HYGIENE

»Okay, alles klar zum Gefecht.« Sein Seesack war zwischen den Sitzen verstaut, sein Regenmantel neben ihm zusammengefaltet. Fahrkarte, Brieftasche, Waschzeug, Kondome, Auftragsliste. Zum Kuckuck mit der Auftragsliste. Als der Zug abfuhr, blickte er stur geradeaus. Mit solchen Rührseligkeiten durfte man ihm nicht kommen: Fenster runter, Taschentuch raus, Tränen verdrücken. Die Fenster gingen heutzutage sowieso nicht mehr runter, jetzt hockte man zwischen anderen alten Trotteln mit Billigticket in diesen Viehwaggons und glotzte durch hermetisch verschlossenes Glas nach draußen. Und Pamela wäre auch gar nicht da, falls er doch gucken sollte. Sie war draußen auf dem Parkplatz und ruinierte die Felgen an der Betonschwelle, während sie versuchte, den Astra näher an den Parkscheinautomaten ranzufahren. Sie beklagte sich ständig, diese Sperren würden von Männern entworfen, die nicht bedachten, dass Frauen kürzere Arme haben als Männer. Er sagte, das ist keine Entschuldigung dafür, sich mit dem Bordstein anzulegen, wenn du nicht rankommst, musst du eben aussteigen, Frau. Jedenfalls war sie jetzt da auf dem Parkplatz und quälte als ihren persönlichen Beitrag zum Kampf der Geschlechter einen Autoreifen. Und sie war jetzt schon dort, weil sie nicht erleben wollte, wie er sie vom Zug aus nicht anschaute. Und er schaute sie vom Zug aus nicht an, weil sie im allerletzten Moment immer noch einen Extraposten auf die verfluchte Auftragsliste setzen musste.

Stilton von Paxton’s, wie üblich. Sortiment Zwirn, Nadeln, Reißverschlüsse und Knöpfe, wie üblich. Gummiringe für Einweckgläser, wie üblich. Loser Puder von Elizabeth Arden, wie üblich. In Ordnung, wie üblich. Doch jedes Jahr fiel ihr am D-Day minus dreißig Sekunden zusätzlich noch etwas ein, das eigens dazu bestimmt war, ihn auf einen operativen Erkundungsgang durch die ganze Stadt zu schicken. Treib ein bestimmtes Glas auf als Ersatz für das, das uns kaputtgegangen ist – soll heißen für das Glas, das du, Major a. D. Jacko Jackson oder vielmehr vormals a. D., doch z. Z. vor das Kriegsgericht der NAAFI gestellt, vorsätzlich und böswillig kaputtgeschlagen hast, nachdem du fleißig dem Gurgelwasser zugesprochen hattest. Völlig sinnlos, darauf hinzuweisen, dass diese Gläser schon nicht mehr lieferbar waren, als wir unsere aus zweiter Hand gekauft haben. Dieses Jahr hieß es, geh in die große Filiale von John Lewis in der Oxford Street und frag, ob sie so ein Außenteil für die Salatschleuder haben, das einen lebensbedrohlichen Knacks hat, seit ein gewisser Herr es fallen ließ, das Innenteil ist nämlich noch gut zu gebrauchen, und vielleicht verkaufen sie das Außenteil ja separat. Und dann hatte sie ihm auf dem Parkplatz das funktionierende Teil unter die Nase gehalten, das sollte er mitnehmen, damit er nicht etwa die falsche Größe kaufte. Wollte es ihm praktisch in den Seesack stopfen. Bah.

Immerhin konnte sie gut Kaffee kochen, das musste er ihr lassen. Er stellte die Thermoskanne auf dem Tischchen ab und wickelte das Päckchen aus der Folie. Schokikeksi. Jackos Schokikeksi. Insgeheim nannte er sie immer noch so. War das richtig oder falsch? War man so jung, wie man sich fühlte, oder so alt, wie man aussah? Das war heutzutage die große Frage, wie ihm schien. Vielleicht die einzige Frage. Er schenkte sich Kaffee ein und aß einen Keks. Die sanfte, vertraute, graugrüne englische Landschaft beruhigte ihn und stimmte ihn dann fröhlich. Schafe, Kühe, Bäume mit Föhnfrisur. Ein Kanal lag träge in seinem Bett. Machen Sie dem Kanal Beine, Sergeant-Major. Jawoll, Sir.

