FRANZÖSISCHKENNTNISSE
Pilcher House
18. Februar 1986
Lieber Dr. Barnes (ich bin eine alte Frau, bald einundachtzig),
tja, also ich lese ernsthafte WERKE, aber wenn’s abends was Leichtes sein soll, wie kommt man an Romane in einer Altenlagerstätte? (Sie werden verstehen, dass ich noch nicht lange hier bin.) Es gibt hier jede Menge »Romane« vom Roten Kreuz. Worüber? Ha! Den Arzt mit dem lockigen Haar und den »ergrauten Schläfen«, den seine Frau wahrscheinlich nicht versteht oder der besser noch Witwer ist, und die attraktive Krankenschwester, die ihm im OP die Säge reicht. Schon in einem Alter, in dem ich für derart unglaubwürdige Darstellungen des Lebens hätte empfänglich sein können, griff ich lieber zu Darwins »Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer«.
Also: Ich dachte, ich geh in die Leihbücherei und nehm mir alle Romane vor, bei A angefangen. (Ich hab mal gehört, wie ein kleines Mädchen vor sich hin sang: »Leihbücherei – Bleilügerei …«) Ich finde, so habe ich viele unterhaltsame Beschreibungen von Kneipen gelesen und viel Voyeurismus an weiblichen Brüsten, darum gehe ich weiter zum nächsten Buchstaben. Sie merken, worauf ich hinaus will? Als Nächstes kommt Barnes: »Flauberts Papagei«. Ah, das muss Loulou sein. Ich schmeichle mir, dass ich »Un Coeur simple« auswendig kann. Ich habe aber nur wenige Bücher, da mein Zimmer hier trop petit ist.
Es wird Sie freuen, dass ich zweisprachig bin, und meine Aussprache ist eine Wonne. Letzte Woche hörte ich auf der Straße einen Lehrer zu einem Touristen sagen: »A gauche puis à droite.« Die Finesse der Aussprache von GAUCHE ließ mein Herz höher schlagen, und ich sage es mir in der Badewanne immer wieder vor. So gut wie französisches Brot und französische Butter. Können Sie sich vorstellen, dass mein Vater, der jetzt 130 wäre, Französisch (wie damals auch Latein) so lernte, als würde es englisch ausgesprochen: »li tschätt« statt »lö scha«. Nein, das können Sie nicht: Bin mir selbst nicht ganz sicher. Immerhin gibt es kleine Fortschritte: Das R wird von den Studenten heute oft in die richtige Richtung gerollt.
Doch revenons à nos perroquets, das ist nämlich der Hauptgrund, warum ich Ihnen schreibe. Ich will nicht darauf herumreiten, was Sie in Ihrem Buch über den Zufall schreiben. Doch, will ich wohl. Sie schreiben, Sie glauben nicht an den Zufall. Das meinen Sie doch nicht im Ernst. Sie meinen, Sie glauben nicht an den absichtsvollen oder zielgerichteten Zufall. Die Existenz des Zufalls können Sie nicht leugnen, denn er tritt recht häufig ein. Sie weigern sich jedoch, ihm Bedeutung beizumessen. Ich bin mir dessen nicht so sicher wie Sie, da ich in solchen Dingen im Großen und Ganzen Agnostikerin bin. Jedenfalls habe ich die Angewohnheit, morgens meist durch die Church Street (keine Kirche mehr da) zum Market Green (auch kein Markt mehr) zu gehen. Gestern hatte ich gerade Ihr Buch weggelegt und spaziere so vor mich hin, und was seh ich da, hinter einem hohen Fenster eingesperrt – einen großen grauen Papagei im Käfig! Zufall? Natürlich. Bedeutung? Das Tier sieht erbärmlich aus, die Federn ganz aufgeplustert, es hustet, sein Schnabel trieft, und keinerlei Spielzeug im Käfig. Also schreibe ich eine (höfliche) Postkarte an seinen (unbekannten) Besitzer, dass dieser Zustand mir das Herz im Leibe umdreht und dass ich hoffe, wenn sie abends nach Hause kommen, sind sie nett zu dem Vogel. Kaum bin ich wieder in meinem Zimmer, stürmt eine wütende alte Frau herein, stellt sich vor, wedelt mit meiner Postkarte und sagt, sie bringt mich vor Gericht. »Schön«, antworte ich. »Das wird aber sehr teuer für Sie.« Sie erzählt mir, dass »Dominic« seine Federn aufplustert, weil er ein Angeber ist. Er hat kein Spielzeug im Käfig, weil er kein Wellensittich ist und es nur kaputtmachen würde, wenn er welches hätte. Und dass Papageienschnäbel nicht triefen können, weil sie keine Schleimhäute haben. »Sie sind ein dummes altes Weib und sollten sich lieber um Ihren eigenen Kram kümmern«, wirft sie mir noch an den Kopf und rauscht ab.
Nun, dieser Vortrag über Papageien hat mich beeindruckt. Mrs Audrey Penn ist eindeutig eine gebildete Frau. Da ich kein anderes Nachschlagewerk zur Hand habe als mein altes College-Verzeichnis, schau ich aufs Geratewohl dort nach. Da ist sie ja: University of Oxford, Lady Margaret Hall, acht Jahre jünger als ich, Leistungsstipendium, während ich ein Hochbegabtenstipendium hatte, und studiert Französisch. (Nicht Veterinärwissenschaften.)
Ich musste Ihnen das schreiben, denn niemand sonst würde das Merkwürdige dieser Synchronizität verstehen. Doch ob das alles einen Zufall im wahrsten Sinne des Wortes darstellt, vermag ich nicht zu beurteilen. Meine Mitgefangenen hier sind entweder verrückt oder taub. Ich bin taub, wie Félicité. Leider Gottes sind die Verrückten nicht taub, doch steht es mir zu, zu behaupten, dass die Tauben nicht verrückt sind? Ja, ich bin zwar die Jüngste hier, aber doch Seniorensprecherin, da ich verhältnismäßig jung und damit verhältnismäßig kompetent bin.
