RINDE

Für das Festmahl von Jean-Etienne Delacour waren nach den Anweisungen seiner Schwiegertochter Madame Amélie die folgenden Speisen zubereitet worden: Bouillon, das darin gesottene Rindfleisch, ein gegrillter Hase, geschmorte Tauben, Gemüse, Käse und Fruchtgelees. Delacour gab sich widerstrebend gesellig und gestattete, dass man ihm einen Teller mit Bouillon vorsetzte; zur Feier des Tages hob er sogar einen rituellen Löffel davon an die Lippen und blies huldvoll darauf, wonach er ihn unangetastet wieder sinken ließ. Als das Rindfleisch aufgetragen wurde, nickte er dem Diener zu, der ihm, auf separaten Tellern, eine einzelne Birne sowie eine Scheibe Rinde vorlegte, die etwa zwanzig Minuten zuvor vom Baum geschnitten worden war. Delacours Sohn Charles, seine Schwiegertochter, sein Enkelsohn, sein Neffe, die Frau des Neffen, der Curé, ein Bauer aus der Nachbarschaft wie auch Delacours alter Freund André Lagrange – sie alle machten keine Bemerkung darüber. Delacour seinerseits hielt höflich Schritt mit seiner Umgebung, indem er ein Viertel der Birne aß, während sie ihr Rindfleisch verzehrten, ein Viertel zu dem Hasen und so immer weiter. Als der Käse aufgetragen wurde, zog er ein Taschenmesser hervor, schnitt die Baumrinde in Scheiben und kaute dann jedes einzelne Stück langsam auf. Später nahm er zur Förderung des Schlafes eine Tasse Milch, ein wenig gedünsteten Salat und einen Renette-Apfel zu sich. Sein Schlafzimmer war gut gelüftet und sein Kissen mit Rosshaar gefüllt. Er trug Sorge, dass sein Brustkorb nicht von Decken niedergedrückt wurde und die Füße warm blieben. Während er sich die leinene Nachtmütze an den Schläfen zurechtzupfte, sann er zufrieden über die Torheit seiner Mitmenschen nach.

Jean-Etienne war nun einundsechzig Jahre alt. In früheren Zeiten war er ein Spieler und dazu noch ein Schlemmer gewesen, eine Mischung, die seinen Haushalt oftmals in Armut zu stürzen drohte. Wo immer Würfel gerollt oder Karten gemischt wurden, wo immer sich zwei oder mehr Tiere bewegen ließen, zum Vergnügen des Publikums um die Wette zu laufen, dort war Delacour zu finden. Er hatte beim Pharao und beim Hasard, beim Backgammon und beim Domino, beim Roulette und beim Rouge et Noir gewonnen und verloren. Er spielte mit kleinen Kindern Kopf oder Zahl, verwettete sein Pferd beim Hahnenkampf, legte mit Madame V… Streitpatiencen, und wenn er keinen Rivalen oder Gefährten fand, spielte er Solitär.

Es hieß, seine Schlemmerei habe seiner Spielleidenschaft ein Ende gesetzt. Gewiss fanden in solch einem Mann nicht beide Leidenschaften Raum, sich voll zu entfalten. Der Moment der Krisis war gekommen, als eine genudelte Gans, die man in wenigen Tagen hätte schlachten können – eine Gans, die er mit eigener Hand gefüttert hatte und die ihm schon im Vorhinein bis zum letzten Bissen auf der Zunge zergangen war –, im Handumdrehen bei einem Pikettspiel verloren ging. Eine Weile saß er zwischen seinen beiden Versuchungen wie der sprichwörtliche Esel zwischen zwei Heubündeln; doch statt zu verhungern wie das unentschlossene Tier, verhielt er sich wie ein wahrer Spieler und entschied die Sache, indem er eine Münze warf.