Er fand die diesjährige Postkarte recht gelungen. Ein Prunkschwert in der Scheide. Sehr dezent, dachte er. In früheren Zeiten hatte er Ansichtskarten mit Feldgeschützen und berühmten Schlachtfeldern aus dem Bürgerkrieg geschickt. Tja, da war er auch noch jünger. Liebe Babs, Treffen am 17. des Monats. Halt dir den Nachmittag frei. Viele Grüße, dein Jacko. Ganz offen. War nie auf die Idee gekommen, die Karten in einen Umschlag zu stecken. Regeln der Geheimhaltung, Abschnitt 5b, Paragraph 12: Der Feind erkennt höchst selten, was er direkt vor Augen hat. Er machte sich nicht mal die Mühe, nach Shrewsbury zu fahren. Steckte die Karte einfach in den Briefkasten im Dorf.

War man so jung, wie man sich fühlte, oder so alt, wie man aussah? Der Schaffner, oder Fahrkartenkontrolleur, oder Zugbegleiter oder wie die sich jetzt nannten, hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Der sah nur ein Seniorenticket zu ermäßigtem Preis und hielt ihn für einen problemlosen und uninteressanten Alten, einen Geizkragen, der seinen eigenen Kaffee mitbrachte, um Geld zu sparen. Na, das stimmte ja auch. Die Rente reichte nicht mehr so weit wie früher. Seine Mitgliedschaft im Club hatte er schon lange gekündigt. Von dem alljährlichen Regimentstreffen abgesehen, musste er nur dann nach London, wenn seine Beißwerkzeuge Sperenzchen machten und er dem Pferdedoktor vor Ort nicht zutraute, sie wieder auf Vordermann zu bringen. War viel vernünftiger, in einer Pension am Bahnhof zu übernachten. Wenn man zum Frühstück die volle Palette nahm und mit Geschick ein Würstchen extra ergatterte, war man für den ganzen Tag versorgt. Freitag dasselbe nochmal, das hielt dann vor, bis man wieder zu Hause war. Zurück am Standort. Melde mich zum Dienst, alle Salatschleudern pünktlich und korrekt angetreten, Ma’am.

Nein, daran wollte er jetzt noch nicht denken. Dies waren seine zwei dienstfreien Tage. Sein alljährlicher Fronturlaub. Er hatte sich die Haare schneiden lassen, wie üblich. Hatte den Blazer reinigen lassen, wie üblich. Bei ihm hatte alles seine Ordnung, auch seine Erwartungen und Vergnügungen. Selbst wenn diese Vergnügungen nicht mehr so rasant waren wie früher. Anders, könnte man sagen. Man vertrug nicht mehr so viel, wenn man älter wurde. Konnte sich nicht mehr die Nase begießen wie in alten Zeiten. Also trank man weniger, aber mit mehr Genuss, und war am Ende genauso abgefüllt und blau wie früher. Im Prinzip jedenfalls. Klappte natürlich nicht immer. Mit Babs war es dasselbe. Er erinnerte sich noch gut an die erste Runde, damals vor langer Zeit. Eigentlich erstaunlich, in Anbetracht seines damaligen Zustands. Und das war auch so was, damals machte es dem ehrenwerten Kameraden anscheinend nicht viel aus, wenn man abgefüllt und blau war. Dreimal. Jacko, alter Hund. Einmal zur Begrüßung, einmal volles Rohr, dann noch einmal zum Abschied. Tja, warum wurden Gummis wohl im Dreierpack verkauft? Für manche bestimmt eine Wochenration, aber wenn man ordentlich gespart hatte, so wie er …

Nun gut, er konnte sich nicht mehr die Nase begießen wie in alten Zeiten. Und der ehrenwerte Kamerad brachte keine Dreipunktlandung mehr zustande. Für Reisende mit Seniorenticket war einmal bestimmt genug. Man soll der Pumpe ja nicht zu viel zumuten. Und allein der Gedanke, was er Pamela damit antun würde … Nein, er hatte nicht die Absicht, der Pumpe zu viel zuzumuten. Das Prunkschwert in der Scheide, und nur eine kleine Flasche Champagner zu zweit. In alten Zeiten hatten sie immer eine ganze Flasche geschafft. Jeder drei Gläser, für jede Nummer eins. Jetzt war es nur noch eine kleine Flasche – irgendein Sonderangebot aus dem Laden am Bahnhof –, und oft tranken sie die nicht mal ganz aus. Babs bekam so leicht Sodbrennen, und er wollte nicht allzu angeschlagen zum Regimentstreffen antreten. Meistens redeten sie miteinander. Manchmal schliefen sie auch.