Croyez, cher Monsieur, à l’assurance de mes
sentiments distingués.
Sylvia Winstanley
4. März 1986
Lieber Mr Barnes,
warum behaupten Sie dann, Sie wären ein Doktor? Was mich betrifft, ich bin eine alte Jungfer, trotzdem ist es nicht sehr großherzig von Ihnen, dass Sie mir nur die Wahl zwischen Miss, Mrs oder Ms lassen. Warum nicht Lady Sylvia? Ich bin immerhin Upperclass, »alter Landadel« und so weiter. Meine Großtante hat mir erzählt, als sie ein kleines Mädchen war, hat Kardinal Newman ihr aus Spanien eine Orange mitgebracht. Eine für sie und eine für jede ihrer Schwestern. Diese Frucht war damals in England noch wenig bekannt. N. war Großmutters Patenonkel.
Die Heimleiterin sagt, Dominics Besitzerin genieße »in der Nachbarschaft einen guten Ruf«, also macht der Klatsch offenbar die Runde, und ich sollte lieber den Mund halten. Ich habe ihr einen versöhnlichen Brief geschrieben (keine Antwort), und als ich das nächste Mal vorbeikam, sah ich, dass sie Dominic aus dem Fenster genommen hatte. Vielleicht ist er krank. Denn wenn Papageien keine Schleimhäute haben, warum hat dann sein Schnabel getrieft? Aber wenn ich weiterhin öffentlich solche Fragen stelle, komme ich wirklich noch vor Gericht. Nun, der Richter kann mich nicht schrecken.
Ich habe viel Gide unterrichtet. Proust langweilt mich, und Giraudoux verstehe ich nicht, weil ich ein merkwürdiges Gehirn habe, auf manchen Gebieten ist es brillant und auf anderen strohdumm. Ich galt als todsicherer Tipp für ein Einser-Examen, die Rektorin sagte, sie frisst einen Besen, wenn ich keine Eins bekomme. Ich hab keine bekommen (eine Zwei, mit besonderer Auszeichnung in Mündlichem Ausdruck), und sie machte höheren Orts eine Eingabe; daraufhin teilte man ihr mit, die Zahl der Alphas werde durch die der Gammas ausgeglichen; Betas gab es überhaupt nicht. Verstehen Sie, was ich meine? Ich war nicht auf einer ordentlichen Schule, und als »Lady« habe ich nicht die herkömmlichen Fächer gelernt, darum stand ich mit meiner Arbeit über die Brutpflege der Ohrwürmer in der Aufnahmeprüfung zum College besser da als die Sherborne-Mädchen mit ihren »gebildeten« Aufsätzen. Ich hatte ein Hochbegabtenstipendium, wie ich Ihnen wohl bereits schrieb.
Also, warum behaupten Sie, Sie wären ein Doktor über sechzig, wenn Sie offensichtlich nicht älter als vierzig sein können? Na, na! Ich habe in jungen Jahren erkannt, dass alle Männer Betrüger sind, und beschlossen, erst mit dem Flirten anzufangen, wenn ich 60 und im Pensionsalter bin – was mir aber nochmal 20 Jahre als – wie meine Psychologin sagt – schamlose Flirterin eingebracht hat.
Nachdem ich mit Barnes durch bin, kommt Brookner, Anita, dran, und heiliger Strohsack! – da erscheint sie am selbigen Tag im Fernsehen. Ich weiß nicht, ich weiß nicht. DIE treiben’s wirklich toll mit mir. Ein Beispiel. Ich sage: »Wenn das eine richtige Entscheidung ist, will ich jetzt einen Hirsch sehen«, dabei nehme ich das unwahrscheinlichste Tier für den betreffenden Ort. Hirsch taucht auf. Dito bei anderer Gelegenheit Eisvogel und Buntspecht. Ich kann einfach nicht glauben, dass das pure Einbildung ist oder dass meinem Unterbewusstsein klar war, dass diese Tiere da irgendwo in den Kulissen rumschleichen. Sieht ganz danach aus, als ob es sozusagen ein übergeordnetes Ich gibt, das beispielsweise einem unverständigen roten Blutkörperchen sagt, nun mach mal und bilde einen Klumpen über der Schnittwunde. Aber was führt dann die Aufsicht über Ihr übergeordnetes Ich und mein übergeordnetes Ich und bringt unserem Blut bei, die Wunden zu schließen? In »Hospital Watch« fiel mir auf, dass sie das rohe Fleisch einfach wieder in das Loch stopfen, und dann kann es zusehen, wie es sich selbst in Muskeln zurückverwandelt, und vor drei Monaten hatte ich eine sehr schwere Operation, aber anscheinend sind alle Teile wieder in der richtigen Form zusammengewachsen und wussten, was sie zu tun hatten. Wer hat denen das gezeigt?
Ist hier noch Platz für ein paar Papageienfedern? Die Rektorin, Miss Thurston, war eine wenig anziehende Frau mit Pferdegesicht, 24 Jahre älter als ich, »assoiffée de beauté«, und trug unpassende breite Hüte mit Federschmuck beim Radfahren (im Cambridge-Stil, mit Korb hintendrauf). Eine Weile standen wir uns sehr nahe und schmiedeten Pläne, zusammen in ein Haus zu ziehen, aber sie entdeckte noch rechtzeitig, wie abscheulich ich bin. Eines Nachts träumte ich von Miss Thurston: Sie tanzte vor Freude; sie trug einen riesigen Hut, an dem Papageienfedern flatterten. Sie sagte: »Jetzt ist zwischen uns alles gut« (oder etwas in der Art). Ich dachte mir: »Aber diese Frau war nie REIZLOS.« Beim Frühstück sage ich zu meiner Kusine: »Miss Thurston ist bestimmt tot.« Wir schauen im Telegraph nach – kein Nachruf, wie eigentlich zu erwarten. Die Post kommt – hinten auf einem Briefumschlag: »As-tu vu que Miss Thurston est morte?« Wir besuchen eine andere Kusine; Nachruf und Foto in der Times. Ich muss hinzufügen, dass ich ganz und gar nicht »übersinnlich« veranlagt bin.
