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Die wirkliche Reise
Also hatte er sich in sein eigenes Geschöpf verliebt? Werotschka auf der Bühne im Scheinwerferlicht, Werotschka hinter der Bühne im Schein der Gaslampe, seine Werotschka, nun umso höher geschätzt, als er sie dreißig Jahre zuvor in seinem eigenen Text übersehen hatte? Wenn die Liebe, wie manche behaupten, sich allein auf sich selbst bezieht, wenn der Gegenstand der Liebe im Grunde unwesentlich ist, da für Liebende an erster Stelle die eigenen Gefühle stehen – was könnte da näher liegen als der Zirkelschluss, dass ein Dramatiker sich in sein eigenes Geschöpf verliebt? Wozu muss sich ein wirklicher Mensch dazwischenschieben, eine wirkliche Sie im Sonnenschein, im Lampenschein, im Schein des Herzens? Es gibt ein Foto von Werotschka, wie für das Schulzimmer gekleidet: schüchtern und lieb, mit brennendem Blick und vertrauensvoll geöffneter Hand.
Doch falls hier etwas verwechselt wurde, hat sie dazu angestiftet. Jahre später schrieb sie in ihren Memoiren: »Ich spielte die Werotschka nicht, ich hielt einen Gottesdienst ab … Ich stellte mir zur Gänze vor, dass Werotschka und ich eine Person seien.« Wir sollten daher Nachsicht üben, wenn ihn anfangs die »lebende Werotschka« rührte; vielleicht war auch sie anfangs von etwas gerührt, das es gar nicht gab – von dem Autor der Stücks, nun selbst längst entschwunden, dreißig Jahre weit weg. Und wir sollten zudem bedenken, dass er wusste, dies würde seine letzte Liebe sein. Er war nun ein alter Mann. Auf Schritt und Tritt erntete er Beifall als eine Institution, als Repräsentant einer Ära, als jemand, dessen Arbeit getan war. Im Ausland wurde er mit Roben und Ehrenzeichen behängt. Er war sechzig und damit alt, weil es so war und weil er es so wollte. Ein, zwei Jahre zuvor hatte er geschrieben: »Ab dem Alter von vierzig Jahren lässt sich das Grundprinzip des Lebens mit einem einzigen Begriff zusammenfassen: Entsagung.« Nun war er noch einmal um die Hälfte älter. Er war sechzig, sie fünfundzwanzig.
In Briefen küsste er ihr die Hände, die Füße. Zu ihrem Geburtstag schickte er ihr ein goldenes Armband, in das ihre beiden Namen eingraviert waren. »Ich fühle jetzt«, schrieb er, »dass ich Sie aufrichtig liebe. Ich fühle, dass Sie ein Teil meines Lebens geworden sind, von dem ich mich nie trennen werde.« Das sind recht konventionelle Floskeln. Waren sie ein Liebespaar? Allem Anschein nach nicht. Für ihn war es eine Liebe, die auf Entsagung beruhte, die sich am »Ja, wenn« und »Was wäre gewesen« erregte.
Doch jede Liebe braucht eine Reise. Jede Liebe ist eine symbolische Reise, und diese Reise muss Gestalt annehmen. Ihre Reise fand am 28. Mai 1880 statt. Er weilte auf seinem Landgut; er drängte sie, ihn dort zu besuchen. Sie konnte nicht: Sie war Schauspielerin, sie musste arbeiten, sie war auf Tournee; selbst sie musste Entsagung üben. Doch sie würde von Petersburg nach Odessa reisen; sie könnte über Mzensk und Orjol fahren. Er konsultierte den Fahrplan für sie. Von Moskau gab es drei Züge auf der Kursker Strecke, um 12 Uhr 30, um 16 Uhr und um 20 Uhr 30: den Express, den Postzug und den Bummelzug. Ankunft in Mzensk entweder 10 Uhr abends, 4 Uhr 30 oder 9 Uhr 45 morgens. Eine Romanze erforderte auch praktische Überlegungen. Sollte die Angebetete mit der Post eintreffen oder müde und übernächtigt mit dem Bummelzug? Er riet dringend zu dem Zug um 12 Uhr 30 und präzisierte die Ankunft auf 9 Uhr 55 abends.