Er machte Pamela keinen Vorwurf. Manche Frauen verloren nach den Wechseljahren eben die Lust. Alles rein biologisch, keiner hatte Schuld daran. Bei Frauen war das einfach so. Man installiert ein System, das System produziert das, wozu es da ist – nämlich Sprösslinge, siehe Jennifer und Mike –, und dann schaltet es sich ab. Mütterchen Natur stellt den Schmierdienst ein. Kein Wunder, schließlich ist Mütterchen Natur eindeutig weiblichen Geschlechts. Kann man niemandem vorwerfen. Ihm also auch nicht. Er wollte sich nur vergewissern, dass seine Maschinerie noch intakt war. Dass Väterchen Natur den Schmierdienst noch nicht eingestellt hatte. Eine Frage der Hygiene, im Grunde.

Ja, genau. Er machte sich selbst nichts vor. Keine Haarspaltereien und Spitzfindigkeiten. Mit Pamela ließ sich das ja nicht gut erörtern, Hauptsache, man konnte sich beim Rasieren noch gerade ins Gesicht sehen. Er fragte sich, ob die Burschen, die ihm vor ein paar Jahren beim Regimentstreffen gegenübergesessen hatten, das von sich behaupten konnten. Wie die geredet hatten. Von den alten Kasinoregeln war natürlich nicht mehr viel übrig, oder sie wurden einfach nicht mehr beachtet, und diese kleinen aufgeblasenen Wichte waren schon zu Beginn des Essens ziemlich knülle gewesen und waren über das schöne Geschlecht hergezogen, noch ehe der Portwein gereicht wurde. Er persönlich hätte das ja nicht durchgehen lassen. Seiner Meinung nach waren in letzter Zeit zu viele Klugschwätzer ins Regiment gekommen. Darum hatte er sich anhören müssen, wie die drei sich gebärdeten, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. »In der Ehe heißt das oberste Gebot, sich nicht erwischen zu lassen«, hatte der Anführer gesagt, und die beiden anderen hatten genickt. Aber da war ihm noch nicht die Galle übergelaufen. Das war erst, als sich der Bursche darüber verbreitete – damit protzte, genauer gesagt –, dass er wieder was mit einer alten Freundin angefangen hatte, einer von früher, bevor er seine Frau kennen gelernt hatte. »Das zählt nicht«, hatte einer der anderen Klugschwätzer getönt. »Präexistenter Ehebruch. Zählt nicht.« Jacko hatte eine Weile gebraucht, bis er daraus schlau geworden war, und dann fand er nicht viel Gefallen an dem, was er verstanden hatte. Haarspaltereien und Spitzfindigkeiten.

Ob er auch so gewesen war, damals, als er Babs kennen lernte? Nein, das glaubte er nicht. Er gab sich gar keine Mühe, so zu tun, als wären die Dinge anders, als sie waren. Er redete sich nicht ein, ach, das war nur, weil ich damals total abgefüllt und blau war, und ach, das war nur, weil Pam so ist, wie sie heute eben ist. Er sagte auch nicht, ach, das war nur, weil Babs blond ist und ich schon immer auf Blondinen stand, was vielleicht merkwürdig ist, denn Pam ist brünett, aber vielleicht ist das auch überhaupt nicht merkwürdig. Babs war ein nettes Mädchen, sie war da, sie war blond, und in dieser Nacht hatten sie dreimal den Gong geschlagen. Mehr war nicht dabei. Nur dass er weiter an sie gedacht hatte. Er hatte an sie gedacht, und im nächsten Jahr hatte er sie wieder gefunden.

Er breitete die Hand auf dem Tischchen vor sich aus. Eine Handspanne plus zweieinhalb Zentimeter, das war der Durchmesser der Salatschleuder. Natürlich denke ich dran, hatte er zu ihr gesagt: Du glaubst doch wohl nicht, dass meine Hand in den nächsten vierundzwanzig Stunden schrumpft, oder? Nein, steck mir das Innenteil nicht in den Seesack, Pamela, ich hab doch gesagt, ich hab keine Lust, das Ding mit nach London zu schleppen. Vielleicht konnte er herausfinden, wie lange der Laden heute aufhatte. Vom Bahnhof aus anrufen und gleich heute hinmarschieren statt morgen. Das würde Zeit sparen. Dann konnte er am Vormittag alle anderen Aufträge erledigen. Präzise Denkarbeit, Jacko.

