Kapitel 8

Gretchen fuhr mich zu Jimmy. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht bleiben und mir beim Saubermachen helfen konnte - sie musste zu ihrer Lerngruppe und hatte danach für den Rest der Nacht Dienst im Wohnheim. Dafür bot sie an, ganz früh am Sonntagmorgen zu kommen, aber ich lehnte ab. Die Party war meine Idee gewesen. Den Mist, der noch übrig war, würde ich selbst wegräumen.

Doch als ich in das Haus kam und wieder allein war, sehnte ich mich nur noch nach einem Bad. Der Whirlpool befand sich neben dem Hauptschlafzimmer. Er erstreckte sich tief und breit unter einem Fenster und bot einen freien Blick auf den Himmel, der dunkelgrau war, weil die Wintersonne bereits verblasste. Aber im Badezimmer schien ein tropisches Klima zu herrschen. Farne und Begonien hingen in Töpfen von der Decke. Auf der Einfassung der Wanne tummelten sich Steinskulpturen freundlich blickender Waldtiere, von denen einige geschickt die Lautsprecher der wasserfesten Stereoanlage über der Armatur verbargen, die ich rasch mit den Zehen zu bedienen lernte. Ich nahm mir ein wenig von Haylies teurem Shampoo und ließ heißes Wasser nachlaufen, die Düsen auf Hochdruck, die Musik laut. Ich wusste, dass ich saubermachen sollte. Ich wusste, dass ich lernen sollte. Ich wusste, dass ich Tim zurückrufen sollte - zumindest, um ihm zu sagen, dass es mir gut ging. Aber ich wollte ihn nicht belügen, und die Wahrheit wollte ich ihm auch nicht sagen. Handlungen haben Konsequenzen. Das wusste ich. Ich wollte sie nur noch eine Weile hinausschieben.

Gerade als ich - immer noch dampfend - aus der Wanne stieg, klingelte mein Handy. Tims Nummer erschien auf dem Display, und ich nahm ab. Keine Ahnung, warum. Gewohnheit. Schuldgefühle. Das Verlangen, eine freundliche Stimme zu hören.

»Hi.«

»Hey, du bist okay.« Eine Pause folgte. »Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«

Ich setzte mich nur mit einem Handtuch bekleidet auf das Bett. In dem Zimmer war es dunkel. Trotzdem konnte ich in dem Spiegel einen halbmondförmigen Ausschnitt meines Gesichtes in dem schwachen, grauen Lichtschein meines Handys sehen. Draußen hing die untergehende Sonne leuchtend rosa über dem winterlich verödeten Golfplatz und überzog den Himmel mit einem tiefen Purpurton. »Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Ich hätte zurückrufen sollen ... hier war einiges los.«

»Okay«, sagte er nur ruhig, sonst nichts.

»Ich hatte einen Autounfall«, fing ich an und bedauerte es sofort. Es wäre besser gewesen, ihm alles oder gar nichts zu sagen. Indem ich an sein Mitleid appellierte und meine Geschichte so zurechtbog, wie sie für mich am günstigsten war, verhielt ich mich wie meine Eltern.

»Mit dem Auto von diesem Typen, dem kleinen Wagen? Bist du okay?«

»Mir geht's gut, nur ein Blechschaden. Na ja, ein bisschen mehr als das. Das Auto musste abgeschleppt werden. Aber mir geht's gut, ehrlich.«

Er zog scharf die Luft ein. »Ich wusste es«, seufzte er. »Ist doch komisch, oder? Ich wusste es in dem Moment, wo ich von dem schlechten Wetter hörte.«

»Was soll das heißen?«

»Häh?« Er war verwirrt. Ich konnte mir vorstellen, was für ein Gesicht er machte, wie er seine dunklen Augenbrauen nach unten zog.

»Du bist davon ausgegangen, dass ich das Auto bei schlechtem Wetter zu Schrott fahre?« Meine Hände waren verkrampft, und ich drückte aus Versehen auf eine Taste meines Handys. »Du hast es schon gewusst, als die Straßen ein bisschen rutschig wurden? Du schaffst es bis Chicago, aber du hast gewusst, dass ich armes Ding es nicht einmal vom Flughafen nach Hause schaffen würde? Richtig?«

»Was?« Er fing an zu lachen, hörte aber sofort wieder auf. »Veronica. So habe ich das nicht gemeint. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht. Ich habe gehört, dass es wirklich schlimm mit dem Glatteis war. Ich hätte mir um jeden Sorgen gemacht, der bei diesem Wetter Auto fahren muss. Aber natürlich besonders um dich, weil du meine Freundin bist.« Er machte eine Pause. »Bist du okay?«

»Ich bin keine schlechte Fahrerin.«

»Das weiß ich.« Wieder eine Pause. »Aber das habe ich auch nie gesagt, Veronica. Ich habe nur gesagt, dass ich mir Sorgen gemacht habe.«

Seine Stimme klang liebevoll. Ich war ein schlechter Mensch. Eine Lügnerin. Allein der Umstand, dass ich Clyde mit keinem Wort erwähnte, machte mich zu einer Lügnerin.

»Bist du verletzt?«

»Nein.« Ich rieb mir den Nacken. »Ein bisschen angeschlagen vielleicht.« Ich schaute auf das Display meines Handys. Keine weiteren neuen Nachrichten. Meine Mutter hatte aufgegeben.