Danach schwoll sein Bauch ebenso an wie seine Börse, und seine Nerven wurden ruhiger. Er speiste wie ein Kardinal, wie die Italiener sagen. Er disputierte über den Genusswert all dessen, was Menschen zu sich nehmen, von Kapern bis zu Waldschnepfenfleisch; er konnte erläutern, wie die Schalotte von den heimkehrenden Kreuzfahrern in Frankreich eingeführt worden war und der Käse von Parma durch Monsieur le Prince de Talleyrand. Setzte man ihm ein Rebhuhn vor, so trennte er die Beine ab, nahm bedächtig einen Bissen von jedem, wiegte kritisch den Kopf und tat dann kund, auf welches Bein das Rebhuhn im Schlaf gewöhnlich das Gewicht gelagert hatte. Auch mit der Flasche stand er auf vertrautem Fuß. Wurden zum Dessert Trauben gereicht, so schob er sie mit den Worten beiseite: »Ich pflege meinen Wein nicht in Pillenform zu mir zu nehmen.«

Delacours Frau billigte die Wahl seines Lasters, hält die Schlemmerei den Mann doch eher im Hause als das Glücksspiel. Die Jahre vergingen, und die Silhouette von Madame begann sich der ihres Gatten anzugleichen. So lebten sie drall und sorglos dahin, bis Madame Delacour eines Tages, als sie des Nachmittags in Abwesenheit ihres Mannes eine kleine Stärkung zu sich nahm, an einem Hühnerknochen erstickte. Jean-Etienne verfluchte sich dafür, dass er seine Frau ohne Aufsicht gelassen hatte; er verfluchte seine Gourmandise, da die Teilhabe daran zum Tod seiner Gattin geführt hatte; und er verfluchte das Schicksal, den Zufall oder was immer über unsere Tage gebietet und den Hühnerknochen in just diesem mörderischen Winkel in ihrer Kehle platziert hatte.

Als sein anfänglicher Kummer sich allmählich legte, nahm Delacour Quartier bei Charles und Madame Amélie. Er widmete sich dem Studium der Jurisprudenz, und oft fand man ihn in die neun Gesetzbücher des Königreichs vertieft. Den Code rural kannte er auswendig und fand Trost in seinen Gewissheiten. Er konnte die Gesetze über das Schwärmen von Bienen und die Bereitung von Kompost aus dem Kopf hersagen; er wusste, welche Strafen auf das Läuten von Kirchenglocken während eines Sturms standen und welche auf den Verkauf von Milch, die mit Kupfertiegeln in Berührung gekommen war; Wort für Wort zitierte er die Verordnungen, die das Verhalten von Ammen, das Weiden von Ziegen in Waldgebieten und das Begraben von auf öffentlichem Straßenland aufgefundenen toten Tieren regelten.

Eine Zeit lang setzte er seine Schlemmerei fort, als wäre alles andere ein Verrat am Andenken seiner Frau; doch nun war er zwar noch mit dem Bauch, nicht aber mit dem Herzen dabei. Zur Aufgabe seiner früheren Leidenschaft bewog ihn dann ein Beschluss des Gemeinderats im Spätjahr 18.., zwecks Förderung der Hygiene und des allgemeinen Wohlergehens ein öffentliches Badehaus zu errichten. Dass ein Mann, der einst die Erfindung eines neuen Gerichts so begrüßt hatte, wie ein Astronom die Entdeckung eines neuen Sterns preisen würde, sich durch Wasser und Seife zu Temperenz und Mäßigkeit bekehren ließ, rief bei den einen Hohn und Spott hervor und bewog andere zu moralischen Belehrungen. Delacour hatte jedoch nie viel auf die Meinungen anderer gegeben.

Der Tod seiner Frau hatte ihm ein kleines Erbe eingetragen. Madame Amélie schlug vor, dieses als kluge und zugleich gemeinsinnige Geste in den Bau des Badehauses zu investieren. Um Interessenten anzulocken, hatte der Gemeinderat einen Plan ersonnen, dem eine italienische Idee zugrunde lag. Die aufzubringende Summe wurde in vierzig gleiche Anteile aufgeteilt; die Zeichner dieser Anteile mussten jeweils über vierzig Jahre alt sein. Es sollte ein Zins von zweieinhalb Prozent per annum ausbezahlt werden, und beim Tode eines Anlegers würden die auf seinen Anteil entfallenden Zinsen unter den verbleibenden Zeichnern aufgeteilt. Simple Mathematik führte zu einer simplen Versuchung: Der letzte überlebende Anleger käme vom neununddreißigsten Tod bis zu seinem eigenen in den Genuss einer jährlichen Zinszahlung, die so hoch war wie die Summe seiner ursprünglichen Einlage. Mit dem Tod des letzten Zeichners wäre die Anleihe beendet, und das Kapital würde an die von den vierzig Anlegern benannten Erben zurückgezahlt.