Im nächsten Jahr war er nicht sicher gewesen, ob Babs sich noch an ihn erinnerte, aber sie hatte sich trotzdem gefreut, als sie ihn sah. Er hatte für alle Fälle eine Flasche Champagner mitgebracht, und damit war die Sache gewissermaßen besiegelt. Er war den ganzen Nachmittag geblieben, hatte ihr von sich erzählt, und sie hatten wieder dreimal den Gong geschlagen. Er hatte gesagt, er würde ihr eine Postkarte schicken, wenn er das nächste Mal nach London käme, und so hatte es angefangen. Und jetzt ging das schon – wie lange? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahre? Zum zehnten Jahrestag hatte er ihr Blumen mitgebracht, zum zwanzigsten eine Topfpflanze. Einen Weihnachtsstern. Der Gedanke an sie hielt ihn an trüben Vormittagen aufrecht, wenn er die Junghennen fütterte und den Kohlenbunker auskratzte. Sie war sein – wie hieß dieser Ausdruck, den er mal irgendwo gelesen hatte? – sein Fenster zu einem möglichen Leben. Einmal wollte sie Schluss machen – wollte sich zur Ruhe setzen, wie sie scherzhaft sagte –, aber das ließ er nicht zu. Er wollte nichts davon hören, fast hätte er ihr eine Szene gemacht. Sie hatte nachgegeben und sein Gesicht gestreichelt, und als er ihr im folgenden Jahr die Karte schickte, hatte er eine Scheißangst, aber Babs stand zu ihrem Wort.

Natürlich hatten sie sich verändert. Jeder Mensch veränderte sich. Pamela zum Beispiel: Die Kinder gingen aus dem Haus, da war der Garten, dann das Theater, das sie neuerdings um die Hunde machte, diese raspelkurz geschnittenen Haare, ihre ewige Putzerei. Nicht, dass ihm das Haus irgendwie anders vorkam als vor ihrer ewigen Putzerei. Und sie wollte nirgends mehr hin, angeblich war sie genug gereist. Er hatte gesagt, jetzt hätten sie doch Zeit dazu; aber das war nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit hatten sie mehr Zeit und fingen weniger damit an. Dabei hatten sie ständig etwas zu tun.

Er hatte sich auch verändert. Auf einmal bekam er es mit der Angst, wenn er oben auf der Leiter stand und die Regenrinne säuberte. Herrgott, das machte er schon seit fünfundzwanzig Jahren, jedes Frühjahr stand es ganz oben auf seiner Auftragsliste, und bei einem Bungalow war man gar nicht weit vom Boden weg, aber er bekam es trotzdem mit der Angst. Nicht davor, dass er runterfallen könnte, das war es nicht. Er ließ immer die seitlichen Sperrhaken an der Leiter einrasten, er war schwindelfrei, und er wusste, falls er fallen sollte, würde er wahrscheinlich im Gras landen. Es war einfach so, wenn er dort stand, die Nase ein paar Zentimeter über der Regenrinne, und das Moos und die aufgeweichten Blätter und dergleichen mit einer Schaufel abkratzte und Zweige und Teile von angefangenen Vogelnestern wegschnippte, einen prüfenden Blick nach oben warf, ob alle Dachziegel noch heil waren und die Fernsehantenne brav Männchen machte – wenn er dort stand, gut geschützt, mit Gummistiefeln an den Füßen, in eine Windjacke gehüllt, mit einer Wollmütze auf dem Kopf und Gummihandschuhen an den Händen, dann spürte er manchmal, wie ihm die Tränen kamen, und er wusste, das lag nicht am Wind, und plötzlich konnte er weder vor noch zurück, eine Gummihand klammerte sich an die Regenrinne, die andere stocherte blindlings in dem gewölbten dicken Plastikmaterial herum, und er hatte eine Scheißangst. Vor allem.

Er bildete sich gern ein, dass Babs sich nie veränderte, und das tat sie auch nicht, weder in seiner Vorstellung noch in seiner Erinnerung oder Vorfreude. Doch zugleich musste er zugeben, dass ihre Haare nicht mehr ganz so blond waren wie früher einmal. Und nachdem er sie überredet hatte, sich nicht zur Ruhe zu setzen, hatte sie sich auch verändert. Mochte sich nicht mehr vor ihm ausziehen. Behielt das Nachthemd an. Bekam Sodbrennen von seinem Champagner. Einmal hatte er ihr den teureren mitgebracht, aber es lief auf dasselbe hinaus. Sie knipste immer öfter das Licht aus. Gab sich nicht mehr so viel Mühe wie früher, ihn in Schwung zu bringen. Schlief mit ihm ein; manchmal schon vor ihm.