Er wollte Näheres wissen. Er wollte wissen, wie ich nach Hause gekommen war und ob ich es Jimmy schon gesagt hätte. Je besorgter er klang, desto mieser fühlte ich mich. Ich wich seinen Fragen aus und lenkte ab. Schließlich sagte ich - und das war keine Lüge -, dass ich müde sei. »Ich erzähle dir alles, wenn du wieder da bist«, ergänzte ich. »Die ganze Geschichte.« Ich wandte mich vom Spiegel ab und legte mich wieder auf das Bett.

Er käme Sonntagabend zurück, sagte er, aber spät. Und er habe Montag den ganzen Tag Unterricht. Wir könnten uns am Montagabend sehen. Er wisse, dass ich eine Prüfung vor mir hätte, aber er wolle mit mir irgendwo schön essen gehen. Um sieben würde er mich abholen.

»Komm einfach auf mein Zimmer«, bat ich ihn. Schuldgefühle hin oder her, ich musste strategisch denken und es ihm in meinem Zimmer sagen. Ich konnte nicht warten, bis wir in seinem Auto saßen, und es ihm dann erzählen. Und auf keinen Fall wollte ich es ihm in irgendeinem Restaurant sagen. Ich hatte keine Lust, schon wieder irgendwo zu stranden - eine unglückliche Beifahrerin im Auto eines anderen, zu weit von zu Hause entfernt, um auszusteigen und zu Fuß zu gehen.

Ich beschloss, am nächsten Morgen aufzuräumen. Ich würde früh aufstehen und dann mit klarem Kopf und frischer Energie das Haus in Ordnung bringen, lange bevor Jimmy und Haylie wieder da waren. Noch vor acht hatte ich die Pflanzen besprüht und meinen Schlafanzug angezogen. Mit ausgestreckten Beinen saß ich auf der Couch, auf meinem Schoß die übrig gebliebenen Kartoffeln aus dem Restaurant und mein Chemiebuch. Ich war immer noch eine gute Studentin. Ich war kein völlig anderer Mensch.

Und tatsächlich studierte ich mindestens eine halbe Stunde lang eifrig Diagramme von Benzolmolekülen, die sich mit ihren kleinen Armen bei anderen Benzolmolekülen einhängten. Ninhydrin und MDMA sind farblos, während das Reaktionsprodukt rot ist, da weder Ninhydrin noch MDMA über eine ausreichende Menge an konjugierten p-Orbitalen für eine HOMO-LUMO-Lücke verfügen. Ich arbeitete mich durch zwei Beispielfragen und erwog, die dritte in Angriff zu nehmen. Zehn Minuten vergingen. Zwanzig. Es war noch nicht mal neun. Früh genug, um Tim anzurufen und ihm alles zu sagen und wenigstens keine Lügnerin mehr zu sein.

Konzentrier dich! Ich schaute noch einmal das Benzoldiagramm an. Ich las noch einmal die Gleichung. Ich schloss die Augen. Ich machte sie auf. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Ein einzelnes, mit Büchern vollgestelltes Regalbrett hing hinter der Couch an der Wand, auf beiden Seiten von zähnefletschenden Monstern bewacht, die an gotische Wasserspeier erinnerten. Der Titel Die gesammelten Werke von William Shakespeare stach mir ins Auge. Offensichtlich hatte Jimmy seine Ausgabe am Ende des Semesters nicht verkauft, was angesichts der Tatsache, dass er nicht ein einziges der Stücke, die wir durchgegangen waren, gelesen zu haben schien, interessant war. Aber er hatte eine nette kleine Bibliothek, gleich hier in Reichweite der Couch. Vonnegut. Plato. Emily Brontë. Ginsberg und Burroughs. Plath. Die Buchrücken der gebundenen Ausgaben knarrten beim Aufschlagen, und die Seiten wirkten unberührt. Es gab vier Bücher von Toni Morrison, und in Sehr blaue Augen steckte ein schmaler Band von CliffsNotes Lektüreschlüsseln. Am anderen Ende des Regals entdeckte ich Jane Eyre. Ich hatte es in meinem ersten Collegejahr im Literaturkurs gelesen, den eine Doktorandin mit flammend rotem Haar und Nickelbrille hielt, die uns schon am ersten Tag mitteilte, dass die Leseliste von dem Institut für Anglistik zusammengestellt worden und die Lektüre ganz und gar nicht das sei, was sie ausgesucht hätte. Sie würde zumindest versuchen, die Bücher für uns sowohl in einen marxistischen als auch in einen feministischen und einen postkolonialen Kontext zu bringen. Am ersten Tag hatte sie mir Angst gemacht, aber schon bald mochte ich sie als Lehrerin gern, obwohl sie und ich zeitweise nicht zusammenkamen, als die Klasse anfing, Jane Eyre zu lesen. Ich liebte das Buch. Jane war mit all ihrem Scharfsinn und Mut eine wahre Heldin, fand ich, und ich glaubte an die Liebe, die sich zwischen ihr und Rochester entwickelte. Die Doktorandin hingegen war der festen Überzeugung, dass es sich bei Jane Eyre keineswegs um eine Liebesgeschichte handelte. Sie gab uns einen Zeitungsartikel, in dem argumentiert wurde, dass Jane am Ende des Buches - als sie die Ehefrau des alten, blinden Rochester wird - nicht mehr als sein Blindenhund sei, eine Untergebene, deren Aufgabe es sei, den kolonialen, patriarchalischen Status quo aufrechtzuerhalten. Ich glaubte keine Sekunde lang daran, und ich war so empört, dass ich meine Englischnote riskierte - meine einzige sichere Eins in dem Semester -, um Jane in meiner Hausarbeit zu verteidigen. Ich schrieb, Jane sei nicht Rochesters Blindenhund, sondern seine gleichberechtigte Gefährtin. Die Gesellschaft mochte die beiden als Herrn und Untergebene abstempeln, aber nach ihrem eigenen Verständnis seien sie einander ebenbürtig, weil er sie liebte und sie ihn liebte - dafür gebe es im Text mehr als genug Hinweise.