Als Madame Amélie ihrem Gatten diesen Plan darlegte, war er zunächst skeptisch. »Meinst du nicht, meine Liebe, dies könnte die alte Leidenschaft meines Vaters wieder aufleben lassen?«

»Es ist wohl kaum als Glücksspiel zu bezeichnen, wenn man dabei nicht verlieren kann.«

»Dies behaupten gewiss alle Spieler unablässig.«

Delacour nahm den Vorschlag der Schwiegertochter beifällig auf und verfolgte eifrig den Verlauf der Anteilszeichnung. Wann immer sich ein neuer Anleger meldete, trug er den Namen des Mannes in ein Büchlein ein und fügte das Geburtsdatum sowie allgemeine Bemerkungen über Gesundheitszustand, Erscheinungsbild und Abstammung hinzu. Als ein fünfzehn Jahre älterer Grundbesitzer dem Unternehmen beitrat, war Delacour so fröhlich wie nie seit dem Tode seiner Frau. Nach einigen Wochen war die Liste voll, worauf er an die anderen neununddreißig Zeichner schrieb, da sie nun alle gewissermaßen im selben Regiment eingestellt seien, könnten sie sich doch durch eine Besonderheit der Kleidung, zum Beispiel einen farbigen Streifen am Mantel, auszeichnen. Des Weiteren regte er an, alljährlich ein Essen für alle Anteilszeichner zu veranstalten – fast hätte er »alle überlebenden Anteilszeichner« geschrieben.

Diese beiden Vorschläge fanden nur wenig Anklang, manch einer antwortete nicht einmal; Delacour betrachtete dennoch seine Mit-Zeichner weiterhin als Kampfgefährten. Traf er einen von ihnen auf der Straße, so grüßte er ihn herzlich, erkundigte sich nach seiner Gesundheit und wechselte ein paar allgemeine Worte mit ihm, zum Beispiel über die Cholera. Mit seinem Freund Lagrange, der gleichfalls eine Anleihe gezeichnet hatte, verbrachte er lange Stunden im Café Anglais, wo sie statistische Spiele mit den Leben der anderen achtunddreißig spielten.

Das Gemeindebad war noch nicht offiziell eröffnet, als der erste Anleger starb. Jean-Etienne brachte beim Abendessen im Familienkreis einen Toast auf den allzu hoffnungsvollen und nunmehr verstorbenen Mittsiebziger aus. Später holte er sein Büchlein hervor und schrieb etwas hinein, setzte das Datum dazu und zog dann einen langen schwarzen Strich darunter.

Madame Amélie machte ihrem Gatten gegenüber eine Bemerkung über die gute Laune ihres Schwiegervaters, die ihr ungebührlich schien.

»Der Tod im Allgemeinen ist sein Freund«, antwortete Charles. »Nur sein eigener Tod ist als sein Feind zu betrachten.«

Madame Amélie überlegte kurz, ob das eine philosophische Wahrheit war oder eine hohle Plattitüde. Sie war von freundlicher Wesensart und machte sich wenig Gedanken über die wirklichen Ansichten ihres Gatten. Eher sorgte sie sich über die Art, wie er sie vortrug und die der seines Vaters immer ähnlicher wurde.