Ich will gar nicht erst behaupten, ich hätte nicht solche Predigten halten wollen. Ich bin hier Seniorensprecherin als die JÜNGSTE und Kompetenteste. Hab ein Auto, kann fahren. Da die meisten stocktaub sind, gibt es wenig Getuschel in Winkeln und Ecken. Darf ich ein hochtrabendes Wort für unmäßiges Briefeschreiben prägen (Epistolomanie?)? Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung.
Herzliche Grüße, viel Glück für Ihre Arbeit,
Sylvia Winstanley
18. April 1986
Lieber Julian,
ich nenne Sie so mit Ihrer Erlaubnis und nachdem ich Flirtgenehmigung erhalten habe; es ist allerdings eine ganz neue Erfahrung, wenn man sich beim Flirten nur an einen Schutzumschlag halten kann, wie Sie sich vielleicht denken können. Was nun die Frage betrifft, warum ich mich in einer Altenlagerstätte einsperren lasse, wo ich doch laufen und fahren kann und die Drohung mit dem Gericht mich erheitert – das war ein Fall von Jeder ist seines Unglücks Schmied oder sauter pour mieux reculer. Meine liebe Kusine war gestorben, mir drohte eine größere Operation, und ich fand die Aussicht, meine eigene Haushälterin zu sein, bis ich ins Gras beiße, nicht sehr verlockend. Und dann wurde, wie es so schön heißt, unerwartet ein Platz frei. Ich habe meinen eigenen Kopf, wie Sie sicher schon erraten haben, und lasse mich nicht von der herrschenden Meinung herumkommandieren. Die h. M. besagt, wir haben alle so lange wie möglich selbständig zu bleiben und uns erst in eine Altenlagerstätte zu verdrücken, wenn unsere Familie uns nicht mehr ertragen kann oder wir anfangen, den Gashahn offen zu lassen und uns mit unserer Ovomaltine zu verbrühen. Unter diesen Umständen kann die Altenlgst. aber einen schweren Schock auslösen, sodass wir einen Stich in der Birne kriegen und zu Kohlköpfen mutieren, und schon wird wieder unerwartet ein Platz frei. Daher beschloss ich, mich hierher zu begeben, solange ich im Großen und Ganzen noch funktioniere. Nun, ich habe keine Kinder, und meine Psychologin war auch dafür.
Tja, lieber Barnes, wie das Schicksal so spielt! Das einzige Ihrer Bücher, von dem Sie mir abgeraten haben, war auch das einzige, das ich in der Bibliothek bekommen konnte. »Als sie mich noch nicht kannte« ist seit Januar 11-mal ausgeliehen worden, was Sie sicher mit größtem Interesse vernehmen, und ein Leser hat das Wort »fuck« jedes Mal dick durchgestrichen, wenn es im Text auftauchte. Trotzdem hat er sich herbeigelassen, das ganze Buch durchzulesen, bis zum letzten »fuck« auf S. 178. So weit bin ich noch nicht. Beim Abendessen wollte ich die anderen Tauben mit einer kleinen raconterie erfreuen, aber vergebens. »Ich glaube«, sagte ich, »dieses Buch handelt von den Freuden des Bettes.« »Hä? Hä? Tschulligung? Tschulligung?« »Freuden! Ihr wisst schon! Schönes Knuddelkissen, weiche Matratze, heia-heia.« Das hielt also niemand für raconte-würdig. Ich werde es trotzdem lesen und zweifellos viel lernen.
Ich bin sehr verärgert, beleidigt etc. aufgrund exzessiver Kasernenhof-Ruppigkeit seitens des Gatten der Heimleiterin, ein Ex-Sergeant-Major, den ich am liebsten rückwärts die Treppe runtergeschubst hätte, aber mir fiel ein, dass er wahrscheinlich stärker ist. Ich will Ihnen noch eine Predigt halten, diesmal zum Thema Altenlagerstätten. Als Nanny schließlich gaga wurde, hab ich etliche solcher Établissements besichtigt. Es ist kein erhebender Anblick, wenn man jedes Mal wieder denselben Halbkreis von braven alten Weibern sieht, die in billigen Sesseln sitzen, während die Glotze sie anbrüllt wie Mussolini. In einer von diesen Anstalten fragte ich die Leiterin: »Welches Veranstaltungsprogramm wird hier geboten?« Sie schaute mich ungläubig an, denn war es nicht sonnenklar, dass die tauben Alten sich ohnehin schon so köstlich amüsierten, wie sie es seelisch und geistig überhaupt verkraften konnten? Schließlich antwortete sie: »Einmal die Woche kommt ein Mann und organisiert Spiele.« »Spiele?«, fragte ich, da ich nicht viele Olympiakandidaten erkennen konnte. »Ja«, antwortete sie von oben herab. »Er stellt sie im Kreis auf und wirft ihnen einen Strandball zu, und den müssen sie dann zurückwerfen.« Nun ja: Heute Morgen habe ich dem Sgt-Major gegenüber eine Bemerkung über Strandbälle gemacht, aber wie zu erwarten, hat er die nicht kapiert. Die Tauben und Verrückten hier haben ständig Angst, sie könnten anderen zur Last fallen. Es gibt nur eine Möglichkeit, anderen garantiert nicht zur Last zu fallen, und zwar indem man im Sarg liegt, darum beabsichtige ich, weiterhin anderen zur Last zu fallen, um mich am Leben zu halten. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Diese Altenlagerstätte funktioniert exakt so, wie es bei Balzac steht. Wir legen unsere Lebensersparnisse dafür hin, dass wir die Kontrolle über unser Leben abgeben dürfen. Ich hatte mir eine aufgeklärte Diktatur vorgestellt, wie von Voltaire gutgeheißen, aber ich frage mich, ob es eine solche Regierungsform je gab oder geben kann. Die Heimleitung untergräbt, ob mit Absicht oder unbewusst und aus Gewohnheit, nach und nach unsere Lebensgeister. Das Direktorium sollte eigentlich unser Verbündeter sein.
