3
Die Traumreise
Er reiste. Sie reiste. Doch sie reisten nicht zusammen; nie wieder. Sie besuchte ihn auf seinem Landgut, sie schwamm in seinem Teich – er nannte sie die »Undine von Sankt Petersburg« –, und nach ihrer Abreise gab er dem Zimmer, in dem sie geschlafen hatte, ihren Namen. Er küsste ihr die Hände, die Füße. Sie trafen sich, sie korrespondierten bis zu seinem Tod, und danach schützte sie sein Andenken vor pöbelhaften Auslegungen. Doch sie reisten nicht mehr als dreißig Meilen zusammen.
Sie hätten reisen können. Ja, wenn … ja, wenn.
Doch da er ein Connaisseur des »Ja, wenn« war, reisten sie doch. Sie reisten im Irrealis der Vergangenheit.
Sie stand vor ihrer zweiten Eheschließung. N. N. Wsewoloschski, Husarenoffizier, klirr, klirr. Als sie fragte, was er von ihrer Wahl halte, spielte er nicht mit. »Es ist zu spät, meine Meinung einzuholen. Le vin est tiré – il faut le boire.« Wollte sie die Ansicht einer verwandten Künstlerseele über die konventionelle Ehe hören, die sie mit einem Mann eingehen würde, mit dem sie nicht viel verband? Oder war da noch mehr im Spiel? War das ihr eigenes »Ja, wenn«, und sie wollte mit seiner moralischen Unterstützung ihrem Verlobten den Laufpass geben?
Doch der Großpapa, der selbst nie geheiratet hatte, verweigerte ihr diese moralische Unterstützung wie auch seinen Beifall. Le vin est tiré – il faut le boire. Verfällt er in emotionalen Schlüsselmomenten gewohnheitsmäßig in fremdsprachliche Ausdrücke? Liefern ihm das Französische und Italienische die höflichen Euphemismen, mit denen er sich aus der Affäre ziehen kann?
Natürlich hätte es zu viel Realität zugelassen, hätte es dem Präsens die Tür geöffnet, wenn er sie in letzter Minute zu einem Rückzug von ihrer zweiten Ehe ermuntert hätte. Diese Tür schlägt er zu: Der Wein muss getrunken werden. Nach dieser Anordnung kann wieder die Phantasie das Regiment führen. Zwanzig Tage später schreibt er in seinem nächsten Brief: »Was mich betrifft, so träume ich davon, wie schön es wäre herumzureisen – nur wir beide, einen Monat oder mehr, und niemand darf wissen, wer und wo wir sind.«
Das ist ein ganz normaler Flucht-Traum. Zu zweit allein, unerkannt, zeitlich ungebunden. Natürlich ist es auch ein Flitterwochen-Traum. Und wohin würden weltläufige Künstler in den Flitterwochen reisen, wenn nicht nach Italien? »Malen Sie sich das Bild einmal aus«, lockt er. »Venedig (vielleicht im Oktober, dem besten Monat in Italien) oder Rom. Zwei Fremde in Reisekleidern – der eine groß, linkisch, weißhaarig, langbeinig, doch überaus zufrieden; die andere eine schlanke Dame mit wunderschönen dunklen Augen und schwarzem Haar. Nehmen wir an, sie sei gleichfalls zufrieden. Sie flanieren durch die Stadt, fahren mit der Gondel. Sie besuchen Galerien, Kirchen und so weiter, abends speisen sie zusammen, sie gehen gemeinsam ins Theater – und dann? Hier hält meine Phantasie respektvoll inne. Um etwas zu verbergen, oder weil es nichts zu verbergen gibt?«
Hielt seine Phantasie respektvoll inne? Unsere nicht. Uns, die wir in einem späteren Jahrhundert leben, scheint die Sache ziemlich klar. Ein gebrechlicher Herr in einer zerfallenden Stadt auf Ersatz-Hochzeitsreise mit einer jungen Schauspielerin. Nach einem Abendessen in trauter Zweisamkeit bringen Gondoliere sie patsch-patsch in ihr Hotel zurück, dazu ein Soundtrack aus dem Reich der Operette – muss man uns noch sagen, was dann geschieht? Wir reden hier nicht über die Realität, darum ist die Schwäche von ältlichem, alkoholzermürbtem Fleisch kein Thema; wir sitzen gut geschützt im Konditional und haben uns in die Reisedecke gewickelt. Also: Ja, wenn … ja, wenn … und dann hättest du sie gefickt, nicht wahr? Jedes Leugnen ist zwecklos.