Neben einer großen, in Kupfer gestochenen Urkunde erhielten die Anleger auch das Recht zur kostenlosen Benutzung des Badehauses »für die gesamte Dauer der Kapitalanlage«. Es wurde erwartet, dass nur wenige dies in Anspruch nehmen würden, denn wer wohlhabend genug war, eine Anleihe zu zeichnen, der war gewiss auch wohlhabend genug, eine Badewanne sein Eigen zu nennen. Delacour aber begann, dieses Recht zunächst wöchentlich, dann täglich wahrzunehmen. Manch einer sah darin einen Missbrauch des Entgegenkommens der Gemeinde, doch das focht Delacour nicht an. Sein Tagesablauf folgte nun einem festen Muster. Er stand früh auf, aß ein einziges Stück Obst, trank zwei Glas Wasser und ging drei Stunden lang spazieren. Dann suchte er das Badehaus auf, wo er bald mit den Wärtern vertraut war; als Zeichner einer Anleihe stand ihm ein besonderes, nur für seinen Gebrauch reserviertes Handtuch zu. Danach machte er sich auf zum Café Anglais, wo er mit seinem Freund Lagrange die Fragen des Tages erörterte. Die Fragen des Tages beliefen sich für Delacour selten auf mehr als zwei: eine womöglich absehbare Verminderung der Liste der Anteilszeichner und die laxe Durchsetzung verschiedener Gesetze durch die Gemeindeverwaltung. Diese hatte seiner Meinung nach zum Beispiel die Höhe der Belohnungen für die Vernichtung von Wölfen nicht hinreichend bekannt gemacht: 25 Francs für eine trächtige Wölfin, 18 Francs für eine nichtträchtige Wölfin, 12 für einen Rüden, 6 für ein Jungtier, zahlbar jeweils innerhalb einer Woche nach Überprüfung der vorgelegten Beweise.

Lagrange, der ein eher kontemplativer als theoretischer Denker war, erwog diese Beschwerde. »Und doch weiß ich von niemandem«, bemerkte er sanft, »der in den letzten achtzehn Monaten einen Wolf gesichtet hätte.«

»Ein Grund mehr, das Volk zur Wachsamkeit anzuhalten.«

Als Nächstes beklagte Delacour die mangelnde Strenge und Häufigkeit, mit der Wein auf Verfälschungen untersucht wurde. Nach Artikel 38 des noch immer gültigen Gesetzes vom 19. Juli 1791 konnte eine Geldbuße von bis zu 1000 Francs und eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr Dauer verhängt werden, falls jemand Wein verkaufte, dem er Bleiglätte, Fischleim, Blauholzextrakt oder andere giftige Substanzen zugesetzt hatte.

»Du trinkst doch nur Wasser«, gab Lagrange zu bedenken. Er hob sein eigenes Glas und starrte auf den dar in enthaltenen Wein. »Zudem könnte es zu einer sehr erfreulichen Reduzierung der Liste der Anteilszeichner führen, wenn unser Wirt sich auf solche Praktiken verlegen sollte.«

»Ich habe nicht vor, auf diese Weise zu gewinnen.«

Lagrange erschrak über den harschen Ton seines Freundes. »Gewinnen«, wiederholte er. »Gewinnen, wenn du es denn so nennen willst, kannst du nur durch meinen Tod.«

»Das werde ich sehr bedauern«, sagte Delacour, der augenscheinlich nicht imstande war, sich einen andersartigen Ausgang vorzustellen.

Nach dem Café Anglais begab Delacour sich wieder nach Hause und las dort Werke über Physiologie und Ernährungsweise. Zwanzig Minuten vor dem Abendessen schnitt er sich eine frische Scheibe Baumrinde ab. Während andere ihre lebensverkürzenden Gerichte zu sich nahmen, verbreitete er sich über allgemeine Gefahren für die Gesundheit und die beklagenswerten Hindernisse für die menschliche Unsterblichkeit.

Diese Hindernisse verminderten nach und nach die Zahl der ursprünglich vierzig Anteilszeichner. Mit jedem Tod nahm Delacours Frohsinn wie auch die Strenge seiner Lebensweise zu. Bewegung, Diät, Schlaf; Regelmäßigkeit, Temperenz, Studium. Ein physiologisches Werk gab mit verschleiernden Ausdrücken und einem jähen Schwall lateinischer Ausdrücke zu verstehen, ein zuverlässiger Gesundheitsbeweis sei bei einem Menschen männlichen Geschlechts die Häufigkeit sexuellen Verkehrs. Völlige Abstinenz könne ebenso schädlich sein wie Zügellosigkeit, wenn auch nicht gar so schädlich wie gewisse mit der Abstinenz einhergehende Praktiken. Doch eine maßvolle Frequenz – zum Beispiel genau einmal pro Woche – gelte als der Gesundheit zuträglich.