Ich habe halbherzig »sottises« für Sie gesammelt; am meisten ärgert mich die Ansicht, wir hätten in England etwas namens »der Sommer« und dass »er kommt«, früher oder später. Und dann sitzen wir nach dem Abendessen alle draußen im Garten und lassen uns von den Mücken zerstechen. Zugegeben, es ist etwa 10 Grad wärmer, und man kann nach dem Tee noch rausgehen. Die Mittelalten erzählen mir immer, als sie jung waren, war der Sommer glühend heiß, und man zog fröhlich singend auf Heuwagen herum etc., aber ich erkläre ihnen, da ich gut und gerne 30 Jahre älter bin, erinnere ich mich sehr genau, dass der Mai in ihrer Jugendzeit ein beschissener Monat war und sie das alles vergessen haben. Sind Ihnen schon mal »Les trois saints de glace« begegnet – ich weiß nicht mehr, wer das ist, aber sie müssen vorbei sein, bevor es einen richtigen – romanischen – Sommer geben kann. Einmal hab ich den Mai in der Dordogne verbracht, und es hat die ganze Zeit geregnet, und sie haben den Hund abscheulich behandelt und mir alle möglichen Anlagen gezeigt, und Brot wurde nur alle zwei Wochen gebacken, also kann die Aquitaine mir gestohlen bleiben! Die Drôme liebe ich allerdings sehr.
Was ich nicht gelesen habe:
den ganzen Dickens
den ganzen Scott
den ganzen Thackeray
den ganzen Shakespeare außer »Macbeth«
die ganze J. Austen, bis auf eins
Ich hoffe sehr, Sie finden einen wunderhübschen gîte; ich schwärme für die Pyrenäen, die Blumen und die kleinen »gaves«.
Ich bin nämlich 1935 um die ganze Welt gefahren, bevor alles verschandelt wurde. Auch auf vielen Schiffen, keinen avions.
Sie schreiben, à propos Zufall, ich solle doch mal ein Gürteltier sehen wollen oder eine Schnee-Eule, das würde die Macht des absichtsvollen Zufalls auf die Probe stellen. Das ist mir zu heikel, aber ich will Ihnen sagen, dass wir damals ’16 in Putney gewohnt haben. Putney liegt direkt neben Barnes.
Nun, herzlichen Dank, dass Sie mir geschrieben haben. Jetzt geht’s mir schon besser & der Mond kommt hinter den Kiefern hervor.
Sylvia W.
Papagei D. wieder im Fenster.
16. September 1986
Lieber Julian,
Ihr Roman war wirklich lehrreich, nicht wegen der Sexstellen, sondern weil Ihre Figur Barbara genau dieselben aalglatten Diskussionsweisen hat wie unsere Heimleiterin hier. Ihr Mann ist mir gegenüber der Gipfel der Unverschämtheit, aber ich weiß, wenn mir das Wort »verdammt« entschlüpft, bin ich beim Direktorium endgültig unten durch, das mir bislang noch gewogen ist. Gestern war ich auf dem Weg zum Briefkasten, da quatschte mich der Sgt-Major an und meinte, den Weg könne ich mir sparen. Alle Tauben und Verrückten hier geben ihm ihre Briefe, damit er sie für sie einwirft. Ich sagte: »Ich fahr zwar nicht mehr selbst Auto, aber ich werde weiterhin den Bus in die Stadt nehmen und bin durchaus in der Lage, zum Briefkasten zu humpeln.« Er sah mich impertinent an, und ich stellte mir vor, wie er nachts sämtliche Briefe über Wasserdampf aufmacht und alle zerreißt, in denen sich jemand über die Altenlagerstätte beschwert. Wenn meine Briefe plötzlich aufhören, können Sie daraus schließen, dass ich entweder tot bin oder ganz und gar unter Kuratel der Behörden stehe.
Sind Sie musikalisch? Also ich ja, glaube ich, ein bisschen jedenfalls, aber nur weil ich intelligent war und mit sechs angefangen habe, Klavier zu spielen, konnte ich sehr bald gut vom Blatt spielen, ich spielte auch Kontrabass & Flöte (mehr oder weniger) und sollte darum immer Kirchenorgeln spielen. Das gefiel mir, einen grandiosen Lärm auf diesen Instrumenten zu machen. (Selbst nicht kirchlich. Ich denke meine eigenen Gedanken.) Ich fahre gern in die Stadt – immer fröhliche Scherze im Bus oder Moriskentanz im Einkaufsviertel mit Brandenburgischen Konzerten aus einem Apparat und richtigen Menschen, die dazu Geige spielen.
