen seit meiner frühesten Kindheit hatten mich gelehrt, dass dieses Gespräch erst fortgesetzt werden würde, wenn ich mich entschuldigt hatte. Nicht in diesem Ton, junge Dame.
Doch mittlerweile durfte ich mir anscheinend mehr erlauben. »Okay«, sagte sie, beugte sich vor und griff nach ihrer Tasche, die auf dem Bett lag. Marley, die immer noch den Zopf meiner Mutter festhielt, rutschte mit ihr mit. Ich starrte auf die Tüte M&M's.
»Das sind meine«, sagte Marley. »Möchtest du welche?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nur die Schlüssel.
»Veronica hat mich schon einmal spielen sehen.« Marley kniete auf dem Boden und schlang ein Gummiband um ein Zopfende. »Sie war bei dem Footballspiel, wo unsere Band aufgetreten ist.« Sie legte den Kopf zur Seite und schaute den Hinterkopf meiner Mutter an. »Jedenfalls hat sie gesagt, dass sie da gewesen sei.«
Das, was danach passierte, was ich danach tat, ist schwer zu rechtfertigen oder auch nur zu erklären. Sicher, ich war müde von zu wenig Schlaf, zu vielen Sorgen und zu vielen Adrenalinschüben. Ich war nicht in der Stimmung, mir Kritik von Marley anzuhören, unabhängig davon, wie diskret sie vorgebracht wurde, und unabhängig davon, dass das, was sie sagte, stimmte. Ich sah, wie meine Mutter mich anschaute, als würde sie sich fragen, ob ich tatsächlich eine Lügnerin sei. Dann sah ich Marley in diesem grottenhässlichen Kleid und den Schweinchenschuhen. Sie war ein leichtes Ziel, und irgendetwas Böses und Unüberlegtes in mir entschied: Du! Du bist es, die bestraft werden muss!
»Weißt du, Marley, du könntest vielleicht einmal selbst die Verantwortung für dich übernehmen und dir Freunde suchen, statt mir ständig auf der Pelle zu hängen. Wenn du damit aufhören könntest, dich wie eine Zwölfjährige anzuziehen und zu benehmen, würden dir die anderen Erstsemester vielleicht nicht aus dem Weg gehen.«
Beide starrten mich an. Meine Mutter legte ein wenig den Kopf zurück. Das Ganze war mir jetzt schon peinlich. Mir war klar, wie ich auf sie wirken musste und wie ich mich anhören musste, aber in meinem Kopf ging alles durcheinander, und trotz meiner Verlegenheit - oder vielleicht gerade deswegen - hatte ich das Gefühl, dass mir nichts anderes übrig blieb, als mich zu behaupten.
»Ich habe es satt, dich zu bemitleiden.« Obwohl ich spürte, dass auch meine Mutter mich anstarrte, sah ich nur Marley an. »Ich habe es satt, dass du so bemitleidenswert bist. Das hier ist übrigens mein Zimmer. Ich habe dich nicht hereingebeten. Und es tut mir leid, aber: Nein, ich war nicht bei dem Footballspiel. Ich bin nicht deine Mommy. Und ich will es auch nicht sein.«
Meine Mutter stand hastig auf. »Das reicht«, sagte sie leise. »Hör auf, Veronica. Hör sofort auf.«
Marley sprang auf. Sie strich ihren geblümten Rock glatt und schaute mich an. Ihre Augen waren klein, und ihr Mund stand offen, als könnte sie immer noch nicht glauben, was ich da gerade gesagt hatte, als wartete sie darauf, dass ich gleich lächeln und sagen würde, ich hätte nur Spaß gemacht.
Ich trat zur Seite, um sie vorbeizulassen.
»Es tut mir leid.« Meine Mutter legte eine Hand auf Marleys Schulter. »Ich habe wirklich keine Ahnung ...« Ihre Zöpfe bogen sich an den Enden nach oben, wie bei Pippi Langstrumpf. Sie schaute mich an und zischte dann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Ich weiß wirklich nicht, was in meine Tochter gefahren ist.«
Marley zuckte mit den Schultern und beugte sich vor, um ihren Waldhornkoffer zu schließen. Ich konnte rosa Flecken auf ihren blassen Wangen sehen, genau wie ich sie hatte, wenn ich mich anstrengte, nicht zu weinen. Ich legte meine Hände an mein Gesicht. Sie fühlten sich kühl an auf meinen Wangen, meine Wangen heiß unter meinen Händen.
»Liebes«, sagte meine Mutter. Sie sprach mit Marley. »Du musst nicht gehen.« Sie warf mir einen harten Blick zu. »Oder ich komme mit, wenn du gehen willst.«
Marley schüttelte den Kopf. »Ich wollte sowieso gehen. Ich habe Unterricht.« Sie sah mich voller Trauer oder Hass - oder vielleicht auch beidem - an und rannte an mir vorbei auf den Flur.