Es könnte gefährlich werden, diese Phantasie von Flitterwochen in Venedig mit einer derzeit noch unverheirateten Frau zu weit auszuspinnen. Du hast ihr natürlich wieder einmal entsagt, darum ist das Risiko gering, dass sie, von der Idee beflügelt, eines schönen Morgens auf einem Schrankkoffer vor deiner Tür sitzt und sich neckisch und verschämt zugleich mit ihrem Reisepass fächelt. Nein: realer ist die Gefahr des Schmerzes. Entsagung heißt, der Liebe und damit auch dem Schmerz aus dem Weg zu gehen, doch selbst das hat seine Fallstricke. Schmerzen kann zum Beispiel der Vergleich zwischen dem venezianischen Capriccio deiner respektvollen Phantasie und der drohenden Realität, dass die Dame deines Herzens in ihren wirklichen Flitterwochen höchst unrespektvoll von dem Husarenoffizier N. N. Wsewoloschski gefickt wird, der die Accademia so wenig kennt wie die Unzuverlässigkeiten des Fleisches.
Was heilt den Schmerz? Die Zeit, geben die alten Schlauberger zur Antwort. Du weißt es besser. Du bist klug genug zu wissen, dass die Zeit nicht alle Schmerzen heilt. Das überkommene Bild vom Freudenfeuer der Liebe, von der tränentrocknenden Flamme, die zu trauriger Asche erstirbt, muss revidiert werden. Ersetz es versuchsweise durch einen zischenden Gasbrenner, der durchaus sengen kann, aber auch Schlimmeres anrichtet: Er spendet Licht, ein eifersüchtiges, unbarmherziges, flaches Licht, wie es einen alten Mann auf einem Provinzbahnsteig bei der Abfahrt des Zuges trifft, einen hinfälligen Mann, der zusieht, wie ein gelbes Fenster und eine zuckende Hand aus seinem Leben entschwinden, der dem sich ins Unsichtbare schlängelnden Zug noch ein paar Schritte nachläuft, der den Blick auf die rote Lampe am Dienstwagen heftet, sich daran festhält, bis sie kleiner ist als ein rubinroter Planet am nächtlichen Himmel, der sich dann abwendet und merkt, dass er immer noch unter einer Bahnsteiglaterne steht, allein, und nichts anderes zu tun hat als die Wartezeit in einem muffigen Hotel zu verbringen und sich einzureden, er habe gewonnen, obwohl er doch weiß, dass er in Wahrheit verloren hat, der seine schlaflosen Stunden mit einem wohligen »Ja, wenn« nach dem anderen ausfüllt und dann zum Bahnhof zurückkehrt und wieder allein dort steht, in einem freundlicheren Licht, aber zu einer grausameren Reise, jene dreißig Meilen zurück, die er in der Nacht zuvor mit ihr gereist ist. Auf der Fahrt von Mzensk nach Orjol, an die er sich sein Leben lang erinnern wird, liegt stets der Schatten der Rückreise von Orjol nach Mzensk, über die es keine Aufzeichnungen gibt.
Darum führt er ihr eine zweite Traumreise vor Augen, wieder nach Italien. Inzwischen ist sie verheiratet, eine Änderung des Personenstands, die kein interessantes Diskussionsthema darstellt. Der Wein muss getrunken werden. Sie will nach Italien fahren, vielleicht mit ihrem Ehemann, aber nach Reisegefährten wird nicht gefragt. Diese Reise findet seine Zustimmung, und sei es nur, weil er ihr so eine Alternative bieten kann – diesmal keine rivalisierenden Flitterwochen, sondern eine Fahrt zurück in den schmerzlosen Irrealis der Vergangenheit. »Vor vielen, vielen Jahren verbrachte ich zehn wundervolle Tage in Florenz.« So eingesetzt, betäubt die Zeit den Schmerz. Es ist so viele, viele Jahre her, dass er damals »noch keine vierzig« war – und das Grundprinzip des Lebens noch nicht Entsagung hieß. »Florenz hinterließ bei mir einen faszinierenden und poetischen Eindruck – obwohl ich dort allein war. Wie wäre es erst gewesen, wenn ich in Begleitung einer Frau gewesen wäre, die verständnisvoll, gut und schön ist – vor allem schön!«
Das ist gefahrlos. Diese Phantasie ist beherrschbar, sein Geschenk eine falsche Erinnerung. Jahrzehnte später sollten die Politiker seines Landes zu Spezialisten darin werden, die Gestürzten aus der Geschichte hinauszuretuschieren, ihre photographischen Spuren zu tilgen. Und da sitzt er nun, über sein Erinnerungsalbum gebeugt, und fügt akribisch die Gestalt einer einstigen Gefährtin ein. Kleb es nur ein, das Foto der schüchternen, reizvollen Werotschka, während das Lampenlicht dein weißes Haar zu einem schwarzen Schatten verjüngt.