Die Doktorandin war fairer, als ich es erwartet hatte. Sie gab unsere Arbeiten einen Monat später zurück, und auf meiner stand:

Ihre Kultur hat Sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Und Sie irren sich. Aber Sie können schreiben.

An diesem Abend las ich auf Jimmys Couch Jane Eyre fast komplett und dachte dabei an das Blindenhund-Argument. Ich hatte nicht vorgehabt, so lange zu lesen. Ich blätterte einfach immer weiter. Es hatte etwas Tröstliches, sich mit jemandem zu beschäftigen, der echte Sorgen hatte: Jane, mit ihrem eingeengten Leben in einem anderen Jahrhundert. Sie lebte in einer viel trostloseren Welt als ich, und ihre Möglichkeiten waren weniger und weit begrenzter. Dazu kam die vertraute Freude an einer guten Handlung, die allmähliche Enthüllung des Charakters, der Probleme und der Gedanken einer Person; eine aus Worten erschaffene Welt, in die man eintauchen konnte.

Am nächsten Morgen wachte ich auf der Couch auf, neben mir auf dem Fußboden Jane Eyre. Sonnenlicht fiel durch die dünnen Wohnzimmervorhänge. Im Wohnheim war es morgens immer laut. Ständig wurden Türen geöffnet und zugeworfen, lachte jemand auf dem Flur, dröhnte irgendwoher Musik oder schrillte ein Wecker in einem leeren Zimmer. Aber hier im Haus war es still und friedlich. Als ich in die Küche schlenderte, war ich trotz der seifenverschmierten Arbeitsfläche und der verdreckten Böden glücklich, aber dann fiel mein Blick auf die kleine Digitaluhr neben dem Herd. Es war fast elf. Jimmy und Haylie würden gegen vier zurück sein.

Ich rannte panisch im Kreis herum und sammelte Dosen und Becher auf. Meine nackten Fußsohlen blieben am Küchenboden kleben. Dort, wo die Topfpflanze umgefallen war, lag Erde auf dem Teppichboden. Das Blut auf dem Vorhang. Haylies Klamotten, die Boa, die Schuhe. Der schwache, aber unverkennbare Geruch von Zigaretten im Wohnzimmer. Die Plastiktüte voller Aludosen, die Gretchen eigentlich hätte mitnehmen sollen. Ich wusste nicht, was ich damit machen sollte, weil ich kein Auto und keine Möglichkeit hatte, sie verschwinden zu lassen, bevor Jimmy und Haylie zurückkamen. Wieder einmal war ich gestrandet.

Ich versuchte, Gretchen anzurufen. Sie hob nicht ab. Meine Mutter hatte wieder angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Ich hörte sie ab, während ich Zigarettenstummel aus einer Aloe vera beim Spülbecken klaubte.

»Falls das die einzige Möglichkeit ist, mit dir zu kommunizieren, möchte ich wenigstens, dass du zwei Dinge weißt. Erstens, du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der Probleme hat. Als deine Mutter halte ich es für meine Pflicht, dir das mitzuteilen. Zweitens, es tut mir sehr, sehr leid, dass ich dich gestern im Stich gelassen habe. Aber ich garantiere dir, Veronica, dass ich in Zukunft für dich da sein werde, wenn du ein Problem hast und mich brauchst. Ruf mich einfach an, und ich werde kommen. Das gestern Morgen war eine Ausnahme. Ich denke, wenn du meinen Job als Mutter insgesamt betrachtest, wirst du mir da recht geben.«

Ich warf die Zigarettenstummel in den Mülleimer und haderte nur einen Moment lang mit mir. Sie hob beim ersten Klingeln ab.

»Ich bin's«, sagte ich. »Veronica.«

»Ich weiß.« Sie sprach atemlos, zerstreut. Im Hintergrund hörte ich Bowzers heiseres Bellen. Ich wartete, doch sie sagte auch nichts und wartete darauf, dass ich anfing.

Ich starrte die Pflanze an. »Du weißt noch, dass du gemeint hast, ich könnte dich das nächste Mal, wenn ich ein Problem habe, anrufen?«

»Ja?«

»Also, heute habe ich eins.«

»Was?« Sie brach ab, um Bowzer zu sagen, er solle still sein. Dabei war sie sehr höflich. Sie sagte »bitte«. Zu Bowzer. Dann war sie wieder am Telefon. »Was? Wo bist du? Was ist passiert?«

»Nichts«, beschwichtigte ich sie. »Es ist keine Krise wie ...« Ich beschloss, nicht näher auf den Vorfall von vorgestern einzugehen. »Zumindest handelt es sich nicht wirklich um einen Notfall. Eher um ein kleines Problem. Aber ich könnte deine Hilfe brauchen.« Ich machte eine Pause, weil ich mich auf einmal befangen fühlte, zerknirscht. Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der Probleme hat. »Falls du nicht zur Arbeit musst, meine ich. Ich weiß nicht, ob du heute arbeiten gehst.«