Aber er freute sich immer noch auf sie, wenn er die Junghennen fütterte, Kohlen zusammenkratzte, in der Regenrinne stocherte, wobei ihm die Tränen übers Gesicht liefen, Tränen, die er sich mit einem Gummihandschuhrücken über die Wangen schmierte. Sie war seine Verbindung zur Vergangenheit, einer Vergangenheit, in der er sich wirklich die Nase begießen und trotzdem dreimal hintereinander den Gong schlagen konnte. Ab und zu bemutterte sie ihn ein bisschen, aber das brauchte doch jeder mal, oder nicht? Schokikeksi, Jacko? Ja, so was kam vor. Aber auch: Du bist ein echter Mann, weißt du das, Jacko? Es gibt nicht mehr viele echte Männer, das ist eine aussterbende Rasse, aber du bist einer.

Gleich waren sie in Euston. Ein junger Spund gegenüber von Jacko holte sein dämliches Handy raus und wählte piepend. »Hallo Liebling … ja, hör mal, der Scheißzug ist irgendwo in der Nähe von Birmingham stecken geblieben. Die sagen einem doch nichts. Nein, mindestens eine Stunde, wenn nicht mehr, würd ich sagen, und dann muss ich noch quer durch London … Ja … Ja, mach das … Ich dich auch … Tschüss.« Der Lügner steckte sein Handy weg und guckte sich um, ob jemand sich erdreistet hatte, das mit anzuhören.

Also: nochmal den Tagesbefehl durchgehen. Bahnhof, bei John Lewis anrufen wegen frühzeitiger Salatschleuder-Attacke. Abendessen in einem Lokal in der Nähe der Pension: indisch, türkisch, egal was. Ausgabenlimit £ 8. Dann der Marquis of Granby, nur zwei Halbe, will ja den Quartiermeister nicht durch ständiges nächtliches Toilettenspülen um den Schlaf bringen. Frühstück, wenn möglich Würstchen extra. Kleine Flasche Champagner aus dem Laden am Bahnhof. Besorgungen für die NAAFI: Stilton wie üblich, Weckglasringe wie üblich, losen Puder wie üblich. Zwei Uhr Babs. Von zwei bis sechs. Allein schon der Gedanke … Käptn, schläfst du noch da unten? Würden die ehrenwerten Kameraden sich bitte erheben … Das Prunkschwert in der Scheide. Von zwei bis sechs. Dazwischen irgendwann Tee. Tee und ein Keksi. Komisch, wie das inzwischen auch schon Tradition geworden war. Und Babs konnte so aufmunternd wirken, sodass er zumindest für einen Moment, selbst im Dunkeln, selbst mit geschlossenen Augen, für einen Moment dachte, er sei … das, was er sein wollte.

»Okay, alles klar zum Gefecht. Heimwärts, James, und gib den Pferden die Peitsche.« Sein Seesack war zwischen den Sitzen verstaut, sein Regenmantel neben ihm zusammengefaltet. Fahrkarte, Brieftasche, Waschzeug, Auftragsliste mit säuberlichen kleinen Häkchen hinter den einzelnen Posten. Kondome! Der Scherz war diesmal gründlich misslungen. Das Ganze war ein gründlich misslungener Scherz gewesen. Er schaute nach rechts durch das hermetisch verschlossene Fenster: eine grell erleuchtete Sandwich-Bar, ein abgehängter Packwagen, ein Gepäckträger in einer albernen Uniform. Warum haben Lokführer nie Kinder? Weil sie vor der Einfahrt immer die Bremse ziehen. Ha-ha. Kondome mit auf die Liste zu setzen war sein alljährlicher Scherz gewesen, weil er gar keine brauchte. Schon seit Jahren nicht mehr. Als Babs ihn kannte und ihm vertraute, hatte sie gesagt, das wäre nicht nötig. Er hatte gefragt, und das andere, will heißen Sprösslingsproduktion. Sie hatte geantwortet: »Jacko, ich glaube, diese Gefahr ist schon lange vorbei.«

Am Anfang war alles gelaufen wie üblich, nämlich perfekt. Zug pünktlich eingetroffen, Marsch durch die Stadt zu John Lewis, Hand ausbreiten, um Umfang von Salatschleuder anzuzeigen, Größe erkannt, leider keine Ersatzteile separat zu haben, aber Sonderangebot, womöglich billiger als damals, als Madame sie gekauft hat. Überlegung, Innenteil der Salatschleuder am Ort des Einkaufs wegzuwerfen und zu behaupten, er habe Außenschale solo auftreiben und beschaffen können. Entscheidung getroffen, Gegenstand bei Rückkehr komplett zu präsentieren. Schließlich könnte Herr Ungeschickt zur Feier des Tages auch mal das Innere des Apparats fallen lassen. Allerdings würde er bei seinem üblichen Pech wahrscheinlich wieder die Schale kaputtschlagen, und dann könnten sie ihr Leben lang Innenteile horten.