Ich habe noch mehr As und Bs gelesen. Irgendwann rechne ich mal zusammen, wie viel Alkohol getrunken wird und wie viele Zigaretten angezündet werden, um einen Roman aufzublähen. Ebenso »vignettes« von Kellnern, Taxifahrern, vendeuses und anderen, die in der Geschichte weiter keine Rolle spielen. Die einen Romanautoren blähen ihre Geschichten auf, die anderen haben einen Hang zum Philosophieren, und man hat uns beigebracht, das chez Balzac als »Verallgemeinerung« zu betrachten. Für wen ist so ein Roman eigentlich da, frage ich mich. In meinem Fall für ein anspruchsloses Wesen mit dem Bedürfnis, zwischen 22 Uhr und Schlafenszeit alles andere zu vergessen. Das ist vielleicht nicht sehr befriedigend, für Sie, das sehe ich ein. Außerdem brauche ich dazu unbedingt eine Figur, die mir so ähnlich ist, dass ich mich mit ihr identifizieren kann, und da ich nun mal meinen eigenen Kopf habe, kommt das nicht oft vor.
Trotzdem, die As und Bs sind um Klassen besser als das, was uns das Rote Kreuz jeden Monat liefert. Das wird anscheinend in den langen Stunden, in denen es sonst nichts zu tun gibt, von Nachtschwestern verfasst. Und es geht einzig und allein darum, dass alle heiraten wollen. Was nach der Hochzeit passiert, scheint denen noch nicht aufgegangen zu sein, für mich liegt da aber die wahre Krux.
Ein in Kunstkreisen berühmter Mann schrieb vor ein paar Jahren in seiner Autobiographie, er habe die Liebe zu den Frauen entdeckt, als er sich auf dem Schulball in ein kleines Mädchen verliebte. Damals war er elf und sie neun. Es steht außer Zweifel, dass ich dieses kleine Mädchen war: Er beschreibt mein Kleid, und es war die Privatschule meines Bruders, die Daten stimmen etc.
Seitdem hat sich niemand mehr in mich verguckt, aber ich war ein hübsches Kind. Wenn ich ihn eines Blickes gewürdigt hätte, schreibt er, wäre er mir bis an sein Lebensende gefolgt. Stattdessen ist er sein Leben lang den Weibern nachgerannt und hat seine Frau so unglücklich gemacht, dass sie dem Alkohol verfiel, wohingegen ich nie geheiratet habe. Was schließen Sie daraus, Mister Romanautor Barnes? War das eine verpasste Gelegenheit vor siebzig Jahren? Oder sind wir, er und ich, noch einmal glücklich davongekommen? Er konnte ja nicht ahnen, dass ich ein Blaustrumpf werden würde und überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Vielleicht hätte er mich in den Suff getrieben und ich hätte ihn dazu getrieben, dass er ein Schürzenjäger wird, niemand hätte etwas davon gehabt außer der Frau, die er deshalb nicht geheiratet hätte, und in seiner Autobiographie hätte er geschrieben, dass er wünschte, er hätte mich nie gesehen. Sie sind zu jung für solche Fragen, doch es sind genau solche Fragen, die man sich zunehmend stellt, wenn man taub und verrückt wird. Wo wäre ich jetzt, wenn ich zwei Jahre vor dem Großen Krieg woanders hingeschaut hätte?
Nun, riesigen Dank, und ich hoffe, Ihr eigenes Leben ist zufriedenst. und die Sprösslinge geraten nach Ihren Wünschen.
Mit herzlichen Grüßen von Sylvia W.
24. Januar 1987
Lieber Julian,
eine der Verrückten hier sieht Gespenster. Sie zeigen sich als kleine grüne Blitze, nur für den Fall, dass Sie auch mal eins sehen wollen, und sind ihr hierher gefolgt, als sie ihre Wohnung aufgegeben hat. Das Dumme ist, während die Gespenster in ihrem früheren Zuhause gutartig waren, sind sie infolge ihres Eingesperrtseins in einer Altenlagerstätte außer Rand und Band geraten. Jedem von uns ist in seiner »Kabine« ein kleiner Kühlschrank gestattet, um nächtlichem Hungertod vorzubeugen, und Mrs Galloway stopft ihren mit Konfekt und Flaschen mit süßem Sherry voll. Und was treiben die Kobolde mitten in der Nacht anderes, als das Konfekt aufzufressen und den Sherry auszutrinken! Als die Sache zur Sprache kam, zeigten wir uns alle gebührend betroffen – die Tauben zeigten sich besonders betroffen, sicher weil sie nichts begriffen – und bemühten uns, ihr unser Beileid für ihren Verlust auszusprechen. Das ging eine Weile so weiter, lange Gesichter waren angesagt, bis sie eines Tages zum Mittagessen kam und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Jetzt hab ich’s denen aber gezeigt!«, rief sie. »Ich hab eine von ihren Sherryflaschen ausgetrunken, die sie in meinem Kühlschrank gelassen haben!« Da haben wir alle gefeiert. Leider zu früh, denn das Konfekt war weiterhin nächtlichen Plünderungen ausgesetzt, obwohl Mrs G. sich angewöhnte, handschriftliche Zettel in strengem wie auch bittendem Ton an die Kühlschranktür zu kleben. (Was meinen Sie, welche Sprachen Gespenster verstehen?) Schließlich kam die Angelegenheit eines Mittags vor die Vollversammlung von Pilcher House, in Anwesenheit von Heimleiterin und Sgt-Major. Wie kann man die Gespenster daran hindern, Mrs G.s Konfekt aufzuessen? Alle schauten die Seniorensprecherin an, die jämmerlich versagte. Und nun muss ich ausnahmsweise den Sgt-Major loben, der einen achtungsgebietenden Sinn für Ironie bewies, es sei denn, er glaubt – was vielleicht wahrscheinlicher ist – tatsächlich an die Existenz der kleinen grünen Blitzer. »Schaffen Sie sich doch ein Kühlschrankschloss an«, schlug er vor. Einhelliger Applaus von den Ts und Vs, worauf er sich erbot, höchstpersönlich zum Baumarkt zu gehen und ihr eins zu besorgen. Ich halte Sie au courant für den Fall, dass das für eins Ihrer Bücher nützlich ist. Ich wüsste gern, ob Sie auch so viel fluchen wie Ihre Figuren. Hier flucht keiner, nur ich, aber immer nur innerlich.
