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Bevor er aufbrach, ging er ins Bad, zog den Rasierspiegel an dem Teleskoparm nach vorn, drehte ihn auf die Schminkseite und holte die Nagelschere aus dem Kulturbeutel. Zuerst stutzte er ein paar lange, filzige Augenbrauenhaare, dann drehte er sich etwas zur Seite, sodass das Licht auf alles fiel, was ihm aus den Ohren spross, und machte ein-, zweimal schnipp. Leicht deprimiert schob er die Nase nach oben und betrachtete die Tunnelöffnungen. Nichts von übertriebener Länge, im Moment jedenfalls nicht. Er feuchtete eine Ecke des Waschlappens an, schrubbte sich hinter den Ohren, fuhr um die knorpeligen Gänge herum und stupste zum Schluss in die wächsernen Grotten. Als er sich im Spiegel betrachtete, waren seine Ohren durch das Reiben leuchtend rosa, als wäre er ein schüchterner Knabe oder ein Student, der keinen Mut hat zum Küssen.
Wie hieß dieser Belag nochmal, der den feuchten Waschlappen weiß färbte? Er sagte Ohrschorf dazu. Ärzte hatten möglicherweise einen Fachausdruck dafür. Gab es Pilzinfektionen hinter dem Ohr, ein aurikulares Pendant zu Fußpilz? Nicht sehr wahrscheinlich: Die Gegend war zu trocken. Also war Ohrschorf vielleicht ganz okay; und vielleicht hatte jeder seinen eigenen Namen dafür, sodass man keine allgemeine Bezeichnung brauchte.
Komisch, dass noch niemand einen neuen Namen für die Heckentrimmer und Baumskulpteure erfunden hatte. Erst Haarschneider, dann Friseure. Aber wann hatten sie je Männern die Haare »frisiert«? Stylisten? Hochgestochen. »Lockendreher«? Bemüht witzig. Genau wie der Ausdruck, den er neuerdings Allie gegenüber verwendete. »Ich geh mal kurz zum Glatzenstriegler«, verkündete er.
»Ähm, um drei Uhr bei Kelly.«
Ein indigoblauer Fingernagel hangelte sich durch eine Reihe mit Bleistift geschriebener Großbuchstaben. »Ja. Gregory?«
Er nickte. Als er beim ersten Mal telefonisch einen Termin ausmachte und nach dem Namen gefragt wurde, hatte er »Cartwright« geantwortet. Am anderen Ende war Schweigen, darum hatte er gesagt: »Mister Cartwright«, bevor ihm klar wurde, was es mit dem Schweigen auf sich hatte. Jetzt sah er sich verkehrt herum im Terminplan stehen: GREGGORY.
»Kelly ist in einer Minute bei dir. Geh schon mal zum Waschen.«
Nach so vielen Jahren hatte er immer noch Mühe, sich in diese Position zu begeben. Vielleicht wollte seine Wirbelsäule nicht mehr so recht. Die Augen halb geschlossen, tastete man mit dem Nacken nach dem Beckenrand. Wie Rückenschwimmen, ohne dass man wusste, wo das Bassin zu Ende war. Und dann lag man da, den Hals von kaltem Porzellan gestützt und die Kehle preisgegeben. Verkehrt herum, in Erwartung des Messers der Guillotine.
Ein dickes Mädchen mit uninteressierten Händen machte die übliche Konversation mit ihm – »Ist das zu heiß?« »Warst du im Urlaub?« »Willst du Conditioner?«
– und bemühte sich dabei halbherzig, mit der hohlen Hand das Wasser von seinen Ohren fern zu halten. Im Laufe der Zeit hatte er sich beim Glatzenstriegler eine halb belustigte Passivität angewöhnt. Als eine dieser rotgesichtigen Azubis das erste Mal fragte »Willst du Conditioner?«, hatte er »Was meinst du?« geantwortet, weil er glaubte, ihre höhere Sicht auf seinen Schädel befähige sie zu einem besseren Urteil über seine Bedürfnisse. Schiere Logik legte den Schluss nahe, wenn etwas »Conditioner« hieß, konnte es die Kondition der Haare nur verbessern; aber andererseits, was sollte die Frage, wenn die Antwort eigentlich schon feststand? Doch Bitten um Rat stifteten nur Verwirrung und hatten die vorsichtige Anwort zur Folge: »Ganz wie du willst.« Also gab er sich damit zufrieden, je nach Laune »Ja« oder »Heute nicht, danke« zu sagen. Auch je nach Fähigkeit des Mädchens, ihm kein Wasser in die Ohren laufen zu lassen.
