Drau­ßen neig­te sich die Ober­flä­che von Ti­tan.

Br­ad­ley Reynolds be­trach­te­te sie teil­nahms­los und ließ sich von den schlin­gern­den Be­we­gun­gen des Schrei­ters in leich­ten Schwin­gun­gen auf sei­ner Ko­je hin und her wie­gen. Er hat­te sich ein Kis­sen un­ter den Kopf ge­keilt, so daß er die Fens­ter­lu­ke di­rekt vor Au­gen hat­te. Bei dem stark ge­dämpf­ten Licht im Raum ge­wann die Ti­tan-Land­schaft an De­tail­reich­tum und Far­ben­pracht. Er konn­te schrof­fe Fel­sen­rif­fe er­ken­nen, die das röt­li­che Eis durch­bra­chen. Schmut­zig­grau­er Schnee, von Kies durch­setzt, kleb­te in den Spal­ten. Al­les war von die­sem durch­drin­gen­den ro­ten Glü­hen durch­tränkt – die wa­bern­de Wol­ken­de­cke am Him­mel, die glit­zern­den Am­mo­ni­ak-Eis­zap­fen, die ver­wit­ter­ten Fels­blö­cke.

Wie­der kipp­te die Sze­ne­rie. Der Schrei­ter sank mit pneu­ma­ti­schem Pfei­fen her­ab. Br­ad­ley er­kann­te den wuch­ti­gen Schlag, mit dem die Vor­der­bei­ne ruck­ar­tig nach vorn stie­ßen. Sie fan­den einen Halt, und der Schrei­ter wog­te vor­wärts. Er spür­te, wie die Stoß­dämp­fer den Schwung ab­sor­bier­ten, und dann schwan­gen die Hin­ter­bei­ne schwer­fäl­lig vor und brach­ten den Bo­den wie­der in die Waa­ge­rech­te.

Ei­ne ver­flucht un­be­hol­fe­ne Art der Fort­be­we­gung. Wie­viel leich­ter war es doch bei die­ser ge­rin­gen Schwer­kraft und in der dich­ten At­mo­sphä­re, die He­li­ko­pter zu be­nut­zen – mit Dü­sen­trieb­wer­ken und Tri­ple-Sen­sor-Na­vi­ga­ti­on und sehr schnell. Die Hub­schrau­ber hat­ten die um­fas­sen­de Er­for­schung von Ti­tan er­mög­licht, und Br­ad­ley hat­te an­ge­nom­men, daß er mit ih­nen ein paar der Kris­tall­netz-An­la­gen be­su­chen wür­de. Aber er hat­te nicht mit Na­ji­ma, dem no­mi­nel­len Lei­ter der Kui­per-Ba­sis, ge­rech­net.

Br­ad­ley hob re­si­gniert die Au­gen­brau­en. Of­fen­bar ros­te­ten sei­ne In­stink­te all­mäh­lich ein. Er hat­te aus­drück­lich ver­kün­det, daß er sich zu ei­nem Nicker­chen in sein Ab­teil zu­rück­zie­hen wol­le, denn er wuß­te, daß Na­ji­ma vor Frus­tra­ti­on bei­na­he platz­te und des­we­gen tod­si­cher un­auf­hör­lich her­um­nör­geln wür­de – und dann war er, ein­ge­lullt von dem sanf­ten Wie­gen des Schrei­ters, doch tat­säch­lich ein­ge­schla­fen. Gu­te Stra­te­gie, lau­si­ge Tak­tik.

Er schwenk­te die Bei­ne aus der Ko­je. Schon vor lan­ger Zeit hat­te er ein Ge­spür für dro­hen­de Ge­fah­ren ent­wi­ckelt, wel­ches al­le äl­te­ren Leu­te be­sit­zen, die Fä­hig­keit, un­aus­ge­gli­che­ne Kräf­te und Mo­men­te auf ei­ner zer­brech­li­chen, sprö­den Ach­se wahr­zu­neh­men. Sei­ne Knö­chel, sei­ne Knie und sein Kreuz – ver­wund­ba­re Stel­len in sei­ner Rüs­tung. Breit­bei­nig ging er über den schwan­ken­den Bo­den die drei Schrit­te bis zum Schott. Die Tür ließ sich mü­he­los öff­nen. Er hak­te sie an der Wand fest und späh­te durch die Öff­nung.

Die drei sa­ßen in run­den Ses­seln und vor ih­nen er­öff­ne­te sich die durch­sich­ti­ge Halb­ku­gel des Schrei­ters. Ge­bro­chen von dem di­cken, trans­pa­ren­ten Sicht­fens­ter schi­en die Land­schaft drau­ßen sich um sie her­um­zu­krüm­men und zu­sam­men­zu­zie­hen. Ma­ra schau­te in die vor­über­zie­hen­de Ge­gend hin­aus und schi­en nach­zu­den­ken. Tsuba­ta und Na­ji­ma re­de­ten mit­ein­an­der. Na­ji­ma al­lein be­dien­te die Steue­rung des Schrei­ters.