Quer durch die Stadt zurück. Begrüßt und wiedererkannt von dem Ausländer, der Pension betreibt. Münze eingeworfen, Heimatstandort sichere Ankunft gemeldet. Sehr anständiges Hühner-Curry. Zwei Halbe, nicht mehr und nicht weniger, im Marquis of Granby. Disziplin gehalten. Kein unnötiger Druck auf Blase und Prostata. Nacht überstanden mit einem einzigen Gang zur Latrine. Geschlafen wie das sprichwörtliche Baby. Am nächsten Morgen ein Würstchen extra erschmeichelt. Sonderangebot für kleine Flasche Champagner gefunden. Auftragsliste reibungslos abgearbeitet. Waschen, Zähneputzen. Punkt zwei Uhr zum Appell angetreten.

Und da war Ende der Fahnenstange. Beim Klingeln hatte er schon die vertrauten blonden Löckchen und den rosa Hausmantel vor sich gesehen, das bekannte Kichern gehört. Doch dann öffnete eine dunkelhaarige, unechte, mittelalte Person die Tür. Er stand verwirrt da, ohne ein Wort zu sagen.

»Ein Geschenk für mich?«, sagte sie, vielleicht nur um Konversation zu machen, streckte die Hand aus und packte den Champagner am Hals. Statt einer Antwort hielt er die Flasche fest, und dann folgte ein lächerliches Ziehen und Zerren, bis er schließlich sagte:

»Babs.«

»Babs braucht noch einen Moment«, sagte sie und machte die Tür weiter auf. Das kam ihm nicht richtig vor, aber er folgte ihr in das Wohnzimmer, das seit dem letzten Jahr renoviert worden war. Renoviert wie ein Hurensalon, dachte er.

»Soll ich das in den Kühlschrank stellen?«, fragte sie, aber er ließ die Flasche nicht los.

»Zu Besuch in London?«, fragte sie.

»Der Herr ist vom Militär?«, fragte sie.

»Hat’s Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte sie.

Eine Viertelstunde lang saßen sie schweigend da, bis er eine Tür klappen hörte, dann eine zweite. Auf einmal stand die Dunkelhaarige mit einer großen Blonden vor ihm, deren BH ihm ihre Titten darbot wie eine Obstschale.

»Babs«, wiederholte er.

»Ich bin Babs«, antwortete die Blonde.

»Du bist nicht Babs«, sagte er.

»Wenn du meinst«, antwortete sie.

»Du bist nicht Babs«, wiederholte er.

Die beiden Frauen sahen sich an, und dann sagte die Blonde gleichgültig und kalt: »Hör mal, Opa, ich richte mich da ganz nach deinen Wünschen, okay?«

Er stand auf. Er guckte die beiden Flittchen an. Er erklärte es ganz langsam, sodass es auch der dämlichste Rekrut begreifen konnte.

»Ach«, sagte eine von beiden. »Sie meinen Nora.«

»Nora?«

»Tja, wir haben sie Nora genannt. Tut mir Leid. Nein, sie ist vor etwa neun Monaten von uns gegangen.«

Er hatte nicht verstanden. Er dachte, sie meinten, sie sei weggezogen. Dann hatte er wieder nicht verstanden. Er dachte, sie meinten, sie sei ermordet worden, bei einem Autounfall umgekommen oder so.

»Sie war nicht mehr die Jüngste«, sagte eine schließlich als Erklärung. Er musste wohl wütend geguckt haben, denn sie fügte ziemlich nervös hinzu: »Soll keine Beleidigung sein. Ist nicht persönlich gemeint.«

Sie machten den Champagner auf. Die Dunkelhaarige brachte die falschen Gläser. Er und Babs hatten immer aus Wasserbechern getrunken. Der Champagner war warm.

»Ich hab eine Postkarte geschickt«, sagte er. »Ein Prunkschwert.«

»Ja«, antworteten sie gleichgültig.

Sie leerten die Gläser. Die Dunkelhaarige sagte: »Also, wollen Sie immer noch, wofür Sie gekommen sind?«

Er hatte nicht richtig überlegt. Wahrscheinlich hatte er genickt. Die Blonde sagte: »Soll ich Babs für Sie sein?«

Babs war Nora gewesen. Das ging ihm im Kopf herum. Er merkte, wie er wieder wütend wurde. »Sie sollen das sein, was Sie sind.« Das war ein Befehl.

Wieder sahen sich die beiden Frauen an. Die Blonde sagte fest, aber nicht überzeugend: »Ich bin Debbie.«

Da hätte er gehen sollen. Er hätte aus Respekt vor Babs, aus Treue zu Babs gehen sollen.

