1
Petersburg

Es war ein altes Theaterstück von ihm, 1849 in Frankreich geschrieben; von der Zensur war es umgehend verboten und erst 1855 für den Druck freigegeben worden. Auf die Bühne kam es ganze siebzehn Jahre später und erlebte klägliche fünf Aufführungen in Moskau. Nun, dreißig Jahre nach der Entstehung des Stücks, bat sie ihn telegraphisch um Erlaubnis, für Petersburg eine Kurzfassung erstellen zu lassen. Er willigte ein, gab jedoch leise zu bedenken, diese Phantasie seiner Jugendjahre sei als Druckwerk, nicht aber für die Bühne gedacht gewesen. Auch sei das Stück ihrer großen Begabung nicht würdig. Dieser Zusatz war eine typische Höflichkeitsgeste; er hatte sie nie spielen sehen.

Das Stück handelte, wie ein Großteil seines Lebenswerks, von der Liebe. Und wie in seinem Leben war es auch in seinem Werk: Die Liebe funktionierte nicht. Die Liebe mochte die Menschen vielleicht gütig stimmen, ihre Eitelkeit befriedigen und ihnen zu einer reinen Haut verhelfen, doch glücklich machte sie nicht; Gefühle und Absichten waren immer ungleich verteilt. Das war das Wesen der Liebe. Natürlich »funktionierte« sie in dem Sinn, dass sie die tiefsten Gefühle des Lebens weckte, dass er sich frisch fühlte wie die Lindenblüten zur Frühlingszeit und gebrochen wie ein aufs Rad geflochtener Verräter. Die Liebe trieb ihn von wohlerzogener Scheu zu relativer Kühnheit, wenngleich einer recht theoretischen Kühnheit, die ihn auf tragikomische Weise unfähig machte zu handeln. Sie lehrte ihn die alles verschlingende Narrheit der Erwartung, die Erbärmlichkeit des Scheiterns, das Winseln der Reue und die törichte Zärtlichkeit des Erinnerns. Er kannte die Liebe gut. Auch sich selbst kannte er gut. Dreißig Jahre zuvor hatte er sich in der Rolle des Rakitin verewigt, der dem Publikum seine Ansichten über die Liebe verkündet: »Meiner Meinung nach, Alexei Nikolajewitsch, ist jede Liebe, ob glücklich oder unglücklich, eine wahre Katastrophe, wenn man sich ihr voll und ganz hingibt.« Diese Sätze wurden von der Zensur gestrichen.

Er nahm an, sie wollte die weibliche Hauptrolle Natalja Petrowna spielen, die verheiratete Frau, die sich in den Hauslehrer ihres Sohns verliebt. Doch sie hatte sich für Nataljas Pflegetochter Werotschka entschieden, die sich – wie das im Theater so ist – gleichfalls in den Hauslehrer verliebt. Das Stück hatte Premiere; er kam nach Petersburg; sie besuchte ihn in seinem Zimmer im Hotel de l’Europe. Sie kam in der Erwartung, eingeschüchtert zu werden, sah sich dann aber zu ihrem Entzücken einem »sympathischen, eleganten Großpapa« gegenüber. Er behandelte sie wie ein Kind. War das so verwunderlich? Sie war fünfundzwanzig, er sechzig.

Am 27. März besuchte er eine Vorstellung seines Stücks. Obwohl er sich im Schatten der Regieloge verbarg, wurde er erkannt, und nach dem zweiten Akt riefen die Zuschauer ihn heraus. Sie wollte ihn auf die Bühne führen; er weigerte sich, verbeugte sich aber aus der Loge heraus. Nach dem nächsten Akt ging er in ihre Garderobe, wo er sie bei den Händen fasste und im Schein der Gaslampe betrachtete. »Werotschka«, sagte er. »Habe wirklich ich diese Werotschka geschrieben? Ich habe sie gar nicht beachtet, als ich schrieb. Für mich stand Natalja Petrowna im Mittelpunkt der Handlung. Sie aber sind die lebende Werotschka.«