Als ich endlich wieder aufblickte, hatte meine Mutter den Kopf leicht von mir abgewandt. Sie trat einen kleinen Schritt zurück und betrachtete mich aus den Augenwinkeln, wie ein Vogel - so, als könnte sie es nicht ertragen, mir direkt ins Gesicht zu sehen. Ich ging zu meinem Schreibtisch, machte meine Tasche auf und fing an, Bücher herauszuholen.
»Was ist mit dir los?«
Ich sagte nichts. Es war eine Frage, auf die es zu viele Antworten gab. Wo soll ich beginnen? Wo nur, wo soll ich beginnen? Ich wusste nicht, womit ich mich beschäftigen sollte. Also legte ich drei Stifte nebeneinander und zog meine Chemiebücher zu mir, bis sie mit der Schreibtischkante abschlossen. Dann sah ich auf die Uhr. Es war bereits nach eins, und es regnete immer noch stark. Doch es war mir egal. Jimmy Liff war mir egal.
»Antworte mir.« Meine Mutter beugte sich vor. Sie versuchte, mir in die Augen zu schauen. »Du hast kein Recht dazu, so mit ihr - mit irgendjemandem - zu sprechen. Verstehst du? Veronica! Hörst du mir zu?«
Mit den Fingerspitzen berührte sie leicht meinen Arm. Als ich mich nicht rührte, setzte sie sich ans Fußende meines Bettes.
»Liebes?«, fragte sie mit leiser, ein bisschen unsicherer Stimme. »Nimmst du ... nimmst du Drogen?«
Ich musste tatsächlich lachen, nur eine Sekunde lang, aber der Druck ließ Tränen in meine Augen schießen. Ich spähte zu ihr hinüber. Sie lachte nicht.
»Nein«, antwortete ich.
»Was ist es dann? Wie um alles in der Welt konntest du dich so benehmen? Wie konntest du sagen, dass du nicht ihre Mutter bist, wenn sie ihre gerade verloren hat? Was stimmt nicht mit dir?«
Ich blickte auf. Einen Moment lang dachte ich wirklich, sie würde meinen, dass Marley ihre Mutter verloren hätte, weil sie ihr Zuhause verlassen hatte, um aufs College zu gehen. Das, was ich gesagt hatte, war doch gar nicht so schlimm. Meine Mutter reagierte übertrieben, wenn sie mich so wie jetzt anschaute.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich ... Was meinst du?«
»Ihre Mutter ist im Frühjahr gestorben. Krebs.« Sie hob ihre Hände und hielt ihre Handflächen nach oben, als hielte sie etwas Rundes, Zerbrechliches darin. »Wieso weißt du das nicht?«
Ich starrte auf den Boden, auf die Tüte mit den M&M's. Dann sah ich wieder zu meiner Mutter. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was Marley mir über ihre Mutter erzählt hatte. Sie spielte Klavier. Sie gab Stunden außer Haus und begleitete den Kirchenchor. Diese Details hatten es irgendwie in mein Langzeitgedächtnis geschafft. Wenn ich also gehört hätte, dass sie an Krebs gestorben war, hätte ich mir das bestimmt auch gemerkt.
»Was?«, fragte ich. »Warum schaust du mich so an? Woher hätte ich es wissen sollen, wenn sie es mir nicht erzählt hat?«
Aber in Wirklichkeit war mir klar, dass ich mich gerade selbst übertroffen hatte. Von all den Dummheiten, die ich seit Freitagmorgen gemacht hatte - das Auto, die Party, Clyde-vom-dritten-Stock -, war das, was ich zu Marley gesagt hatte, am beschämendsten, der Fehler, an den ich mich am längsten erinnern würde.
Meine Mutter verschränkte die Arme. »Sie hat es mir nach ungefähr zehn Minuten erzählt. Wie lange hat dein längstes Gespräch mit ihr gedauert?«
Bowzer wachte auf und begann, sich mit der Hinterpfote am Kinn zu kratzen. Die Bewegung ließ mein ganzes Bett vibrieren, und die Matratze wackelte im Rahmen. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich neben ihn gelegt - so wie früher, als er noch ein Welpe und ich ein kleines Mädchen gewesen war. Ich wollte mein Gesicht an sein Fell drücken und ihn hinter den Ohren kratzen, bis er vor Behagen schnaufte und nicht mehr an seine schmerzenden Knochen dachte. Vielleicht würde mir sogar meine Mutter niemals verzeihen. Sie würde mich vielleicht noch lieben, aber sie würde nicht mehr dasselbe von mir denken. Sie liebte Elise auch, aber aus anderen Gründen. Ich war immer die Nette gewesen.
