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Sie trafen sich jeden ersten Dienstag im Monat hier im Frühstückszimmer des Harborview zwischen eiligen Geschäftsleuten und trödelnden Urlaubern. Egal, was passiert, sagten sie. Da kann kommen, was will. Dann kam allerdings Janices Hüftoperation und Merrills unbesonnene Mexikoreise mit ihrer Tochter. Aber davon abgesehen, hielten sie ihre Verabredung seit drei Jahren regelmäßig ein.

»Ich hätte jetzt gern meinen Tee«, sagte Janice.

»English Breakfast, Orange Pekoe, Earl Grey?«

»English Breakfast.« Sie sagte das mit einer nervösen Schärfe, die den Kellner bewog, von seiner Musterung des Tischs aufzuschauen. Ein unbestimmtes Nicken war das Äußerste, was er an Entschuldigung zustande brachte.

»Kommt sofort«, sagte er und eilte bereits davon.

»Meinst du, der ist vom anderen Ufer?« Aus einem ihr selbst nicht klaren Grund hatte Janice absichtlich keinen modernen Ausdruck verwendet, was aber die Wirkung eher noch verschärfte.

»Mir ist das völlig einerlei«, sagte Merrill.

»Mir ist das auch völlig einerlei«, sagte Janice. »Zumal in meinem Alter. Als Kellner eignen die sich jedenfalls sehr gut.« Das war irgendwie auch nicht richtig, darum fügte sie hinzu: »Hat Bill immer gesagt.« Bill hatte überhaupt nichts dergleichen gesagt, soweit sie sich erinnerte, doch seine postume Rückendeckung kam ihr gelegen, wenn sie sich verrannt hatte.

Sie sah zu Merrill hinüber, die eine burgunderrote Jacke zu einem purpurroten Rock trug. Am Revers steckte eine vergoldete Brosche, so groß wie eine kleine Skulptur. Ihr kurz geschnittenes Haar war von einem unnatürlichen, leuchtenden Strohgelb, das sich gar keine Mühe gab, überzeugend zu wirken; es besagte lediglich: Vergesst nicht, dass ich früher mal blond war – annähernd blond jedenfalls. Eher eine Gedächtnisstütze als eine Haarfarbe, dachte Janice. Es war ein Jammer mit Merrill: Sie schien nicht zu begreifen, dass Frauen ab einem gewissen Alter nicht mehr so tun sollten, als wären sie noch wie früher. Sie sollten sich dem Ablauf der Zeit beugen. Das verlangte Neutralität, Diskretion, Würde. Merrills Weigerung musste etwas damit zu tun haben, dass sie Amerikanerin war.

Was sie beide gemeinsam hatten, waren – neben ihrer Witwenschaft – die flachen Wildlederschuhe mit besonders griffigen Sohlen. Janice hatte sie in einem Versandhauskatalog entdeckt, und zu ihrer Überraschung hatte Merrill ebenfalls ein Paar haben wollen. Sie waren äußerst praktisch auf feuchtem Straßenpflaster, und hier im pazifischen Nordwesten regnete es furchtbar viel. Die Leute sagten ständig, das müsse sie doch an England erinnern, und sie sagte immer ja, meinte aber immer nein.

»Ich meine, er war nicht dafür, dass sie zum Militär zugelassen werden, aber er hatte keine Vorurteile.«

Als Antwort stach Merrill auf ihr Ei ein. »Als ich jung war, gingen alle sehr viel diskreter mit ihren Privatangelegenheiten um.«

»Ich auch«, sagte Janice hastig. »Ich meine, als ich auch jung war. Das müsste etwa zur selben Zeit gewesen sein.« Merrill warf ihr einen Blick zu, und da Janice darin einen Vorwurf las, fügte sie hinzu: »Aber natürlich in einem anderen Teil der Welt.«

»Tom hat immer gesagt, man erkennt sie an ihrem Gang. Nicht, dass es mir etwas ausmacht.« Es schien Merrill aber doch ein wenig auszumachen.

»Wie gehen sie denn?« Bei der Frage fühlte sich Janice in ihre Jugend zurückversetzt, in die Zeit vor ihrer Ehe.

»Ach, du weißt schon«, sagte Merrill.

Janice sah zu, wie Merrill einen Happen von ihrem pochierten Ei aß. Falls das eine Andeutung gewesen sein sollte, dann hatte sie die nicht verstanden. Sie hatte nicht darauf geachtet, wie der Kellner ging. »Nein, weiß ich nicht«, sagte sie, wobei sie ihre Unwissenheit als sträflich, fast schon infantil empfand.