Zu meiner Überraschung lachte sie. Es war nicht ihr normales Lachen. Es war tiefer und ein bisschen rau, wie Bowzers Bellen. »Ich arbeite nicht«, sagte sie schließlich. Ihr Lachen endete mit einem müden Seufzer. »Ich stehe zur Verfügung. Was ist los, Liebes? Sag mir, was du brauchst.«

Sie beäugte den Blutfleck aus verschiedenen Blickwinkeln, hob den Vorhang hoch und hielt ihn ins Licht. Wenn sie kein Make-up trug, sah sie ein bisschen wie ein Kaninchen aus, weil ihre Wimpern sehr fein und kaum zu sehen waren. »Weißt du, was helfen könnte?«, fragte sie. »Mürbesalz. Schau mal nach, ob es hier so etwas gibt.«

»Mürbesalz?« Ich kniete auf allen vieren auf dem Boden und klaubte winzige Glassplitter aus dem Teppich. Meine Mutter hatte sie gleich beim Hereinkommen im Sonnenlicht glitzern sehen und mir ihre weichen, engen Lederhandschuhe gegeben, damit ich mir beim Einsammeln nicht in die Finger schnitt.

»Es ist das Beste, um Blutflecken herauszukriegen. Erinnerst du dich noch an die Zeit, als Elise ständig Nasenbluten bekam? Nein, du warst noch zu klein.« Sie drehte sich um und nieste in ihren Ärmel. »Arme Elise. Sie saß einfach da - beim Abendbrot, im Schulbus oder auf der hellen Couch anderer Leute -, und plötzlich schoss all das Blut aus dieser kleinen Nase. Der Arzt sagte, es würde vorbeigehen und wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen, aber versuch mal, das einer Sechsjährigen klarzumachen. Sie geriet in Panik und fasste mit den Händen an ihre Nase, und dann war das Blut einfach überall.« Sie hielt ihren Finger hoch und nieste noch einmal.

»Gesundheit«, sagte ich.

Meine Mutter schaute mich an. Es schien sie zu ärgern, dass ich einfach herumstand. »Mürbesalz.« Sie schnippte mit den Fingern. »Die Küche. Geh nachschauen! Ich dachte, wir hätten es eilig.«

Jimmy und Haylie hatten kein Mürbesalz.

»Ich geh welches holen.« Sie bewegte sich schon in Richtung Haustür. Dabei hatte sie noch nicht einmal ihren Mantel ausgezogen. »Gibt es irgendwo hier in der Nähe ein Lebensmittelgeschäft?« Sie stand in der offenen Tür. Eine Hand lag auf der Klinke, in der anderen klimperten ihre Autoschlüssel. »Ich will ein paar Mikrofasertücher für die Küche besorgen.« Sie schüttelte den Kopf, und in ihrer Stimme schwang leise Missbilligung mit. »Das Einzige, was man bei Edelstahl verwenden darf. Sprüh bloß keine chemischen Mittel mehr darauf!«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. Ich wollte mir gerade die Augen reiben, als mir einfiel, dass ich immer noch ihre Handschuhe trug. »Ob es in der Nähe ein Geschäft gibt, meine ich. Ich kenne mich hier nicht unbedingt aus.«

Unsere Blicke kreuzten sich, und ich schaute weg. Ich hatte ihr gesagt, dass ich nicht über das Haus sprechen wolle, darüber, warum ich hier war, wem es gehörte und warum ich es ganz schnell saubermachen musste. Ich hatte ihr gesagt, dass ich keine Erklärungen abgeben wolle. Ich bräuchte einfach Hilfe. An einem ganz normalen Tag hätte sie diese Bitte nicht respektiert. Ich bin deine Mutter, hätte sie dann gesagt. Ich muss wissen, was los ist! Aber wenigstens was den heutigen Tag betraf, war uns beiden klar, dass sie immer noch auf Bewährung war und ich, wenn ich nicht wollte, kein Wort sagen musste.

Bevor sie ging, streckte sie eine Hand aus und legte sie an meine Wange. Ihre Hand - die, die auf der Klinke gelegen hatte - fühlte sich kalt an. Ich wandte mich ab und rieb meine behandschuhten Hände über der offenen Tüte mit leeren Bechern gegeneinander. Ich konnte das leise Klirren der Glassplitter hören, als sie hineinfielen. Als es nicht mehr klirrte, zog ich die Handschuhe aus und gab sie meiner Mutter. »Danke«, sagte ich und wich ihrem Blick aus. »Du solltest sie lieber anziehen. Es ist kalt draußen.«

***

Eine halbe Stunde später kam sie mit einer Tüte voller Putzmittel, zwei Salaten mit Hähnchen in Plastikdosen und Bowzer zurück. Er schien abgenommen zu haben, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Noch vor einem Jahr hätte ich Mühe gehabt, ihn auf zwei Armen zu tragen, und jetzt hielt meine Mutter ihn problemlos auf einem. Er blinzelte hinter einer seiner grauen Fellzotteln zu mir hinauf.