Haben Sie meine gute Freundin Daphne Charteris gekannt? Vielleicht die Schwägerin Ihrer Großtante? Nein, Sie sagten ja, Sie kommen aus dem Mittelstand. Sie war eine unserer ersten Pilotinnen, Upperclass, Tochter eines schottischen Gutsbesitzers, hat eine Weile Dexter-Rinder befördert, nachdem sie ihre Lizenz hatte. Eine von nur 11 Frauen, die im Krieg eine Lancaster fliegen konnten. Hat Schweine gezüchtet und den Kümmerling von jedem Wurf immer Henry genannt, nach ihrem jüngsten Bruder. In ihrem Haus gab es ein Zimmer, das »der Kreml« hieß, da durfte selbst ihr Mann sie nicht stören. Ich hab immer gedacht, das ist das Geheimnis einer glücklichen Ehe. Jedenfalls, der Mann ist gestorben und sie ist auf den Familiensitz zurückgezogen und hat dort mit ihrem Kümmerling Henry gewohnt. Das Haus war ein Saustall, aber sie lebten da ganz zufrieden und wurden gemeinsam mit jedem Monat tauber. Als sie die Türklingel nicht mehr hören konnten, brachte Henry stattdessen eine Autohupe an. Daphne hat sich immer geweigert, einen Hörapparat zu tragen, mit der Begründung, der würde in den Baumästen hängen bleiben.
Mitten in der Nacht, wenn die Gespensterchen versuchen, Mrs Galloways Kühlschrankschloss aufzubrechen, um ihre Knickebein-Eier zu stibitzen, liege ich wach und sehe zu, wie der Mond langsam zwischen den Kiefern herumwandert, und denke an die Vorteile des Sterbens. Nicht, dass man uns die Wahl ließe. Doch, ja, man kann sich selbst umbringen, aber das schien mir schon immer vulgär und wichtigtuerisch, wie wenn Leute im Theater oder bei einem Symphoniekonzert rausgehen. Was ich damit sagen will – na, Sie wissen schon, was ich sagen will.
Hauptgründe zu sterben: Wenn man in meinem Alter ist, wird das allgemein erwartet; drohende Altersschwäche und Senilität; reine Geldverschwendung – frisst das Erbe auf –, ein hirntotes, inkontinentes altes Klappergestell in Schuss zu halten; nachlassendes Interesse an den Nachrichten des Tages, Hungersnöten, Kriegen etc.; Angst, irgendwann völlig dem Sgt-Major ausgeliefert zu sein; Wunsch zu wissen, was danach kommt (oder nicht?).
Hauptgründe nicht zu sterben: Hab noch nie gemacht, was andere von mir erwarten, also warum jetzt damit anfangen; Kummer, den man evtl. anderen bereitet (aber wenn, dann unvermeidlich, egal wann); immer noch erst bei B in Leihbücherei; wer bringt den Sgt-Major in Rage, wenn nicht ich?
-sonst fällt mir nichts mehr ein. Können Sie mir andere Gründe nennen? Ich finde, es spricht immer mehr dafür als dagegen.
Letzte Woche wurde eine der Verrückten splitterfasernackt hinten im Garten entdeckt, mit einem Koffer voller Zeitungen, wartete offenbar auf den Zug. Selbstverständlich sind bei der Altenlagerstätte weit und breit keine Züge, Lord Beeching hat ja die Nebenstrecken geschlossen.
Nun, nochmals vielen Dank, dass Sie mir geschrieben haben. Verzeihen Sie Epistolomanie.
Sylvia
P.S. Warum hab ich Ihnen das erzählt? Mit der Geschichte von Daphne wollte ich sagen, dass sie immer nach vorn geschaut hat, fast nie zurück. Das scheint Ihnen vielleicht keine große Leistung zu sein, aber ich verspreche Ihnen, es wird schwieriger.
5. Oktober 1987
Lieber Julian,
meinen Sie nicht, dass die Sprache der Kommunikation dienen soll? In meiner ersten Schule durfte ich während der Ausbildung (zur Lehrerin) nicht unterrichten, nur beim Unterricht zuhören, weil ich das tu im Passé simple falsch machte. Hätte man mir jemals Grammatik beigebracht, im Gegensatz zu Französischkenntnissen, hätte ich einwenden können, dass niemand jemals »Lui écrivis-tu?« oder dergleichen sagen würde. In meiner »Schule« lernten wir vor allem Redewendungen, ohne die Zeiten zu analysieren. Ich bekomme ständig Briefe von einer Französin mit normaler höherer Schulbildung, die fröhlich und unbekümmert »J’etait« oder »Elle s’est blessait« schreibt. Aber meine Chefin, die mich entlassen hat, sprach das französische R mit dem grässlichen erstickten Laut aus, der im Englischen üblich ist. Zum Glück ist das jetzt alles viel besser geworden, und wir sprechen »Paris« nicht mehr so aus, dass es sich auf »Mary« reimt.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mit meinen langen Briefen in senile Geschwätzigkeit verfalle. Der springende Punkt, Mister Romanautor Barnes, ist, dass Französischkenntnisse etwas anderes sind als Grammatik, und dass das für alle Lebensbereiche gilt. Ich finde den Brief nicht mehr, in dem Sie mir von der Begegnung mit einem Schriftsteller erzählen, der noch antiquierter ist als ich (Gerrady? Rechtschreibung korrekt? – ich habe ihn in der Bibliothek gesucht, aber nicht gefunden und liege bestimmt sowieso schon unter der Erde, bevor ich bei den Gs angekommen bin). Soweit ich mich erinnere, hat er gefragt, ob Sie an ein Weiterleben nach dem Tod glaubten, und Sie haben nein gesagt, und er hat erwidert: »Wenn Sie mal so alt sind wie ich, tun Sie’s vielleicht doch.« Ich sag ja nicht, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, aber eins weiß ich genau, mit dreißig oder vierzig mag man die Grammatik aus dem Effeff beherrschen, aber wenn man dann taub oder verrückt ist, muss man auch Französischkenntnisse haben. (Verstehen Sie, was ich meine?)