»Die wackeln so mit den Händen«, wollte Merrill sagen. Stattdessen drehte sie, ganz gegen ihre Art, den Kopf und rief »Kaffee«, was Janice ebenso überraschte wie den Kellner. Vielleicht wollte sie, dass er es ihnen vorführte.

Als Merrill sich umwandte, hatte sie ihre Gelassenheit wieder gefunden. »Tom war in Korea«, sagte sie. »Eichenlaub am Bande.«

»Mein Bill hat seinen Wehrdienst abgeleistet. Nun ja, damals mussten das alle.«

»Es war so kalt, dass sich der Tee in einen Becher braunes Eis verwandelte, wenn man ihn auf die Erde stellte.«

»Suez hat er verpasst. Er war bei der Reserve, aber sie haben ihn nicht eingezogen.«

»Es war so kalt, dass man sein Rasierzeug aus dem Behälter nehmen und in warmes Wasser stecken musste, bevor man es benutzen konnte.«

»Er hat sich da recht wohl gefühlt. Er fand immer leicht Anschluss, mein Bill.«

»Es war so kalt, dass sich die Haut ablöste, wenn man die Hand auf einen Panzer legte.«

»Wahrscheinlich leichter als ich, um ehrlich zu sein.«

»Sogar das Benzin ist eingefroren. Das Benzin.«

»Wir hatten einen sehr kalten Winter bei uns in England. Gleich nach dem Krieg. Sechsundvierzig, glaube ich, oder vielleicht auch siebenundvierzig.«

Merrill wurde plötzlich ungehalten. Was hatte das, was ihr Tom durchgemacht hatte, mit einer Kälteperiode in Europa zu tun? Also wirklich. »Wie ist dein Granola?«, fragte sie.

»Schwer zu kauen. Ich hab so einen blöden Backenzahn.« Janice klaubte eine Haselnuss aus dem Schälchen und schob sie beiseite. »Sieht ein bisschen aus wie ein Zahn, nicht?« Sie kicherte auf eine Art, die Merrill noch mehr aufbrachte. »Was hältst du von diesen Implantaten?«

»Tom hatte noch alle Zähne im Mund, als er starb.«

»Bill auch.« Das entsprach ganz und gar nicht der Wahrheit, aber es wäre ihr wie Verrat vorgekommen, etwas anderes zu behaupten.

»Sie konnten keine Schaufel in die Erde kriegen, um ihre Toten zu begraben.«

»Wer?« Unter Merrills starrem Blick kam Janice dann doch darauf. »Ach ja, natürlich.« Sie merkte, wie sie in Panik geriet. »Nun, in gewisser Hinsicht war das wohl auch egal.«

»In welcher Hinsicht?«

»Ach, nichts.«

»In welcher Hinsicht?« Merrill sagte – sich selbst wie auch anderen – gern, sie halte zwar nichts von Streit und Unannehmlichkeiten, aber sie halte sehr wohl etwas davon, klare Verhältnisse zu schaffen.

»In … also, die … Leute, die sie da begraben wollten … wenn es so kalt war … du weißt schon, was ich meine.«

Merrill wusste es, wollte aber nicht so schnell nachgeben. »Ein wahrer Soldat begräbt immer seine Toten. Das solltest du doch wissen.«

»Ja«, sagte Janice und dachte an Der schmale Grat, mochte aber nicht wieder davon anfangen. Komisch, dass Merrill sich großspurig als Kriegerwitwe aufspielen wollte. Janice wusste, dass Tom seinen Wehrdienst abgeleistet hatte. Janice wusste auch noch anderes über Tom. Was man auf dem Campus über ihn geredet hatte. Was sie mit eigenen Augen gesehen hatte.

»Ich habe deinen Mann natürlich nie kennen gelernt, aber alle hatten eine so hohe Meinung von ihm.«

»Tom war wunderbar«, sagte Merrill. »Er war der Mann meines Lebens.«

»Er war sehr beliebt, hieß es von allen Seiten.«

»Beliebt?«, wiederholte Merrill, als sei das Wort in diesem Fall seltsam unangemessen.

»So hieß es allgemein.«

»Man muss den Blick in die Zukunft richten«, sagte Merrill. »Man muss ihr ins Auge sehen. Etwas anderes gibt es nicht.« Das hatte Tom zu ihr gesagt, als er starb.