Ich stellte mich in den Eingang. »Mom. Nein. Es tut mir leid, aber das geht nicht. Warum hast du ihn mitgebracht?«

Als er meine Stimme hörte, wedelte er mit seinem kurzen Stummelschwanz. Sie drückte mir die Tüte mit dem Salat in die Hand und versuchte, mich beiseitezuschieben. »Sei nicht so gemein, Veronica. Es ist zu kalt. Er kann nicht im Wagen bleiben.«

»Dann hättest du ihn zu Hause lassen sollen. Ich kann ihn hier nicht reinlassen. Was ist, wenn er pinkeln muss? Oder wenn sie allergisch sind oder so? Ich habe schon genug Dreck wegzuräumen.« Ich hielt mir Mund und Nase zu. »Mom. Er stinkt.«

Sie schaute zuerst mich und dann Bowzer an. Die Tüte mit den Putzmitteln baumelte an ihrem Handgelenk hin und her.

»Hier ist meine Bedingung«, sagte sie. »Ich lasse ihn nicht draußen. Es ist zu kalt, und es geht ihm gar nicht gut.«

Bowzer schaute mich aus geduldigen, trüben Augen an. Er wirkte nicht besonders mitgenommen. Meine Mutter hingegen atmete schwer, ihre Nasenflügel bebten. Und sie kaute Kaugummi. Das tat sie sonst nie.

»Ich lege Plastiktüten unter ihn. Aber wenn du willst, dass ich dir helfe, dann darf er auch hier rein.«

Ich trat einen kleinen Schritt zur Seite. Sie verdrehte die Augen und trug ihn ins Haus. »So, mein Süßer«, sagte sie und setzte ihn ab. Er schnupperte und machte einen zögerlichen Schritt nach vorne. Seine Krallen klapperten auf dem Dielenboden.

»Er wird pinkeln«, prophezeite ich.

»Nein, wird er nicht.«

»Oder einen Haufen machen. Und sie haben keinen Staubsauger.«

»Was? Wie kann man denn keinen Staubsauger haben?«

»Sie können. Sie haben eine Putzfrau.«

Ihr Blick wanderte zu einem Bild an der Wand, einem von Jimmys Werken. Die Konturen waren unscharf und die Farben verlaufen, aber ich hatte den Eindruck, dass man, wenn man lange genug hinschaute, einen verrottenden Schädel erkennen konnte.

»Wer sind diese Leute, Liebes?« Sie hatte mit dem Kaugummikauen aufgehört. Auf einmal wirkte sie sehr vertraut, ich erkannte ihr altes Selbst, ihre Augen waren voller Sorge um mich. »Wer sind sie, und woher kennst du sie?«

Ich bückte mich, um Bowzer an seiner Lieblingsstelle zu kraulen, der kleinen Mulde zwischen seinen Ohren. Er wandte den Kopf, schnüffelte und wedelte wieder mit dem Schwanz. »Hey, Bowz«, flüsterte ich. »Erinnerst du dich noch an mich?« Sein Halsband hing lose um seinen Hals.

»Natürlich tut er das«, sagte meine Mutter. »Dich hat er immer am liebsten gemocht. Ich bin bloß diejenige, die die Arbeit macht.« Sie zog ihren Mantel aus. Es war ein schöner Mantel, der lange, schwarze, den sie nur trug, wenn sie sich schick machte, über Röcken oder Kleidern und mit Stiefeln. Aber heute hatte sie darunter ihr Flanellnachthemd an, das sie in ihre Khakihose gestopft hatte - ohne Gürtel, dafür mit einer grauen Strickjacke, die offen stand. Ich dachte mir nicht allzu viel dabei. Sie war gekommen, um an ihrem freien Tag - und dazu an einem Sonntagmorgen - beim Saubermachen zu helfen. Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass sie sich keine besondere Mühe mit ihrer Kleidung gegeben hatte. Aber dann kam sie zu mir, um mich in die Arme zu nehmen, und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, nahm ich den scharfen, fast salzigen Geruch wahr, der von ihr ausging. Ihr Haar war ungewaschen, glänzte am Ansatz und war zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sie merkte, dass ich sie anschaute, schien es ihr peinlich zu sein.

»Macht nichts«, sagte sie schnell. »Ich habe meinen Staubsauger im Wagen.« Dann zog sie ihren Mantel wieder an. Beim Hinausgehen warf sie mir über die Schulter einen Blick zu und lächelte. »Steh nicht einfach so herum, Liebes. Ich helfe dir. Aber ich habe nicht vor, alles allein zu machen.«

Um drei hingen Haylies sämtliche Kleidungsstücke ordentlich in ihrem Schrank. Die Bettwäsche war gewaschen und getrocknet, das Bett frisch bezogen. Jede leere Bierdose, jeder Plastikbecher war aufgestöbert und in die Plastikmülltüte an der Tür befördert worden. Die Böden waren gesaugt und gewischt worden. Ich hatte das unversehrte Weinregal wieder in die Küche geschoben, wo die Arbeitsflächen streifenfrei blinkten. Es gab keinerlei Hinweise mehr auf eine Party, und in der Luft hing nicht einmal ein Hauch von Zigarettenrauch. Im ganzen Haus duftete es nach den Zitronen, die meine Mutter aufgeschnitten und in die Mikrowelle gelegt hatte. Und sie hatte recht gehabt mit dem Mürbesalz - der Blutfleck war fast vollständig verschwunden.

Sie rollte gerade ihren Staubsauger zur Tür, als sie plötzlich stehen blieb und sich räusperte.