Diese Genauigkeit hat auch eine ironische Seite. Er selbst war notorisch unpünktlich. Eine Zeit lang gefiel er sich darin, ein ganzes Dutzend Uhren mit sich herumzutragen, und kam doch mit stundenlanger Verspätung zu seinen Verabredungen. Am 28. Mai aber stand er, bebend wie ein Jüngling, pünktlich um 9 Uhr 55 abends auf dem kleinen Bahnhof von Mzensk. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Er stieg in den Zug. Von Mzensk waren es dreißig Meilen nach Orjol.
Diese dreißig Meilen lang saß er in ihrem Abteil. Er sah sie an, er küsste ihr die Hände, er atmete dieselbe Luft wie sie. Sie auf den Mund zu küssen, wagte er nicht: Entsagung. Oder er wollte sie auf den Mund küssen, und sie wandte sich ab: Verlegenheit, Demütigung. Und so banal, in seinem Alter. Oder er küsste sie, und sie küsste ihn mit gleicher Inbrunst zurück: Erstaunen und aufwallende Furcht. Wir wissen es nicht – sein Tagebuch wurde später verbrannt, ihre Briefe sind nicht erhalten. Uns liegen nur seine späteren Briefe vor, deren Verlässlichkeit sich daran messen lässt, dass diese Mai-Reise darin auf den Juni datiert wird. Wir wissen, dass sie eine Reisegefährtin hatte, Raissa Alexejewna. Was machte die in der Zeit? Stellte sie sich schlafend, tat sie, als könnte sie plötzlich in die im Dunkeln liegende Landschaft sehen, verschanzte sie sich hinter einem Band Tolstoi? Dreißig Meilen vergingen. Er stieg in Orjol aus. Sie saß am Fenster und winkte ihm mit dem Taschentuch nach, während der Express sie weiter nach Odessa trug.
Nein, selbst dieses Taschentuch ist erfunden. Aber das Wesentliche ist, sie haben ihre Reise gemacht. Nun konnte sie erinnert, verbessert, in die Verkörperung, die Greifbarkeit des »Ja, wenn« überführt werden. Bis an sein Lebensende beschwor er diese Fahrt immer wieder herauf. In gewissem Sinne war es seine letzte Reise, die letzte Reise des Herzens. »Mein Leben liegt hinter mir«, schrieb er, »und jene Stunde in dem Eisenbahnabteil, als ich mich beinahe als zwanzigjähriger Jüngling fühlte, war das letzte Aufflackern der Flamme.«
Will er damit sagen, er hätte fast eine Erektion gehabt? Unser aufgeklärtes Zeitalter tadelt seinen Vorgänger für dessen Gemeinplätze und Ausweichmanöver, für die Funken und Flammen, das Feuer, das Zündeln im Ungefähren. Die Liebe ist doch kein Freudenfeuer, Herrgott nochmal, sondern ein steifer Schwanz und eine feuchte Möse, knurren wir diese schmachtenden, entsagenden Leute an. Na los doch! Warum habt ihr denn nicht? Ihr Volk von Bangschwänzen und verriegelten Mösen! Die Hand geküsst! Sieht doch jeder, was du in Wirklichkeit küssen wolltest. Warum auch nicht? Und dann noch in einem fahrenden Zug. Da hättest du nur die Zunge an die richtige Stelle halten müssen, den Rest hätte der schaukelnde Zug für dich erledigt. Klack-klack-klack, klackklack-klack!