Delacour ließ sich von dieser praktischen Notwendigkeit überzeugen, bat seine tote Frau um Verzeihung und traf ein Arrangement mit einer Magd im Badehaus, die er einmal wöchentlich aufsuchte. Sie war dankbar für das Geld, das er ihr zusteckte, und nachdem er sie von Zärtlichkeitsbekundungen abgehalten hatte, sah er dem Zusammensein mit Freude entgegen. Er beschloss, ihr nach dem Tod des neununddreißigsten Anteilszeichners in Anerkennung ihrer lebensverlängernden Dienste hundert Francs zu geben, oder vielleicht etwas weniger.

Weitere Anleger starben; Delacour trug die entsprechenden Daten in sein Büchlein ein und trank lächelnd auf ihr Ableben. An einem solchen Abend sagte Madame Amélie nach dem Zubettgehen zu ihrem Gatten: »Was ist der Sinn des Lebens, wenn es nur dem einen Zweck dient, andere zu überleben?«

»Jeder von uns muss den Sinn für sich selbst finden«, antwortete Charles. »Dies ist seiner.«

»Aber findest du es nicht seltsam, dass der Tod seiner Mitmenschen ihm nun anscheinend die größte Freude bereitet? Er findet kein herkömmliches Vergnügen am Leben. Seine Tage sind so geregelt, als erfülle er einen äußerst gestrengen Dienst – doch Dienst an was, Dienst an wem?«

»Die Zeichnung der Anleihe geschah auf deinen Vorschlag hin, meine Liebe.«

»Als ich diesen Vorschlag machte, konnte ich nicht voraussehen, wie er sich auf seinen Charakter auswirken würde.«

»Der Charakter meines Vaters«, erwiderte Charles scharf, »ist unverändert. Er ist nun ein alter Mann, und noch dazu Witwer. Natürlich sind seine Vergnügungen geringer geworden, und seine Interessen haben sich ein wenig gewandelt. Doch er widmet sich dem, was ihn heute interessiert, mit derselben geistigen Energie und derselben Logik, wie er sich früher dem widmete, was ihn zuvor interessierte. Sein Charakter ist unverändert«, wiederholte Charles, als habe man seinen Vater der Senilität geziehen.

André Lagrange hätte – so man ihn denn gefragt hätte – Madame Amélie beigepflichtet. Einst ein Wollüstling, war Delacour nun zum Asketen geworden; einst ein Fürsprecher der Toleranz, hatte er Härte gegenüber anderen Sterblichen entwickelt. Auf seinem Platz im Café Anglais hörte sich Lagrange eine weitschweifige Rede über die unzulängliche Durchsetzung der achtzehn Artikel zur Regelung des Tabakanbaus an. Es folgte ein kurzes Schweigen, Delacour trank einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Jeder Mensch sollte drei Leben haben. Dies ist mein drittes.«

Junggesellenzeit, Ehe und Witwerschaft, vermutete Lagrange. Oder vielleicht Spielen, Schlemmen und die Tontine. Doch Lagrange war schon seit langem kontemplativ veranlagt und wusste deshalb, dass Männer sich häufig durch ein alltägliches Ereignis, dem eine übertriebene Bedeutung zugeschrieben wurde, zu allgemeinen Aussagen bewegen ließen.

»Und ihr Name?«, fragte er.

»Es ist seltsam«, sagte Delacour, »wie sich die grundlegende Gesinnung im Verlaufe eines Lebens wandeln kann. Als ich jung war, achtete ich den Priester, ich ehrte meine Familie, ich war voller Ehrgeiz. Was die Leidenschaften des Herzens angeht, so entdeckte ich, als ich der Frau begegnete, die meine Gattin werden sollte, wie eine lange Ouvertüre bei der Liebe am Ende, mit Billigung und Beifall der Gesellschaft, zu jenen fleischlichen Freuden führt, die uns so teuer sind. Nun, da ich älter geworden bin, glaube ich weniger daran, dass der Priester uns den besten Weg zu Gott weisen kann, meine Familie ist mir oft ärgerlich, und ich habe keinen Ehrgeiz mehr.«

»Das liegt daran, dass du einen gewissen Wohlstand und eine gewisse Lebensanschauung erlangt hast.«

»Nein, es liegt eher daran, dass ich Geist und Charakter beurteile und nicht den gesellschaftlichen Rang. Der Curé ist ein angenehmer Gefährte, aber ein theologischer Narr; mein Sohn ist ehrlich, aber langweilig. Beachte, dass ich mir auf diesen Wandel meiner Weltsicht nichts zugute halte. Er ist mir lediglich widerfahren.«