Oh! oh! oh! Was gäbe ich für ein richtiges croissant! Französisches Brot wird aber aus französischem Mehl gemacht. Haben die das in Ihrem Teil der Welt? Gestern Abend gab es bei uns durchgedrehtes Fleisch aus der Dose mit Kartoffeln und gebackenen Bohnen; ich wünschte, ich hätte nicht so viel Freude an gutem Essen. Manchmal träume ich von Aprikosen. Man kann hierzulande keine Aprikosen kaufen, die schmecken alle wie mit künstlichem Orangensaft getränkte Watte. Nach entsetzlicher Szene mit Sgt-Major hab ich das Mittagessen geschwänzt und mir in der Stadt ein Sandwich und einen Eisbecher mit Früchten genehmigt.
Sie schreiben, Sie haben keine Angst vor dem Sterben, es darf nur nicht dazu führen, dass Sie am Ende tot sind. Das hört sich für mich kasuistisch an. Und überhaupt, vielleicht merken Sie den Übergang gar nicht. Bei meiner Freundin Daphne Charteris hat sich das Sterben lange hingezogen. »Bin ich schon tot?«, hat sie immer gefragt, manchmal auch: »Wie lange bin ich schon tot?« Ihre allerletzten Worte waren: »Jetzt bin ich schon eine Weile tot. Ich kann keinen Unterschied feststellen.«
Hier kann ich mit niemandem über den Tod reden. Das ist nämlich morbide und wird nicht gern gesehen. Es macht keinem was aus, über Gespensterchen und Poltergeister und dergleichen zu reden, aber wenn ich auf das eigentliche Thema zu sprechen komme, sagen Heimleiterin & Sgt-Major gleich, ich soll nicht die Pferde scheu machen. Gehört alles zu meinem Kampf gegen die Tabuisierung des Todes – oder der Angst davor – als Gesprächsthema und gegen die Energie, mit der die Ärzteschaft die Sterbenden am Sterben hindern will, hirnlos geborene Babys am Leben hält & dafür sorgt, dass unfruchtbare Frauen künstliche Kinder kriegen. »Wir versuchen seit sechs Jahren, ein Kind zu bekommen« – Na schön, dann habt ihr eben keins. Neulich hatten wir abends alle zweidottrige Eier – »Warum? Ist doch komisch.« »Die geben den Hennen Fruchtbarkeitspillen, damit sie früher legen.«
Sie fragen, was ich in meinem Kühlschrank habe? Mein Portemonnaie, wenn Sie es genau wissen wollen, mein Adressbuch, meine Korrespondenz und eine Kopie meines Testaments. (Falls es mal brennt.)
Ist die Familie noch zusammen? Ihre? Noch mehr Kinder vielleicht? Ich merke schon, Sie sind auch so ein moderner Vater, und Sie machen das gut. George V. hat seine Kinder gebadet, Q. Mary nicht.
Herzl. Grüße & succès fou,
Sylvia
14. Oktober 1987
Merci, charmant Monsieur, für das Fresspaket. Leider-leider hat das Zusammenwirken von Post & Sgt-Major dazu geführt, dass die croissants nicht mehr so frisch waren, wie sie Sie verlassen haben. Ich ließ es mir nicht nehmen, diese Liebesgaben gerecht zu verteilen, und so haben alle Tauben und Verrückten je ein halbes bekommen. »Tschulligung? Tschulligung? Wasndas? Wasndas?« Denen sind schlabberige Dreicke von weißem Toastbrot mit Orangenmarmelade lieber. Was meinen Sie: Wenn ich die Reste für Dominic – noch im Fenster – durch den Briefschlitz schiebe, bekomme ich dann Hausarrest von der Heimleiterin? Sorry, nur Postkarte, schlimmer Arm.
Herzliche Grüße, Sylvia
10. Dezember 1987
Barnes steht etwa in Brusthöhe, für Brookner muss man auf den Boden runter. Ich finde, ihr »Seht mich an« ist ein herrliches Werk tragischer Literatur, anders als »König Lear«, den ich grade zum 1. Mal gelesen habe. Von ein paar Glanzstellen abgesehen, sind Handlung und Personenzeichnung völliger Quatsch. Das Paradigma (Wort eben beim Kreuzworträtsel gelernt) von des Kaisers neuen Kleidern. Nur Postkarte – der Arm.
Herzl. Grüße, Sylvia
14. Januar 1989
Lieber Julian,
(Ja! Die alte Winstanley), bitte verzeihen Sie noch mehr senile Geschwätzigkeit. Auch Zustand der Handschrift, der Nanny mit Scham erfüllen würde.
Faszinierender Film im Fernsehen über Löwenbabys, die porc-épic fressen wollen (warum épic? – Im Larousse steht, eine verderbte Form von porcospino, das war ja klar, aber warum nicht épine statt épic?). Ich mach mir eigentlich nichts aus Igeln – vor meinem Cottage war ein Viehrost, in den ständig Igel fielen. Meiner Erfahrung nach war es das Einfachste, sie mit der Hand rauszuholen, aber sie sind voller Ungeziefer und haben ausdruckslose Augen, ziemlich gemein.
Wie töricht und senil von mir, immer von Ihren Kindern zu reden, wenn Sie sagen, Sie haben keine. Bitte um Verzeihg. Natürlich denken Sie sich in Ihren Geschichten was aus.