Besser der Zukunft ins Auge sehen als der Vergangenheit, dachte Janice. Ob Merrill wirklich keine Ahnung hatte? Janice erinnerte sich an einen zufälligen Ausblick aus einem Badezimmerfenster, unten hinter einer Hecke ein rotgesichtiger Mann, der sich den Reißverschluss aufzog, eine Frau, die die Hand ausstreckte, der Mann drängte sich an ihren Kopf, die Frau wehrte ab, ein pantomimischer Streit, während unter ihr der Partylärm dröhnte, der Mann legte der Frau die Hand in den Nacken, drückte sie nach unten, die Frau spuckte dem Mann auf sein Ding, der Mann schlug auf ihren Kopf ein, alles in etwa zwanzig Sekunden, ein Kabinettstück von Begierde und Wut, das Paar ging auseinander, der Kriegsheld und Mann des Lebens und berühmte Campus-Fummler zog seinen Reißverschluss wieder zu, jemand rüttelte an der Türklinke zum Badezimmer, Janice fand den Weg nach unten und bat Bill, sie umgehend nach Hause zu bringen, Bill machte eine Bemerkung über ihre Gesichtsfarbe und stellte Vermutungen an, sie müsse wohl noch ein, zwei Gläser hinter seinem Rücken getrunken haben, Janice schrie ihn im Auto an und entschuldigte sich dann. Im Laufe der Zeit hatte sie diese Szene gewaltsam verdrängt, hatte sie im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses versteckt, fast so, als ginge es dabei in gewisser Weise um Bill und sie selbst. Dann, als Bill tot war und sie Merrill kennen lernte, gab es noch einen Grund mehr, die Szene vergessen zu wollen.

»Die Leute meinten, ich würde nie darüber hinwegkommen.« Merrills ganzes Verhalten erschien Janice ungeheuer selbstgefällig. »Das ist die Wahrheit. Ich werde tatsächlich nie darüber hinwegkommen. Er war der Mann meines Lebens.«

Janice strich Butter auf ein Stück Toast. Wenigstens wurde einem hier der Toast nicht schon gebuttert serviert wie in manchen anderen Lokalen. Das war noch so eine amerikanische Sitte, an die sie sich nicht gewöhnen konnte. Sie wollte den Deckel von einem kleinen Honigtöpfchen abschrauben, doch ihr Handgelenk war zu schwach dazu. Dann versuchte sie es mit dem Brombeergelee, mit ebenso wenig Erfolg. Merrill schien nichts zu merken. Janice schob sich ein Dreieck von Toast ohne Aufstrich in den Mund.

»Bill hat in dreißig Jahren nie eine andere Frau angeschaut.« Aggressionen waren Janice hochgekommen wie ein Rülpser. Sie stimmte anderen Leuten bei einem Gespräch lieber zu, sie wollte gern gefällig sein, aber manchmal fühlte sie sich so unter Druck, dass sie Sachen sagte, über die sie selbst staunte. Nicht über die Sachen an sich, sondern dass sie sie aussprach. Und als Merrill nicht reagierte, musste sie hartnäckig bleiben.

»Bill hat in dreißig Jahren nie eine andere Frau angeschaut.«

»Du hast sicher Recht, meine Liebe.«

»Als er starb, war ich untröstlich. Absolut untröstlich. Ich dachte, mein Leben sei vorbei. War es ja auch. Ich versuche, mich nicht zu bemitleiden, ich sorge dafür, dass ich Unterhaltung habe, nein, wahrscheinlich ist Ablenkung der bessere Ausdruck, aber im Grunde weiß ich, dass das mein Schicksal ist. Ich habe mein Leben gelebt, und jetzt habe ich es begraben.«

»Tom hat immer gesagt, wenn er mich nur am anderen Ende eines Zimmers sieht, macht sein Herz einen freudigen Sprung.«

»Bill hat unseren Hochzeitstag nie vergessen. Dreißig Jahre. Kein einziges Mal.«

»Tom hat sich so etwas wunderbar Romantisches ausgedacht. Wir sind übers Wochenende verreist, in die Berge hoch, und er hat uns im Hotel unter falschem Namen angemeldet. Wir waren dann Tom und Merrill Humphreys oder Tom und Merrill Carpenter oder Tom und Merrill Delivio, und das haben wir das ganze Wochenende lang durchgehalten, und bei der Abreise hat er bar bezahlt. Das machte alles so … aufregend.«

»Einmal hat Bill so getan, als hätte er ihn vergessen. Keine Blumen am Morgen, und er sagte, er müsse Überstunden machen und werde im Büro einen Happen essen. Ich hab versucht, nicht daran zu denken, aber ein bisschen traurig war ich doch, und am Nachmittag kam dann plötzlich der Anruf von dem Chauffeur-Service, die wollten noch einmal bestätigen, dass sie mich um halb acht abholen und zum French House bringen würden. Kannst du dir das vorstellen? Er hatte es sogar so arrangiert, dass sie mir ein paar Stunden vorher Bescheid sagten. Und er hatte seinen besten Anzug mit ins Büro geschmuggelt, ohne dass ich es merkte, damit er sich dort umziehen konnte. Was für ein Abend. Ah.«