»Und die fleischlichen Freuden?«

Delacour seufzte und schüttelte den Kopf. »Als ich ein junger Mann war, zu meiner Militärzeit, ehe ich meine verstorbene Frau kennen lernte, gab ich mich naturgemäß mit den Frauen ab, die sich verfügbar machten. Nichts an diesen Erfahrungen meiner Jugendzeit ließ mich die Möglichkeit ahnen, dass fleischliche Freuden zu Liebesgefühlen führen könnten. Ich bildete mir ein – nein, ich war überzeugt –, es sei stets umgekehrt.«

»Und ihr Name?«

»Das Schwärmen der Bienen«, antwortete Delacour. »Wie du weißt, ist das Gesetz eindeutig. Solange der Besitzer seinen Bienen folgt, während sie schwärmen, hat er das Recht, sie zurückzufordern und wieder in seinen Besitz zu bringen. Ist er ihnen aber nicht gefolgt, dann hat der Eigentümer des Bodens, auf dem sie sich niederlassen, einen Rechtstitel auf sie. Oder nimm den Fall der Kaninchen. Ziehen Kaninchen von einem Gehege zum anderen, so gehen sie in das Eigentum des Mannes über, auf dessen Boden das zweite Gehege liegt, es sei denn, dieser Eigentümer hat sie durch betrügerische und arglistige Mittel dorthin gelockt. Dasselbe gilt auch für Tauben. Fliegen sie auf öffentliche Ländereien, so gehören sie demjenigen, der sie tötet. Fliegen sie in einen anderen Taubenschlag, so gehören sie dem Besitzer dieses Taubenschlags, wieder vorausgesetzt, er hat sie nicht durch betrügerische und arglistige Mittel dorthin gelockt.«

»Ich kann dir nicht mehr recht folgen.« Lagrange blieb weiterhin freundlich, da ihm dergleichen verschlungene Pfade bei seinem Freund schon vertraut waren.

»Ich meine, wir schaffen uns Gewissheiten, wo es nur geht. Doch wer mag vorhersehen, wann die Bienen schwärmen? Wer mag vorhersehen, wohin die Taube fliegt oder wann das Kaninchen sein Gehege leid wird?«

»Und ihr Name?«

»Jeanne. Sie ist eine Magd im Badehaus.«

»Jeanne, die Magd im Badehaus?« Jeder kannte Lagrange als einen sanften Menschen. Jetzt stand er rasch auf und stieß seinen Stuhl zurück. Der Lärm ließ Delacour an seine Zeit bei der Armee denken, an jähe Kampfansagen und zerbrochene Möbelstücke.

»Du kennst sie?«

»Jeanne, die Magd im Badehaus? Ja. Und du musst ihr entsagen.«

Delacour verstand nicht. Das heißt, er verstand die Worte, nicht aber den Grund dafür und was sie bezweckten. »Wer mag vorhersehen, wohin die Taube fliegt?«, wiederholte er voller Freude über diese Formulierung.

Lagrange stand über ihn gebeugt, die Fingerknöchel auf dem Tisch, beinah zitternd, wie es schien. So ernst, oder so aufgebracht, hatte Delacour seinen Freund noch nie gesehen. »Im Namen unserer Freundschaft, du musst ihr entsagen«, wiederholte er.

»Du hast mir nicht zugehört.« Delacour lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und entfernte sich vom Gesicht des Freundes. »Am Anfang war es nur eine Frage der Hygiene. Ich verlangte, dass sich das Mädchen gefügig zeigte. Ich wollte keine Zärtlichkeiten von ihr – ich hielt sie davon ab. Ich schenkte ihr wenig Beachtung. Und doch, trotz alledem, habe ich angefangen, sie zu lieben. Wer mag vorhersehen …«

»Ich habe dir zugehört, und im Namen unserer Freundschaft bestehe ich darauf.«

Delacour erwog die Bitte. Nein, es war eine Forderung, keine Bitte. Plötzlich sah er sich wieder am Kartentisch und einem Gegner gegenüber, der ohne ersichtlichen Grund seinen Einsatz auf das Zehnfache erhöhte. In solchen Momenten hatte Delacour sich beim Taxieren des nichts preisgebenden Fächers in der Hand seines Gegners stets auf den Instinkt, nicht auf Berechnung verlassen.