»Sag mal, ist es okay, wenn ich dusche? Meine Sachen sind draußen im Wagen.«

Ich starrte sie an. Ich dachte, sie mache Witze. Sie hielt meinem Blick unbeeindruckt stand, den Daumen der einen Hand nach oben gestreckt, wie wenn man per Anhalter fährt.

»Du willst hier duschen?«

Sie lehnte sich an den Staubsauger, doch er rollte unter ihr weg. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Sie fing sich wieder, ohne zu lächeln. »Also, ich habe jetzt ein paar Stunden lang das Haus geputzt und dir beim Saubermachen geholfen. Ich fühle mich verschwitzt und schmutzig und würde gern duschen, bevor ich zurückfahre.« Sie brach ab und verzog missbilligend den Mund. »Falls es nicht zu viele Umstände macht.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war eine seltsame Bitte und unter diesen Umständen sogar ein bisschen unvernünftig. »Mom. In weniger als einer Stunde sind sie da.«

Sie sagte nichts und richtete den Blick auf Bowzer, der in einer Ecke des Vorzimmers lag und schlief. Meine Mutter hatte ein kleines Bett für ihn gemacht, bestehend aus Elises alter, weißer Tagesdecke mit Lochstickerei, die sie aus dem Wagen geholt und quadratisch zusammengelegt hatte, und einem leeren Plastikmüllbeutel darunter.

»Wenn sie kommen, wäre ich wirklich lieber nicht hier.« Ich schaute auf meine Uhr, dann wieder zu ihr. »Kannst du nicht einfach warten, bis du zu Hause bist?«

»Nein.« Ihre Stimme, ihr Gesichtsausdruck, alles an ihr zeigte deutlich, dass es eigentlich keine Bitte war. Sie schob den Staubsauger wieder in Richtung Haustür. »Ich hole meine Sachen. Ich brauche nur eine Viertelstunde. Mach dir keine Sorgen, du hast genug Zeit.«

***

Sie ging nicht unter die Dusche; sie nahm ein Bad! Und sie brauchte eine halbe, nicht eine Viertelstunde. Als sie endlich wieder nach unten kam, kauerte ich im Mantel, Tasche und Rucksack unter den Knien, an der Tür und las. Bowzer, der meine Nähe spürte, hatte sich neben mir auf den Rücken gerollt. Ich kraulte seine Brust und kratzte ihn mit den Fingernägeln. Er schien es sehr zu genießen. Sein Fell fühlte sich alt und verfilzt an.

»Oh.« Meine Mutter schaute auf mich hinunter und lächelte. »Jane Eyre. Eines meiner Lieblingsbücher. Eine richtige Liebesgeschichte.«

Sie sah wie ein ganz anderer Mensch aus. Sie sah sauber aus und trug hübsche Sachen, einen cremefarbenen Pulli mit einer braunen Kordhose. Es war die Art von Kleidung, die sie anzog, wenn sie ehrenamtlich im Obdachlosenasyl arbeitete - schick, aber nicht auffällig. Ihr nasses Haar war glatt zurückgekämmt, und die Spitzen fingen schon an, sich zu kräuseln.

»Bist du so weit?« Ich stand auf. »Musst du nicht noch deine Haare trocknen?«

Sie schüttelte den Kopf und schlüpfte in ihren Mantel. »Ich habe eine Mütze dabei.«

Beim Rausgehen hielt ich meiner Mutter mit einem Fuß die Tür auf. Sie hatte ihre Tasche über die Schulter geworfen und balancierte Bowzer und seine Decke in den Armen. Als sie vorbeiging, roch ich Minze und Rosmarin. Sie hatte auch Haylies Shampoo benutzt.

Wir stiegen die Stufen vor der Eingangstür hinunter. Die Reste der Party - beziehungsweise der anschließende Hausputz - hatten zwei große Müllsäcke gefüllt. Ich ging hinter meiner Mutter, in jeder Hand eine Tüte. Wir waren am Ende der Ausfahrt, als sie sich zu mir umdrehte.

»Okay, Süße. Mein Wagen steht ein ganzes Stück von hier entfernt.« Sie beugte sich mit ausgestrecktem Arm zu mir vor. »Lass dir einen Abschiedskuss geben.« Bowzer tauchte aus seinem Deckenkokon auf und versuchte, ihr übers Gesicht zu lecken.

»Kannst du mich mitnehmen?«, fragte ich.

Sie biss sich auf die Lippe und blinzelte. Mehr denn je ähnelte sie einem Kaninchen, stumm und verschreckt. Ihr Haar war vollständig unter der Mütze verborgen. »Du hast kein ...« Sie schaute die Straße hinauf und hinunter.

»Ich muss mitfahren, Mom. Ich habe kein Auto.« Ich legte den Kopf schief und starrte sie an. Meine Bitte konnte unmöglich ein Problem darstellen. Aber so, wie sie zurückstarrte, hatte ich den Eindruck, dass sie zumindest überrascht war. Vielleicht hatte sie vergessen, dass ich kein Auto hatte. Vielleicht waren die Details meines Lebens eben einfach nur Details, längst nicht so wichtig, verglichen mit dem Drama - was es auch sein mochte -, das sie bewegte und sie wie jemanden handeln ließ, den ich überhaupt nicht kannte.