Sie fasste ihn halb am Arm und führte ihn vorsichtig zu seinem Stuhl zurück, als wäre ein tropfender Mensch so etwas wie ein Blinder. »Magst du einen Tee, einen Kaffee?«
»Nichts, danke.«
Es gab nicht gerade Lauten- und Gambenspiel und eine Versammlung von Müßiggängern, die den neuesten Klatsch austauschten. Aber es gab ohrenbetäubend laute Musik, mehrere Getränke zur Auswahl und ein gutes Sortiment von Zeitschriften. Was wohl aus Reveille und Tit-Bits geworden war, die die alten Knacker immer lasen, damals, als er sich auf dem Gummisitz wand? Er suchte sich eine Marie Claire heraus, eine Frauenzeitschrift, mit der sich auch ein Kerl durchaus sehen lassen konnte.
»Hi, Gregory, wie geht’s?«
»Gut. Und selbst?«
»Kann nicht klagen.«
»Kelly, die neue Frisur gefällt mir.«
»Yeah. Mal was anderes.«
»Gefällt mir so. Sieht gut aus, fällt schön. Wie findest du’s?«
»Weiß noch nicht.«
»Nein, ist ein Hit.«
Sie lächelte. Er lächelte zurück. Er beherrschte das halb ernst gemeinte Kundengeplänkel. Es hatte nur etwa fünfundzwanzig Jahre gedauert, bis er den richtigen Ton raushatte.
»Und, was machen wir heute?«
Er betrachtete sie im Spiegel, ein großes Mädchen mit einem scharf geschnittenen Bob, den er eigentlich nicht mochte; er fand, damit sah ihr Gesicht zu eckig aus. Aber was wusste er schon? Seine eigene Frisur war ihm gleichgültig. Kelly war ein ruhiger Mensch und hatte schnell begriffen, dass er nicht über seinen Urlaub ausgefragt werden wollte.
Als er nicht gleich antwortete, sagte sie: »Gehen wir in die Vollen und machen genau dasselbe wie letztes Mal?«
»Gute Idee.« Dasselbe wie letztes Mal, und nächstes Mal, und übernächstes Mal wieder.
In dem Salon herrschte die fröhliche Atmosphäre einer Krankenstation für ambulante Patienten beiderlei Geschlechts, die alle nichts Ernstes hatten. Damit hatte er keine Probleme; seine sozialen Ängste waren längst überwunden. Die kleinen Errungenschaften der reiferen Jahre. »Nun, Gregory Cartwright, leg Rechenschaft ab über dein bisheriges Leben.« »Tja, ich hab keine Angst mehr vor Religion und Haarschneidern.« Er war nie den Kreuzfahrern beigetreten, wer immer die gewesen sein mochten; er war den blindwütigen Missionaren in der Schule und auf der Uni erfolgreich aus dem Weg gegangen; er wusste jetzt, was er zu tun hatte, wenn es sonntagmorgens an der Tür läutete.