»Nein«, erwiderte er ruhig, als lege er einen kleinen Trumpf ab.

Lagrange ging.

Delacour trank langsam sein Glas Wasser und führte sich gelassen die Möglichkeiten vor Augen. Er reduzierte sie auf zwei: Missbilligung oder Eifersucht. Missbilligung schloss er aus: Lagrange war stets ein Beobachter menschlichen Verhaltens gewesen, kein Moralist, der Kapricen verurteilte. Also musste es Eifersucht sein. Auf das Mädchen selbst oder auf das, was sie darstellte und verkörperte: Gesundheit, Langlebigkeit, Sieg? Wahrhaftig, die Anleihe trieb Männer zu seltsamem Verhalten. Lagrange war durch sie überreizt geworden, und er war in die Luft gegangen wie ein Bienenschwarm. Nun, Delacour würde ihm nicht folgen. Sollte er landen, wo immer er wollte.

Delacour setzte seine tägliche Routine fort. Dass Lagrange sich von ihm abgewandt hatte, erwähnte er niemandem gegenüber und erwartete ständig, ihn wieder im Café auftauchen zu sehen. Ihre Diskussionen oder doch Lagranges aufmerksame Anwesenheit fehlten ihm, aber allmählich fand er sich mit seinem Verlust ab. Er besuchte Jeanne nun häufiger. Sie erhob keine Einwände dagegen und hörte ihm zu, wenn er über juristische Angelegenheiten sprach, die sie nur selten verstand. Da ihr aufdringliche Zärtlichkeitsbekundungen vordem untersagt worden waren, blieb sie still und fügsam, obgleich ihr nicht entging, dass seine Liebkosungen zarter geworden waren. Eines Tages eröffnete sie ihm, dass sie ein Kind unter dem Herzen trage.

»Fünfundzwanzig Francs«, antwortete er automatisch. Sie protestierte, sie wolle kein Geld von ihm. Er entschuldigte sich – er habe gerade an etwas anderes gedacht – und fragte, ob sie sicher sei, dass es sein Kind sei. Als er ihre Zusicherung hörte – oder genauer gesagt, den Tonfall ihrer Zusicherung, der nichts von der Vehemenz einer Lüge hatte –, erklärte er sich bereit, das Kind zu einer Amme zu geben und für seinen Unterhalt zu sorgen. Die erstaunliche Liebe, die er mittlerweile für Jeanne empfand, behielt er für sich. Seiner Auffassung nach ging sie das im Grunde nichts an; es betraf ihn, nicht sie, und er meinte auch, wenn er seinen Gefühlen Ausdruck gäbe, könnten sie vergehen oder auf eine Weise kompliziert werden, nach der er kein Verlangen hatte. Er gab Jeanne zu verstehen, dass sie sich auf ihn verlassen könne; das war genug. Ansonsten freute er sich an seiner Liebe als einer Privatangelegenheit. Es war ein Fehler gewesen, Lagrange davon zu erzählen; ohne Zweifel wäre es ein Fehler, noch jemand anderem davon zu erzählen.

Einige Monate darauf verstarb Lagrange als sechsunddreißigstes Mitglied der Tontine. Da Delacour niemandem von ihrem Zerwürfnis erzählt hatte, fühlte er sich verpflichtet, zur Beerdigung zu gehen. Während der Sarg hinabgesenkt wurde, bemerkte er zu Madame Amélie: »Er hat nicht genügend auf sich geachtet.« Als er aufschaute, sah er, ganz hinten in einer Gruppe von Trauergästen auf der anderen Seite des Grabes, Jeanne stehen, das Kleid nun dick und rund gebauscht.