»Veronica.« Sie sah aus, als wechsle sie einen nervösen Blick mit Bowzer. »Ich weiß, dass du kein Auto hast. Aber wie bist du hergekommen?«

Metaphorisch gesehen, war es eine tiefgründige Frage. Nicht metaphorisch gesehen, war sie einfach lästig. Ich stellte die Mülltüten ab und verschränkte die Arme. Bowzer winselte. Vielleicht fragte er sich, was uns aufhielt. Meine Mutter schaute ihn an und sagte nichts. Ich senkte den Kopf. Ich hatte unrecht gehabt - sie hatte unrecht gehabt. Der Vorfall bei Hardee's, das Auflegen ... das war kein Ausnahmefall gewesen. Sie hatte sich wirklich verändert. Sie war unzuverlässig, zerstreut und mit irgendetwas beschäftigt, das nichts mit mir zu tun hatte.

Ich hörte, wie auf der anderen Seite der Auffahrt eine Tür geöffnet wurde. Meine Mutter und ich bemerkten, dass wir beobachtet wurden, drehten uns um und sahen eine gebräunte, blonde Frau in einem violetten Jogginganzug. Wir lächelten. Die Frau erwiderte unser Lächeln nicht. »Nette Party«, murmelte sie. Ihr Blick fiel auf die beiden Müllbeutel, bevor sie sich umdrehte und die Tür zuknallte.

Ich schloss die Augen. »Kannst du mich bitte zum Wohnheim bringen? Oder muss ich wieder die Autobahnpolizei anrufen?«

Als ich die Augen wieder aufmachte, schaute sie mich an, als würde sie mich am liebsten in die Arme nehmen, aber sie hielt Bowzer und die Decke, und der Gurt ihrer Tasche rutschte von ihrer Schulter. Sie machte mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung nach vorne und hob eine Hand. Es war eine Aufforderung, ihr zu folgen.

Wir waren noch ein paar Meter von ihrem Van entfernt, als ich den Lampenschirm aus Tiffany-Glas entdeckte, der gegen eines der hinteren Fenster gelehnt war. Er stammte von meiner Großmutter. Die Lampe hatte in ihrem Haus in New Hampshire gestanden und später in Kansas, in ihrem Zimmer im Pflegeheim. In dem anderen Rückfenster des Wagens sah man einen Fernseher, auf dem ein Beistelltisch lag.

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Sag jetzt nichts, okay? Keine Fragen.« Sie klang müde und gereizt, als würde ich ihr wegen irgendetwas, das wir schon eine Million Mal durchgekaut hatten, zusetzen. Als sie zur Beifahrertür ging, bedeutete sie mir, ihr Bowzer abzunehmen. Ich stellte die Müllbeutel ab, nahm den Hund in den Arm und beobachtete ihr Gesicht, als sie in ihren Manteltaschen nach den Schlüsseln kramte. Der Kopf war gesenkt, der Blick von mir abgewandt. Als sie eine der hinteren Seitentüren aufsperrte, musste sie schnell die Arme ausstrecken, um zu verhindern, dass zwei Pappkartons herausfielen. Wortlos stellte sie die Kartons auf den Staubsauger, der wieder auf ein paar Decken auf dem Rücksitz lag.

Sie öffnete die Beifahrertür für mich und ging dann zur Fahrerseite hinüber. Mein Sitz war mit einer halb leeren Schachtel Wheaties-Frühstücksflocken und leeren Diätcola-Dosen übersät. Auf der Fußmatte stand Bowzers Fressnapf, daneben ein alter Joghurtbecher mit Wasser. Ich schob die Sachen mit meiner freien Hand beiseite und stieg, Bowzer immer noch auf dem Arm, ein. Sobald meine Mutter im Auto saß, winselte er und versuchte, über den Schalthebel hinweg auf ihren Schoß zu springen, aber ich hielt ihn fest. Resigniert legte er sein Kinn auf meinen Arm. »Schon gut«, tröstete ich ihn und streichelte seine Brust. Seine Fetttasche hatte er immer noch, aber davon abgesehen war er schrecklich dünn. Ich konnte seine Knochen unter dem Fell fühlen.

Ich war sechs gewesen, als mein Vater ihn in einem Plastikkorb mit nach Hause gebracht hatte, mit seinem leisen Kläffen, seinen großen Welpenpfoten und der roten Schleife um den Hals. Meine Mutter war gar nicht begeistert gewesen. Sie hatte keinen Hund gewollt. Eine Katze, hatte sie zu meinem Vater gesagt, vielleicht eine Katze, aber ein Hund sei zu viel Arbeit. Doch in dem Moment, als Bowzer mit seiner roten Schleife um den Hals aus dem Korb kroch, war sie überstimmt gewesen. Elise und ich hatten gequietscht vor Freude und waren nach draußen gelaufen, um mit ihm zu spielen. Es war ein sonniger Herbstnachmittag gewesen, und die Luft hatte nach verbranntem Laub gerochen. Mein Vater schnitzte auf der hinteren Veranda an einem Kürbis, während Elise und ich im Kreis herumliefen und uns von dem noch nicht abgerichteten Welpen jagen und nach den Fersen schnappen ließen.

Irgendwann kam meine Mutter mit einem Geschirrtuch in der Hand zur Hintertür heraus. Sie lächelte zuerst meinen Vater und dann uns an. Sie stützte ihre Ellbogen auf das Verandageländer und schaute uns lange beim Spielen zu, die Nase in die frische Herbstluft gereckt. Bald darauf schnitt sich mein Vater mit dem Schnitzmesser, und es gab ein großes Geschrei, ein blutgetränktes Geschirrtuch und eine überstürzte Fahrt in die Notaufnahme. Aber ich erinnere mich, dass sie davor, als sie auf der Veranda stand und uns allen zuschaute, glücklich ausgesehen hatte.