»Das wird Gott sein«, sagte er dann zu Allie. »Ich mach das schon.« Und dann stand ein adrettes, höfliches Paar vor der Tür, einer von beiden oftmals schwarz, manchmal mit einem niedlichen Kind im Schlepptau, und eröffnete das Gespräch mit einem unverfänglichen Satz wie »Wir gehen gerade von Haus zu Haus und fragen die Leute, ob sie sich Sorgen machen um den Zustand der Welt.« Der Trick war, sowohl das wahrheitsgemäße Ja wie auch ein überhebliches Nein zu vermeiden, damit sie da nicht einhaken konnten. Darum lächelte er hausväterlich und kam direkt zur Sache: »Religion?« Und ehe sie nun ihrerseits entscheiden konnten, ob Ja oder Nein die richtige Reaktion auf seine brutale Intuition war, beendete er die Unterredung mit einem energischen »Vielleicht haben Sie nebenan mehr Glück.«
Im Grunde mochte er es ganz gern, sich die Haare waschen zu lassen; meistens jedenfalls. Aber der Rest war reine Routine. Der Körperkontakt, der heutzutage offenbar dazugehörte, bereitete ihm nur geringes Vergnügen. Kelly drückte wie aus Versehen ihre Hüfte an seinen Oberarm oder streifte ihn mit anderen Körperteilen, und sie war nie übermäßig korrekt angezogen. In früheren Zeiten hätte er sich eingebildet, das gelte alles nur ihm allein, und wäre dankbar gewesen für das drapierte Tuch, das seinen Schoß bedeckte. Heute lenkte es ihn nicht mehr von Marie Claire ab.
Kelly erzählte, sie habe sich für einen Job in Miami beworben. Auf den Kreuzfahrtschiffen. Man fuhr fünf Tage, eine Woche, zehn Tage raus, dann hatte man Landurlaub, damit man das eben verdiente Geld ausgeben konnte. Eine Freundin von ihr war gerade da draußen. Hörte sich gut an.
»Aufregend«, sagte er. »Wann soll’s denn losgehen?« Er dachte: In Miami herrscht doch die Gewalt, oder nicht? Schießereien. Kubaner. Laster. Lee Harvey Oswald. Ob ihr auch nichts passiert? Und was ist mit sexuellen Belästigungen auf diesen Kreuzfahrtschiffen? Sie war ein gut aussehendes Mädchen. Verzeihung, Marie Claire, ich meinte: Frau. Aber doch irgendwie ein Mädchen, weil sie bei Leuten wie ihm solche halb elterlichen Gefühle auslöste: bei Leuten, die zu Hause blieben, zur Arbeit gingen und sich die Haare schneiden ließen. Sein Leben, das musste er zugeben, war ein einziges feiges Abenteuer gewesen.
»Wie alt bist du?«
»Siebenundzwanzig«, sagte Kelly, als sei das das äußerste Ende der Jugend. Wenn sie nicht umgehend etwas unternahm, würde ihr Leben in ewigem Mittelmaß dahingehen; noch ein paar Wochen, und sie wäre genauso wie diese alte Schachtel mit Lockenwicklern auf der anderen Seite des Salons.
»Ich habe eine Tochter, die fast so alt ist wie du. Na ja, sie ist fünfundzwanzig. Ich meine, wir haben noch eine andere. Insgesamt zwei.« Irgendwie kam das nicht richtig heraus.
»Wie lange bist du denn schon verheiratet?«, fragte Kelly gewissermaßen mathematisch erstaunt.
Gregory schaute auf und sah sie im Spiegel an. »Achtundzwanzig Jahre.« Sie lächelte übermütig bei der Vorstellung, dass ein Mensch schon so wahnsinnig lange verheiratet sein konnte, wie sie selbst am Leben war.
»Die Ältere ist natürlich schon aus dem Haus«, sagte er. »Aber Jenny wohnt noch bei uns.«
»Wie schön«, sagte Kelly, aber er merkte, dass sie das jetzt langweilte. Genauer gesagt, dass er sie jetzt langweilte. Wieder so ein alternder Knacker mit schütter werdendem Haar, das er bald sorgfältiger kämmen musste. Ab nach Miami, und zwar bald.