Hat Ihnen schon mal jemand die Hände geküsst? Und wenn ja – woran haben Sie gemerkt, ob er das auch konnte? (Noch schöner, hat Ihnen schon mal jemand davon geschrieben, wie er Ihnen die Hände küsst?) Überlegen wir mal, was für die Welt der Entsagung spricht. Wenn wir mehr vom Vollziehen verstehen, so verstanden sie mehr vom Begehren. Wenn wir mehr vom Vögeln verstehen, so verstanden sie mehr von der Verzweiflung. Wenn wir mehr vom Prahlen verstehen, so verstanden sie mehr vom Erinnern. Sie hatten Fußküsse, wir haben Zehenlutschen. Ist Ihnen unsere Seite der Gleichung immer noch lieber? Sie mögen durchaus Recht haben. Versuchen wir, es einfacher auszudrücken: Wenn wir mehr von Sex verstehen, so verstanden sie mehr von der Liebe.
Aber vielleicht ist das alles völlig falsch, vielleicht missverstehen wir die Schattierungen vornehmer Lebensart als Realismus. Womöglich bedeutete Füßeküssen immer Zehenlutschen. Er schrieb ihr auch: »Ich küsse Ihnen die Händchen, die Füßchen, ich küsse alles, was Sie mir zu küssen erlauben, und selbst das, was Sie mir nicht erlauben.« Ist das nicht deutlich genug, sowohl für den Verfasser als auch für die Empfängerin? Und wenn ja, dann stimmt vielleicht auch der Umkehrschluss: dass Herzensergüsse damals ebenso derb waren wie heute.
Doch während wir über diese feinsinnigen Fummler einer vergangenen Ära spotten, sollten wir uns zugleich auf das Hohngelächter eines späteren Jahrhunderts gefasst machen. Wie kommt es, dass wir daran nie denken? Wir glauben an die Evolution, jedenfalls in dem Sinn, dass wir selbst uns als Gipfel der Evolution betrachten. Solipsistisch, wie wir sind, vergessen wir, dass die Evolution folgerichtig auch nach uns weitergeht. Die alten Russen verstanden es gut, sich eine bessere Zeit zu erträumen, und wir nehmen ihre Träume wie selbstverständlich als Beifall für uns auf.
Sie fuhr also weiter nach Odessa, während er die Nacht in einem Hotel in Orjol verbrachte. Eine zwiespältige Nacht – herrlich, da er nur an die Geliebte dachte, elend, weil er deshalb nicht schlafen konnte. Nun gab er sich der Wollust des Entsagens hin. »Meine Lippen murmeln: ›Was für eine Nacht hätten wir miteinander verbracht!‹« Worauf unser praktisch veranlagtes und leicht reizbares Jahrhundert antwortet: »Dann steig doch noch einmal in den Zug! Versuch, sie dort zu küssen, wo du sie noch nicht geküsst hast!«
So etwas wäre viel zu gefährlich. Er muss die Unmöglichkeit der Liebe aufrechterhalten. Daher entwirft er für sie ein extravagantes »Ja, wenn«. Er gesteht, als der Zug sich in Bewegung setzte, habe ihn ein jäher »Wahn« verlockt, sie zu entführen. Typisch für ihn, entsagte er dieser Versuchung: »Die Glocke läutete, und ciao, wie die Italiener sagen.« Aber die Schlagzeilen in den Zeitungen, falls er seinen flüchtigen Plan ausgeführt hätte, muss er sich doch vorstellen. »SKANDAL AUF DEM BAHNHOF ORJOL«, malt er sich in einem Brief an sie entzückt aus. Ja, wenn. »Hier ereignete sich gestern ein unerhörter Vorfall: Der Schriftsteller T…, ein älterer Mann, begleitete die berühmte Schauspielerin S… auf ihrer Reise nach Odessa zu einer glanzvollen Spielzeit am dortigen Theater. Der Zug fuhr bereits an, da zog T…, wie vom Teufel besessen, Madame S… aus dem Fenster ihres Abteils. Obgleich sich diese verzweifelt wehrte, etc. etc.« Ja, wenn. Das tatsächliche Geschehen – das Taschentuch, das womöglich am Fenster geschwenkt wurde, das Gaslicht des Bahnhofs, das wahrscheinlich auf den ergrauten Schopf des alten Mannes fiel – wird in eine Farce und ein Melodram, in Zeitungsjargon und »Wahn« umgedichtet. Das Verlockend-Hypothetische weist nicht in die Zukunft, es ist sicher in der Vergangenheit verstaut. Die Glocke läutete, und ciao, wie die Italiener sagen.