Wir fuhren eine Weile, ohne zu sprechen. Die Straßen waren trocken, aber meine Mutter war wie immer vorsichtig und nahm die Kurven langsam. Hinter uns hupte jemand, aber sie schien es gar nicht zu hören.

An einer Ampel blieben wir stehen. Außer Bowzers rasselndem Atem und dem Surren des Motors war kein Laut zu hören. Ich schaute meine Mutter an und grübelte. Vielleicht war sie gerade dabei, umzuziehen. Vielleicht zog sie irgendwohin und wollte nicht, dass ich es wusste - zum Beispiel zu einem Freund, irgendeinem Freund, zu jemandem, der nicht mein Vater war. Vielleicht war der schlafende Dachdecker wieder da. So ergab alles einen Sinn. An diesem Morgen hatte sie das unordentliche, gehetzte Aussehen eines Menschen gehabt, der nachts nicht in seinem eigenen Bett geschlafen hat. Es war mir egal, ob es der Dachdecker war oder ein anderer. Sie hatte die Nacht bei einem Mann verbracht, der nicht mein Vater war, und ich wollte nichts davon wissen.

Die Ampel sprang um, und wir fuhren weiter. Sie stellte das Radio an, Countrymusik. Ich langte an Bowzer vorbei und drehte das Radio aus.

»Was soll das ganze Zeug im Wagen? Ziehst du um? Ziehst du an einen Ort, den du geheim halten willst?«

»Du hast nicht über das Radio zu entscheiden.« Sie streckte eine Hand aus und schaltete es wieder an. Es lief gerade Werbung, und sie drehte weiter. Es war der Collegesender, Eminem, aber das schien sie nicht zu interessieren. »Ich fahre. Es ist mein Wagen. Ich entscheide, ob das Radio läuft oder nicht.«

Bowzer zitterte leicht. Ich schlang die Decke wieder um ihn. Die Heizung im Van funktionierte immer noch nicht.

»Ich will nur ein paar Sachen zu Goodwill bringen«, antwortete sie mir dann. »Keine große Affäre.« Sie fuhr auf den Parkplatz des Wohnheims. Vor dem Haus standen ein paar Leute herum. Ich hielt den Atem an und schaute mich nach Clyde um.

»Ich bin dabei, ein bisschen zu entrümpeln, verstehst du?« Ihre Stimme war ausdruckslos. »Mein Leben einfacher zu gestalten.«

Ich drehte mich um und begutachtete die Kartons und die Möbelstücke, die auf den Rücksitz gequetscht waren. »Du willst Omas Lampe zu Goodwill bringen?«

Ihre Zunge bewegte sich in ihrem Mund. Offensichtlich kaute sie schon wieder Kaugummi. Sie machte eine Blase und ließ sie zerplatzen. Sie war kein Typ für Kaugummi.

»Mom, das ist eine wunderschöne Lampe. Und sie hat ihr gehört. Du kannst sie nicht zu Goodwill bringen.«

Sie spielte mit den Autoschlüsseln herum. »Ich kann tun und lassen, was ich will«, sagte sie.

»Dann nehme ich sie. Bring sie nicht zu Goodwill. Ich möchte sie haben.«

»Nein.«

»Was? Warum nicht?« Bowzer wandte den Kopf, warf mir einen trüben Blick zu und wackelte mit seinen silbrigen Augenbrauen.

»Lass es einfach.« Ihre Stimme war leise, aber fest. Es war dieselbe Stimme, die sie benutzt hatte, um mir zu befehlen, einen Legostein aus dem Mund zu nehmen, als ich klein war. »Okay, Veronica? Lass es einfach gut sein.«

Sie schaute nicht in meine Richtung, sondern nach vorne. Dabei kaute sie den Kaugummi schnell und angestrengt; ihr Mund war geschlossen, an ihrer Schläfe pulsierte eine Ader.

Ich reichte ihr Bowzer. Er kuschelte sich in ihren Schoß und legte sein Kinn auf ihren linken Arm.

»Tschüss, Liebes«, verabschiedete sie sich. »Ich hab dich lieb.« Sie schaute mich nicht an. Wir hatten überhaupt nicht daran gedacht, bei einem Abfallcontainer zu halten, um den Müll loszuwerden, aber etwas an ihrem Gesicht verriet mir, dass ich das jetzt lieber nicht erwähnen sollte. Ich stieg aus, öffnete die hintere Schiebetür, nahm beide Mülltüten heraus und trug sie zum Eingang des Wohnheims. Draußen war es noch nicht dunkel, trotzdem wartete sie mit laufendem Motor, bis ich im Haus war.

Ein paar Minuten später dämmerte es mir. Als ich im Fahrstuhl stand, war mir dann immerhin schon klar, dass sie bei mir nie auf Bewährung gewesen war. Sie war meine Mutter und würde immer meine Mutter sein. Also hätte sie mich auch wegen Jimmy und seinem Haus löchern können, wenn sie denn gewollt hätte. Und das wusste sie. Sie ließ mir meine Geheimnisse nicht aus schlechtem Gewissen, Achtung oder irgendeinem anderen Grund, der etwas mit mir zu tun hatte. Vielmehr hatte sie heute einfach einen Präzedenzfall geschaffen und keinen Ärger provoziert, weil sie ihre eigenen Geheimnisse hatte.