»Ich hab mir immer besondere Mühe gegeben, bevor ich ins Krankenhaus ging. Ich hab mir gesagt, Merrill, auch wenn du dir noch so Leid tust, du musst dafür sorgen, dass du für ihn nach etwas aussiehst, für das es sich zu leben lohnt. Ich hab mir sogar etwas Neues zum Anziehen gekauft. Dann hat er gesagt: ›Liebling, das hab ich noch gar nicht an dir gesehen, oder?‹ und hat mich angelächelt.«

Janice nickte, stellte sich die Szene aber anders vor: Der Campus-Fummler sieht auf dem Sterbebett, wie seine Frau Geld für neue Kleider ausgibt, um seinem Nachfolger zu gefallen. Sie schämte sich umgehend für diesen Gedanken und sprach eilig weiter. »Bill hat gesagt, wenn es eine Möglichkeit gibt, mir eine Botschaft zu schicken – hinterher –, dann findet er sie. Irgendwie würde er mich schon erreichen.«

»Die Ärzte sagten, sie hätten noch nie erlebt, dass einer so lange durchhält. So ein tapferer Mann, sagten sie. Ich sagte, Eichenlaub am Bande.«

»Aber ich glaube, auch wenn er versuchen sollte, mir eine Botschaft zu schicken, kann ich sie vielleicht gar nicht erkennen. Damit tröste ich mich. Obwohl es ein unerträglicher Gedanke ist, dass Bill mich erreichen will und sieht, dass ich ihn nicht verstehe.«

Gleich fängt sie wieder mit diesem Reinkarnationsquatsch an, dachte Merrill. Dass wir alle als Eichhörnchen wieder geboren werden. Hör mal, mein Kind, dein Mann ist nicht nur tot, sondern als er noch am Leben war, da hat er beim Gehen mit den Händen gewackelt, verstehst du, was ich meine? Nein, das würde sie wahrscheinlich nicht kapieren. Dein Mann hieß auf dem Campus nur die kleine englische Schwuchtel aus der Verwaltung – ist das deutlicher? Er war ein Teekännchen, okay? Nicht, dass sie das Janice je wirklich erzählen würde. Viel zu sensibel. Sie wäre am Boden zerstört.

Es war seltsam. Dieses Wissen gab Merrill ein Gefühl der Überlegenheit, nicht aber der Macht. Sie dachte nur, jemand muss sich um sie kümmern, da ihr Mann, diese kleine Schwuchtel, nun nicht mehr ist, und offenbar hast du dich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet, Merrill. Auch wenn die Kleine dich ab und zu auf die Palme bringt, Tom hätte sicher gewollt, dass du ihr beistehst.

»Noch Kaffee, die Damen?«

»Ich hätte gern frischen Tee, bitte.«

Janice war darauf gefasst, dass der Kellner ihr zum wiederholten Mal die Auswahl von English Breakfast, Orange Pekoe und Earl Grey anbieten würde. Doch er räumte nur das winzige Ein-Tassen-Kännchen ab, von dem die Amerikaner aus mysteriösen Gründen meinten, es reiche für den Morgentee aus.

»Was macht deine Hüfte?«, fragte Merrill.

»Ach, die ist viel besser geworden. Ich bin so froh, dass ich das hab machen lassen.«

Als der Kellner zurückkam, warf Janice einen Blick auf die Kanne und sagte scharf: »Ich wollte frischen Tee.«

»Verzeihung?«

»Ich sagte, ich wollte frischen Tee. Ich hab nicht bloß neues heißes Wasser bestellt.«

»Verzeihung?«

»Das da«, sagte Janice und deutete auf die Kanne, aus der ein gelbes Etikett heraushing, »ist doch dasselbe alte Teekännchen von vorhin.« Sie funkelte den hochnäsigen jungen Mann zornig an. Sie war wirklich böse.

Hinterher fragte sie sich, warum er so eingeschnappt war und warum Merrill plötzlich in irrsinniges Gelächter ausbrach, ihren Kaffeebecher erhob und sagte: »Auf dein Wohl, meine Liebe.«

Janice hob ihre leere Tasse, und sie prosteten sich mit einem dumpfen, nicht nachklingenden Klacken zu.