Er hatte noch eine andere Taktik: Das Vorauseilen in die Zukunft, um die Unmöglichkeit der Liebe in der Gegenwart zu beweisen. Bereits jetzt, und ohne dass »etwas« geschehen wäre, schaut er zurück auf das, was hätte geschehen können. »Wenn wir uns in zwei oder drei Jahren wiedersehen, bin ich ein alter, alter Mann. Und Sie, Sie haben endgültig Ihren vorgezeichneten Lebensweg eingeschlagen, und von unserer Vergangenheit ist nichts geblieben …« Zwei Jahre, dachte er, würden aus einem alten einen alten, alten Mann machen; und auf sie wartete der »vorgezeichnete Lebensweg« schon in der banalen, doch im rechten Moment aufgetauchten Gestalt eines Husarenoffiziers, der hinter den Kulissen mit den Sporen klirrte und schnaubte wie ein Pferd. N. N. Wsewoloschski. Die pompöse Uniform kam dem hageren, gebeugten Zivilisten sehr gelegen.
Wir sollten uns nun nicht mehr Werotschka vorstellen, die naive, unglückliche Pflegetochter. Die Schauspielerin, die sie verkörperte, war robust, launisch, eine Künstlernatur. Sie war bereits verheiratet und suchte die Scheidung, damit sie ihren Husaren kriegen konnte; insgesamt sollte sie dreimal heiraten. Ihre Briefe sind nicht erhalten. Hat sie ihm etwas vorgemacht? War sie ein bisschen verliebt in ihn? War sie vielleicht mehr als ein bisschen verliebt in ihn, doch abgeschreckt von seiner Erwartung des Scheiterns, seinem wollüstigen Entsagen? Fühlte sie sich womöglich ebenso in seiner Vergangenheit gefangen wie er selbst? Wenn Liebe für ihn immer gleichbedeutend war mit Niederlage, warum sollte es bei ihr anders sein? Wer einen Fußfetischisten heiratet, darf sich nicht wundern, wenn der es sich im Schuhschränkchen gemütlich macht.
Wenn er diese Reise in Briefen an sie heraufbeschwor, machte er dunkle Anspielungen auf das Wort »Riegel«. Meinte er das Schloss an ihrem Eisenbahnabteil, vor ihren Lippen, ihrem Herzen? Oder vor seinem Leib? »Wissen Sie, worin die Qualen des Tantalus bestanden?«, schrieb er. Die Qualen des Tantalus bestanden darin, dass er in der Unterwelt ewigen Durst leiden musste. Er stand bis zum Hals im Wasser, doch wann immer er den Kopf neigte und trinken wollte, wichen die Fluten vor ihm zurück. Sollen wir daraus schließen, dass er sie küssen wollte, doch wann immer er einen Vorstoß wagte, wich sie ihm aus und entzog ihm ihren feuchten Mund?
Andererseits schreibt er ein Jahr später, als bereits alles verlässlich stilisiert ist: »Am Ende Ihres Briefes sagen Sie: ›Ich küsse Sie herzlich.‹ Wie? Meinen Sie wie damals, in jener Juninacht, im Eisenbahnabteil? Diese Küsse werde ich nie vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt werde.« Aus Mai wurde Juni, aus dem schüchternen Verehrer wurde der Empfänger von Myriaden Küssen, der Riegel wurde ein wenig zurückgezogen. Welche Version ist die Wahrheit? Wir heute hätten es damals gern schön geordnet gehabt, doch es ist selten schön geordnet – egal, ob das Herz Sex ins Spiel bringt oder Sex das Herz.