Vor dem hermetisch verschlossenen Fenster zog die Landschaft vorüber, wie jedes Jahr, aber er sah keine Form darin. Manchmal verwechselte er die Treue zu Babs mit der Treue zu Pamela. Er holte seine Thermosflasche aus dem Marschgepäck. Manchmal – ach, nicht oft, aber es war vorgekommen – hatte er das Ficken mit Babs und das Ficken mit Pamela verwechselt. Es war, als ob er zu Hause gewesen wäre. Und als ob es zu Hause geschehen wäre.

Er war in das Zimmer gegangen, das früher Babs gehört hatte. Gleichfalls renoviert. Er nahm nicht wahr, was neu war, sondern nur, was von früher fehlte. Sie fragte ihn nach seinen Wünschen. Er gab keine Antwort. Sie nahm ihm etwas Geld ab und gab ihm einen Gummi. Er stand da und hielt ihn in der Hand. Babs hatte nicht, Babs hätte nicht …

»Soll ich ihn dir überziehen, Opa?«

Er hatte ihre Hand weggeschlagen und seine Hose fallen lassen, dann die Unterhose. Er wusste, dass er nicht richtig denken konnte, aber es schien ihm so das Beste zu sein, das einzig Mögliche. Schließlich war er deshalb hergekommen. Schließlich hatte er jetzt dafür bezahlt. Der ehrenwerte Kamerad stellte sein Licht einstweilen unter den Scheffel, doch wenn er ihm klarmachte, was jetzt verlangt wurde, wenn er den Befehl gab, dann … Er spürte, dass Debbie ihn beobachtete, halb im Stehen, mit einem Knie auf dem Bett.

Er ließ den Gummi über seinen Schwanz glitschen und hoffte, nun würde der Funke zünden. Er sah Debbie an, er sah die dargebotene Obstschale an, aber das half auch nichts. Er schaute auf seinen schlappen Schwanz hinunter, auf den runzeligen Gummi mit seiner hängenden, unfüllbaren Zitze. Er spürte die Erinnerung an gleitfähig gemachten Gummi an den Fingerspitzen. Er dachte bei sich, okay, alles klar, das war’s.

Sie zog eine Hand voll Papiertücher aus der wattierten Schachtel auf dem Nachttisch und reichte sie ihm. Er trocknete sich das Gesicht ab. Sie gab ihm ein bisschen von seinem Geld zurück; nur ein bisschen. Er zog sich schnell an und ging hinaus auf die blendend hellen Straßen. Er wanderte ziellos herum. Eine Digitalanzeige über einem Geschäft sagte ihm, dass es zwölf Minuten nach drei war. Er merkte, dass der Gummi noch an seinem Schwanz hing.

Schafe. Kühe. Ein Baum mit Föhnfrisur. Ein dämliches kleines Feldlager von Bungalows voll mit dämlichen Arschlöchern, bei denen er am liebsten geschrien und gekotzt und die Notbremse gezogen hätte, oder was zum Teufel sie heutzutage statt einer Notbremse hatten. Dämliche Arschlöcher, genau wie er. Und jetzt fuhr er in seinen eigenen dämlichen kleinen Bungalow zurück, den er über Jahre hinweg mühsam instand gesetzt hatte. Er schraubte die Thermosflasche auf und goss sich Kaffee ein. Zwei Tage in der Flasche und eiskalt. In alten Zeiten hatte er das Zeug immer mit dem Inhalt eines Flachmanns aufgefrischt. Jetzt war es einfach nur kalt, kalt und alt. Geschieht dir recht, was, Jacko?

Er müsste die kleine Terrasse vor den französischen Fenstern nochmal mit Bootslack überstreichen, weil diese neuen Gartenstühle immer wieder die Farbe abschabten … Der Abstellraum könnte auch einen neuen Anstrich vertragen … Er müsste den Rasenmäher wegbringen und die Klingen schärfen lassen, nicht, dass das heutzutage noch jemand machen wollte, die guckten einen einfach nur an und rieten, so ein Luftkissendings mit einem orangen Plastikteil statt einer Klinge zu kaufen …

Babs war Nora. Er musste keinen Gummi benutzen, weil sie wusste, dass er nirgendwo anders hinging, und sie konnte schon lange nicht mehr schwanger werden. Sie kam nur einmal im Jahr aus dem Ruhestand heraus, ihm zuliebe; ich hab dich halt ganz gern, Jacko, das ist alles.