Er hatte Angst vor Sex. Das war die Wahrheit. Er wusste nicht mehr so recht, wozu das Ganze eigentlich gut war. Wenn es sich ergab, hatte er durchaus Spaß dabei. Er stellte sich vor, dass es in Zukunft allmählich weniger werden und dann, irgendwann, ganz aufhören würde. Aber davor hatte er keine Angst. Es lag auch nicht an der einschüchternden Anschaulichkeit, mit der das Thema in den Zeitschriften behandelt wurde. Einschüchternde Anschaulichkeit hatte es in seiner Jugend auch gegeben. Alles schien so klar und gewagt, damals, als er in der Badewanne aufstand und Allie seinen Schwanz in den Mund nahm. Das war alles ganz selbstverständlich gewesen und zwingend in seiner Wahrheit. Jetzt fragte er sich, ob er sich nicht immer getäuscht hatte. Er wusste nicht, wozu Sex gut sein sollte. Er glaubte auch nicht, dass es irgendjemand anders wusste, aber das machte die Sache nicht besser. Am liebsten hätte er gebrüllt. Am liebsten hätte er in den Spiegel gebrüllt und zugeschaut, wie er selbst zurückbrüllte.
Kelly drückte ihre Hüfte an seinen Bizeps, und zwar nicht den Rand, sondern die innere Hüftbeuge. Wenigstens kannte er jetzt die Antwort auf eine der Fragen seiner Jugend: Ja, Schamhaar wird auch grau.
Um das Trinkgeld machte er sich keine Gedanken. Er hatte einen Zwanzigpfundschein. Siebzehn fürs Haareschneiden, eins für das Mädchen, das ihm die Haare gewaschen hatte, und zwei für Kelly. Und für den Fall, dass sie die Preise erhöht hatten, vergaß er nie, ein Pfund extra einzustecken. So ein Mensch war er nun mal, erkannte er. Der Mann mit der Reserve-Pfundmünze in der Tasche.
Jetzt war Kelly mit Schneiden fertig und stand direkt hinter ihm. Ihre Brüste tauchten zu beiden Seiten seines Kopfes auf. Sie nahm seine Koteletten zwischen Daumen und Zeigefinger und schaute dann weg. Das war so ein Trick von ihr. Jedes Gesicht ist ein bisschen schief, hatte sie ihm erklärt, darum kann der Augenschein täuschen. Sie verließ sich auf ihr Gefühl und drehte sich dabei zur Kasse und zur Straße hin. Richtung Miami.
Zufrieden griff sie dann nach dem Föhn und brachte mit den Fingern einen Soufflé-Effekt zustande, der bis zum Abend halten würde. Inzwischen arbeitete sie rein mechanisch und überlegte dabei vielleicht, ob sie Zeit genug hätte, um auf eine Zigarette nach draußen zu huschen, bevor ihr der nächste feuchte Kopf zugeführt wurde. Darum vergaß sie es wie jedes Mal und holte wieder den Spiegel.
Diese Dreistigkeit hatte er sich vor ein paar Jahren geleistet. Eine Revolte gegen die Tyrannei des verdammten Spiegels. Die eine Seite, die andere Seite. Über vierzig Jahre war er zum Haarschneider, zum Friseur und zum Glatzenstriegler gegangen und hatte sich immer brav gefügt, egal, ob er seinen Hinterkopf wiedererkannte oder nicht. Er hatte gelächelt und genickt, und wenn er das Spiegelbild seines Nickens in dem gekippten Glas sah, verbalisierte er es zu »Sehr nett« oder »Viel schöner so« oder »Genau richtig« oder »Danke«. Womöglich hätte er auch Zustimmung geheuchelt, wenn man ihm ein Hakenkreuz in den Nacken geschnitten hätte. Eines Tages hatte er dann gedacht: Nein, ich will die Rückseite gar nicht sehen. Wenn es vorne okay ist, ist es hinten bestimmt auch okay. Das war doch nicht anmaßend, oder? Nein, das war nur logisch. Er war ziemlich stolz auf seine Initiative. Natürlich vergaß Kelly es immer wieder, aber das machte nichts. Ja, es war sogar besser so, denn dadurch konnte er seinen schüchternen Sieg jedes Mal wiederholen. Als sie ihm jetzt mit dem baumelnden Spiegel entgegenkam, in Gedanken schon in Miami, hob er die Hand, lächelte nachsichtig wie gewohnt und sagte:
»Nein.«