Das Ammengesetz war in seinen Augen wirkungslos. Dabei waren die Bestimmungen vom 29. Januar 1715 durchaus klar. Ammen durften bei Androhung einer Besserungsstrafe für die Frau und einer Geldbuße von 50 Francs für ihren Mann nicht zwei Säuglinge zugleich nähren; sie waren verpflichtet, eine eigene Schwangerschaft zu melden, sobald der zweite Monat erreicht war; desgleichen war ihnen verboten, einen Säugling in das Elternhaus zurückzuschicken, selbst im Falle unterlassener Zahlungen, stattdessen hatten sie ihre Dienste fortzusetzen und sich später vom Polizeitribunal entlohnen zu lassen. Und doch wusste jeder, dass auf diese Frauen nicht immer Verlass war. Sie trafen Vereinbarungen hinsichtlich anderer Säuglinge; sie logen über das Stadium ihrer Schwangerschaft; und wenn es zwischen Eltern und Amme zu Streitigkeiten über die Bezahlung kam, überlebte das Kind oftmals nicht die folgende Woche. Vielleicht sollte er Jeanne doch erlauben, ihr Kind selbst zu stillen, so wie sie es wollte.

Bei ihrem nächsten Zusammensein äußerte Delacour seine Verwunderung über ihre Anwesenheit am Grab. Soweit er wusste, hatte Lagrange niemals von seinem Recht auf Benutzung des städtischen Badehauses Gebrauch gemacht.

»Er war mein Vater«, antwortete sie.

Über Vaterschaft und Kindschaftsverhältnis, dachte er. Dekret vom 23. März 1803, verkündet am 2. April. Kapitel eins, zwei und drei.

»Wie?« war alles, was er herausbrachte.

»Wie?«, wiederholte sie.

»Ja, wie?«

»Auf die übliche Art, nehme ich an«, antwortete das Mädchen.

»Ja.«

»Er pflegte meine Mutter zu besuchen wie …«

»Wie ich dich besuche.«

»Ja. Er hatte mich sehr gern. Er wollte mich anerkennen, wollte mich …«

»Für ehelich erklären?«

»Ja. Meine Mutter wollte das nicht. Es kam zu einem Streit. Sie fürchtete, er werde versuchen, mich ihr fortzunehmen. Sie behütete mich gut. Manchmal spionierte er uns nach. Als meine Mutter starb, musste ich ihr versprechen, ihn nie zu empfangen oder Kontakt zu ihm zu haben. Ich versprach es. Ich dachte nicht, dass … dass die Beerdigung als Kontakt gelten kann.«

Jean-Etienne Delacour saß auf dem schmalen Bett des Mädchens. In seinem Innern war etwas ins Wanken geraten. Die Welt war nicht so vernünftig eingerichtet, wie sie sollte. Dieses Kind würde, vorausgesetzt, es überlebte die Fährnisse der Entbindung, Lagranges Enkelkind sein. Was er mir nicht verriet, was Jeannes Mutter ihm vorenthielt, was ich wiederum Jeanne verschwieg. Wir machen die Gesetze, und dennoch schwärmen die Bienen, das Kaninchen sucht sich ein anderes Gehege, die Taube fliegt in einen fremden Schlag.

»Als ich ein Spieler war«, sagte er endlich, »missbilligten die Menschen das. Sie hielten es für ein Laster. Für mich war es das nie. Mir schien es die Anwendung logischer Betrachtungsweisen auf menschliches Verhalten zu sein. Als ich ein Schlemmer war, hielten die Menschen das für Zügellosigkeit. Für mich war es das nie. Mir schien es eine rationale Herangehensweise an menschliche Freuden zu sein.«

Er sah sie an. Sie hatte offenbar keine Ahnung, wovon er sprach. Nun, das war seine eigene Schuld. »Jeanne«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Du brauchst um dein Kind keine Angst zu haben. Keine Angst, wie deine Mutter sie hatte. Es ist nicht nötig.«

»Ja, Herr.«

Beim Abendessen lauschte er dem Geplapper seines erwachsenen Sohnes und versagte es sich, zahlreiche Schwachsinnigkeiten zu korrigieren. Er kaute auf einem Streifen Baumrinde herum, doch ohne Appetit. Später schmeckte seine Tasse Milch, als käme sie aus einem Kupfertiegel, sein gedünsteter Salat stank nach Misthaufen, sein Renette-Apfel hatte die Konsistenz eines Rosshaarkissens. Als man ihn am Morgen fand, war seine leinene Nachtmütze von einer starren Hand umschlossen. Doch ob er die Mütze eben hatte aufsetzen wollen oder aus irgendeinem Grunde abgenommen hatte, konnte niemand sagen.