Eimmal hatte sie einen Witz über ihren Seniorenpass gemacht, und so hatte er erfahren, dass sie älter war als er; auch älter als Pam. Einmal, als sie im Laufe des Nachmittags noch eine ganze Flasche schafften, hatte sie angeboten, ihre oberen Zähne rauszunehmen und ihn zu lutschen, und er hatte gelacht, es aber ekelhaft gefunden. Babs war Nora, und Nora war tot.

Die Kameraden beim Regimentstreffen hatten nichts gemerkt. Er hatte Disziplin gehalten. War nicht knülle gewesen. »Bekommt mir nicht mehr so gut, um ehrlich zu sein, alter Knabe«, hatte er gesagt, und irgendwer hatte gekichert, als wär das ein Witz. Er hatte schon früh den Abgang gemacht und im Marquis of Granby noch ein Bier getrunken. Nein, heute nur ein kleines. Bekommt mir nicht mehr so gut, um ehrlich zu sein. Noch ist nicht aller Tage Abend, hatte der Barmann geantwortet.

Er verachtete sich dafür, wie er sich vor diesem Flittchen aufgeführt hatte. Wollen Sie immer noch, wofür Sie gekommen sind? O ja, er wollte immer noch, wofür er gekommen war, aber davon konnte sie nun wirklich nichts verstehen. Er und Babs hatten es schon lange nicht mehr gemacht – fünf Jahre, sechs Jahre? In den letzten ein, zwei Jahren hatten sie kaum noch an ihrem Champagner genippt. Er mochte es, wenn sie dieses muttchenhafte Nachthemd anzog, mit dem er sie immer neckte, sich zu ihm ins Bett legte, das Licht ausknipste und über die alten Zeiten redete. Wie früher alles so war. Einmal zur Begrüßung, einmal volles Rohr, dann noch einmal zum Abschied. Damals warst du ein wahrer Tiger, Jacko. Hast mich ziemlich geschafft. Am nächsten Tag musste ich mir immer freinehmen. Nein. Doch. Na, wer hätte das gedacht. Aber ja, Jacko, ein wahrer Tiger.

Sie hatte den Preis nur ungern erhöht, aber die Miete war auch gestiegen, und im Grunde zahlte er für Raum und Zeit, egal, was er dann tun oder lassen wollte. Es brachte auch Vorteile, einen Seniorenpass von der Bahn zu haben, damit würde die Fahrt in Zukunft billiger werden. Nicht, dass es jetzt noch eine Zukunft gab. Er würde nie mehr nach London fahren. Stilton und Salatschleudern bekam man schließlich auch in Shrewsbury, Herrgott nochmal. Beim Regimentstreffen würde ihn allmählich nur noch interessieren, wer nicht da war, statt wer da war. Und seine Zähne konnte auch der Pferdedoktor vor Ort in Ordnung bringen.

Seine Päckchen waren oben in der Gepäckablage. Auf seiner Auftragsliste war alles abgehakt. Pam war jetzt sicher schon auf dem Weg zum Bahnhof, vielleicht bog sie gerade in die Kurzparkzone ein. Parkte immer mit der Nase nach vorn ein, da war nichts zu machen. Fuhr nicht gern rückwärts, schob das lieber für später auf, oder, wahrscheinlicher noch, wollte es ihm überlassen. Er war da anders. Er fuhr lieber rückwärts in die Parklücke. So war man auf einen schnellen Abmarsch eingerichtet. Reine Erziehungssache, vermutlich; immer auf dem Quivive bleiben. Pamela sagte immer, wann mussten wir denn mal einen schnellen Abmarsch machen? Meistens ist bei der Ausfahrt sowieso eine Schlange. Er sagte dann immer, wenn wir als Erste rauskämen, dann wär da keine Schlange. Beweis mir das Gegenteil. Und so weiter.

Er schwor sich, er würde nicht nachgucken, ob sie die Felgen noch mehr abgestoßen hatte. Er würde keinerlei Bemerkung machen, wenn er das Fenster runterkurbelte und die Hand nach dem Parkscheinapparat ausstreckte. Er würde nicht sagen, Schau mal, wie weit die Räder weg sind, und ich komm trotzdem dran. Er würde nur fragen: »Was machen die Hunde? Hast du was von den Kindern gehört? Ist der Dünger geliefert worden?«

Und doch trauerte er um Babs, und er fragte sich, ob er so auch um Pamela trauern würde. Wenn es denn so käme, natürlich.

Er hatte seine Aufträge erledigt. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, schaute er aus dem hermetisch verschlossenen Fenster und hoffte, seine Frau auf dem Bahnsteig zu sehen.