»Ist es nicht dein Job, dich um die Studienanfänger in deinem Stockwerk zu kümmern? Veronica, das Mädchen stirbt vor Einsamkeit. Erzähl mir nicht, dass du das nicht siehst.«
Ich schloss die Augen. »Mom. Wenn du eine Ahnung hättest, unter welchem Druck ich stehe ... Du hast mir erst neulich gesagt, dass ich mich aufs Lernen konzentrieren soll ...«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Komm mir nicht damit! Du hast diesen Job angenommen, dich um ihn beworben. Und er ist wichtig. Wenn du nicht vorhast, ihn richtig zu machen, solltest du ihn überhaupt nicht machen.« Sie wollte noch etwas sagen, brach aber ab. Stirnrunzelnd schaute sie mich an und fing dann noch einmal an. »Du machst das alles doch, um Ärztin zu werden. Weißt du, Ärzte müssen mit Menschen umgehen, Veronica. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Stress auf der Uni nicht weniger wird. Willst du so deine Patienten behandeln? Bist du dir sicher, dass du auf diesem Gebiet arbeiten willst?«
Ich fing an zu weinen. Dabei hatte ich Angst, dass sie es für einen Trick halten würde, aber ich konnte nicht anders. Sie reichte mir ein Papiertaschentuch. Als ich den Kopf hob, um es zu nehmen, lächelte sie nicht.
»Ich rede noch heute Abend mit Marley«, versprach ich. »Ich werde mich bei ihr entschuldigen.«
»Okay.« Ihre Stimme war ebenso ausdruckslos wie ihr Gesicht. Sie schien auf etwas zu warten.
»Was ist?«
»Dieses Verhalten sieht dir nicht ähnlich. Das bist nicht du. Was ist los?«
Das Telefon klingelte. Wir zuckten beide zusammen. Es klingelte weiter und weiter und weiter.
Der Blick meiner Mutter wanderte vom Telefon zu meinem Gesicht. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keinen Anrufbeantworter für das Festnetztelefon. Aber jeder normale Mensch hätte inzwischen aufgegeben. Das neunte Klingeln. Das zehnte. Es war Jimmy Liff. Er würde es den ganzen Tag weiterklingeln lassen.
Meine Mutter schaute das Telefon an, dann wieder mich.
»Die Dinge haben sich ein bisschen zugespitzt«, erklärte ich.
Sie beugte sich leicht vor und kniff die Augen zusammen. Das Telefon klingelte immer noch.
»Ich habe in letzter Zeit ziemlich viel Blödsinn gemacht und stecke ganz schön in der Klemme.«
Sie nickte, und ihr Blick wanderte zum Telefon. Das Klingeln schien lauter zu werden. Ich legte eine Hand über meine Augen. »Das ist der Typ, dessen Auto ich kaputt gefahren habe. Es war sein Haus, in dem ich das Wochenende verbracht habe, und nun ist er sauer, weil ich nach dem Unfall eine Party gegeben habe. Er will ständig irgendwohin gefahren werden, und dabei interessiert es ihn nicht, dass ich kein Auto habe. Jetzt zum Beispiel will er vom Campus nach Hause gefahren werden.«
»Oh.« Meine Mutter legte den Kopf schief. »Na ja. Soll ich drangehen?« Sie ließ mir keine Gelegenheit, darauf zu antworten: Ihre Hand war blitzschnell beim Telefon.
»Hallo?«
Während er im Regen wartete, hatte Jimmy offensichtlich seine Fähigkeit, sich zu beherrschen, verloren. Obwohl ich ein paar Meter vom Telefon entfernt saß, konnte ich ihn hören. Einige Worte waren deutlicher zu verstehen als andere: »Miststück«, »lieber«, »SOFORT!«. Ich beobachtete, wie die Augenbrauen meiner Mutter immer weiter nach oben wanderten und ihre Augen immer größer wurden. Sie schaute mich an und schien auf etwas zu warten, vielleicht ein kritisches Wort von mir.
»Ich weiß nicht ...«, sagte ich, »... ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Sie presste die Lippen zusammen und starrte aus schmalen Augen das Telefon an. Währenddessen wanderten ihre Finger an einem ihrer Zöpfe hinunter zu dem Gummi, das Marley um das Ende gebunden hatte. Eine ihrer Augenbrauen ließ sie wieder sinken, während die andere oben blieb; auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Falten. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. »Ja«, sagte sie ins Telefon. »Ich denke, ich habe verstanden. Ganz genau sogar.«
Ich konnte es nicht fassen, dass er sie für mich hielt. Ihre Stimme war tiefer, und sie klang älter - wenigstens in meinen Ohren.
»Kein Problem«, sagte sie. »Warte noch einen Moment. Wir sind schon unterwegs.«