Da ich vierundachtzig bin und noch ein hervorragendes Gedächtnis habe, weiß ich, dass zwangsläufig Zufälle eintreten, z. B. Papageien, französische Gelehrte etc. Aber andererseits der berühmte Mann aus Kunstkreisen. Und vor einem Monat habe ich erfahren, dass meine Großnichte Hortense Barret auf die Universität gehen und Agrarwissenschaft studieren will. (Zu meiner Zeit gab es Forstwirtschaft. Hatten Sie Förster? Ernsthafte junge Männer mit Lederflecken am Ellenbogen, die in Siedlungen an der Parks Road wohnten und alle miteinander zur Arbeit im Gelände auszogen?) Und in derselben Woche lese ich ein Buch über Hortensien und erfahre, dass diese Blume womöglich nach einer jungen Frau namens Hortense Barret benannt wurde, die an der Bougainville-Expedition mit dem Botaniker Commerson teilnahm. Nachforschungen ergeben, dass soundso viele Generationen dazwischen lagen, mal ehelich und mal nicht, wechselnde Namen, aber es war eine direkte Linie. Was sagen Sie dazu? Und warum musste ich ausgerechnet ein Buch über Hortensien lesen? Ich hab doch jetzt weder Topfpflanzen noch Blumenkästen. Sie sehen also, das kann man nicht alles auf das hohe Alter und ein gutes Gedächtnis schieben. Es ist, als würde mir eine geistige Kraft von außen – nicht mein eigenes Unterbewusstsein – sagen wollen: »Dass du es nur weißt: Wir haben ein Auge auf dich.« Ich bin Agnostikerin, das darf ich wohl sagen, könnte aber die Hypothese akzeptieren, dass uns etwas »führt« oder über uns »wacht«, das könnte sogar ein Schutzengel sein.
Wenn das stimmt, was dann? Ich behaupte nichts weiter, als dass ich den Eindruck habe, ich bekäme ständig einen Stoß in die Rippen. »Aufgepasst!« Und das scheint mir ein Signal zu sein. Sie können damit vielleicht gar nichts anfangen. Für mich ist das ein Hinweis auf die pädagogische Absicht des höheren Wesens. Wie das funktioniert? Keine Ahnung!
Wo ich mich nun schon im Übersinnlichen bewege – mir fällt auf, dass die Evolution des Wissens um die geistigen Kräfte fast ebenso schnell voranschreitet wie die Technologie: Ektoplasma ist so überholt wie Binsenlichter.
Mrs Galloway – die mit dem Kühlschrankschloss und den grünen Kobolden – ist »von uns gegangen«, wie die Heimleiterin das gern nennt. Hier »geht« alles Mögliche. Das geht doch nicht. Es wird schon gehen. Geht’s wieder?, erkundigen sie sich nach jedem kleinen Wehwehchen. Was jetzt wohl aus den kleinen grünen Blitzern wird, hab ich einmal beim Abendessen gefragt. Taube & Verrückte erwogen das Thema und kamen zu dem Schluss, die seien wahrscheinlich ebenfalls von uns gegangen.
Amitiés, sentiments distingués etc.
Sylvia W.
17. Januar 1989
Ich denke mir, wenn man verrückt ist und man stirbt & da wartet eine Erklärung, dann muss man erst unverrückt gemacht werden, sonst kann man die nicht verstehen. Oder glauben Sie, Verrücktsein ist auch nur ein Bewusstseinsschleier um unsere jetzige Welt, die mit anderen möglichen Welten nichts zu tun hat?
Aus der Postkarte mit der Kathedrale dürfen Sie nicht folgern, dass ich aufgehört hätte, meine eigenen Gedanken zu denken. »Bildung von Ackererde durch Tätigkeit der Würmer« aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber vielleicht auch nicht.
S. W.
19. Januar 1989
Also, Mister Romanautor Barnes,
wenn ich Sie fragen würde »Was ist das Leben?«, dann würden Sie mir wahrscheinlich zu verstehen geben, dass alles nur ein Zufall ist.
Bleibt also die Frage: Was für ein Zufall?
S. W.
3. April 1989
Sehr geehrter Mr Barnes,
vielen Dank für Ihren Brief vom 22. März. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Miss Winstanley vor zwei Monaten von uns gegangen ist. Sie ist auf dem Weg zum Briefkasten gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen, und obwohl im Krankenhaus alles für sie getan wurde, traten Komplikationen auf. Sie war eine reizende Dame und brachte zweifellos einen frischen Wind in das Leben von Pilcher House. Wir werden noch lange an sie denken und sie sehr vermissen.
Für weitere Informationen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Hochachtungsvoll,
J. Smyles (Heimleiterin)
10. April 1989
Sehr geehrter Mr Barnes,
Vielen Dank für Ihren Brief vom 5. d. M.
Bei der Räumung von Miss Winstanleys Zimmer fanden wir etliche Wertsachen im Kühlschrank. Es befand sich dort auch ein kleines Bündel mit Briefen, doch da diese im Tiefkühlfach gelagert waren und der Kühlschrank dann unglücklicherweise zum Abtauen abgeschaltet wurde, waren sie erheblich beschädigt. Zwar war der aufgedruckte Briefkopf noch zu entziffern, doch wir waren der Meinung, es könnte für die fragliche Person schmerzlich sein, sie in diesem Zustand zurückzuerhalten, daher haben wir sie zu unserem Bedauern entsorgt. Vielleicht bezog sich Ihre Anfrage darauf.
Wir vermissen Miss Winstanley noch immer sehr. Sie war eine reizende Dame und brachte während ihres Aufenthalts hier zweifellos einen frischen Wind in das Leben von Pilcher House.
Hochachtungsvoll,
J. Smyles (Heimleiterin)