„… ha­be noch kei­ne ge­nau­en In­for­ma­tio­nen über die La­ge des Ein­bruchs“, sag­te Na­ji­ma so­eben in sei­ner ab­ge­hack­ten, for­schen Art, „und wenn die Ab­rutsch­be­we­gun­gen wei­ter­ge­hen …“

„Sind sie stark ge­nug, um ei­ne Um­kehr zu recht­fer­ti­gen?“ frag­te Tsuba­ta.

„Nein. Die Ab­sen­kung liegt drei­und­vier­zig Ki­lo­me­ter in die­ser Rich­tung.“ Na­ji­ma wies aus dem Fens­ter.

„Nicht so nah, daß ein Riß bis zu uns vor­drin­gen könn­te?“ Ma­ra sprach sach­lich und in­ter­es­siert.

„Wir ha­ben noch nie ei­ne so große Ein­bruch­stel­le ge­mes­sen“, sag­te Na­ji­ma; er dreh­te sei­nen Ses­sel zu Ma­ra, und Br­ad­ley zog has­tig den Kopf zu­rück. „Ich wünsch­te, wir hät­ten es. Dann könn­te ich die­sen al­ten Mann pro­blem­los nach Kui­per zu­rück­brin­gen und wä­re ihn los.“

„Sie mei­nen“, sag­te Tsuba­ta, „dann hät­ten Sie einen Vor­wand.“

„Einen so­li­den Grund“, ent­geg­ne­te Na­ji­ma steif. „Ich be­nut­ze kei­ne Vor­wän­de.“

„Die­se gan­ze Idee mit dem Schrei­ter ist ein Vor­wand“, sag­te Ma­ra.

Na­ji­ma fun­kel­te sie wü­tend an. „In­wie­fern?“

„Sie wol­len den Teil von Ti­tan vor­wei­sen, den Sie am meis­ten stu­diert ha­ben“, sag­te Ma­ra leicht­hin, als sei die Ant­wort selbst­ver­ständ­lich. „Al­so tun Sie so, als sei die­ser schep­pern­de Schrei­ter si­che­rer als ein Hub­schrau­ber.“

„Muß ich Ih­nen wirk­lich noch ein­mal er­klä­ren …“

„Brau­chen Sie nicht. Ich ha­be Ih­nen den Quatsch schon beim ers­ten Mal nicht ab­ge­kauft, und die­ser Trip zeigt, daß ich recht hat­te.“

„Ein Schrei­ter kann nicht um­kip­pen.“

„Nein, aber er kann auch nicht schwe­ben, oder? Wenn sich zum Bei­spiel un­ter ihm ei­ne Bo­den­spal­te öff­net?“

„Un­wahr­schein­lich. Bei­na­he aus­ge­schlos­sen. Und ich weh­re mich ge­gen den Aus­druck ‚Vor­wand’. Wo …“

„Hö­ren Sie, Na­ji­ma, es ist mir völ­lig schnup­pe, wie …“

„… wo­hin­ge­gen ich weiß, daß die Hub­schrau­ber jetzt, wo die Stür­me auf­kom­men, ge­fähr­lich sein kön­nen.“

„Sie ha­ben gu­te Pi­lo­ten.“

„Wir ha­ben vier Män­ner und ei­ne Frau ver­lo­ren. Die Win­de …“

Ma­ra schnauf­te. „Und wie vie­le mit den Schrei­tern?“

„Ach, ein paar.“

„Oder meh­re­re?“ Ma­ra lach­te, und Tsuba­ta, nor­ma­ler­wei­se un­er­schüt­ter­lich, grunz­te ver­gnügt.

„Al­so gut“, sag­te Na­ji­ma. „Al­les in al­lem vier. Ei­ne Klip­pe ist los­ge­bro­chen und hat sie zer­quetscht.“

„Die Un­ter­su­chung“, mein­te Ma­ra, „ist ab­ge­schlos­sen.“

Na­ji­ma fuhr fort mit sei­nen Er­klä­run­gen, aber Br­ad­ley wand­te sich ab und be­gab sich be­hut­sam au­ßer Sicht, zu­rück auf sei­ne Prit­sche. Es war amüsant, Ma­ra zu­zu­hö­ren, wie sie Na­ji­ma be­ar­bei­te­te, aber das meis­te von dem, was sie un­ab­sicht­lich ent­hüllt hat­ten, hat­te er oh­ne­hin be­reits ver­mu­tet. Er ließ sich sanft in die will­kom­me­ne Um­ar­mung sei­ner Ko­je sin­ken und schau­te wie­der aus dem Fens­ter auf ei­ne ver­wit­ter­te, brau­ne Fels­na­del, als das Ge­mur­mel der Stim­men drau­ßen plötz­lich an­schwoll.

„Al­so gwr“, sag­te Na­ji­ma scharf, „ich ver­su­che in der Tat, ihn ge­nau im Au­ge zu be­hal­ten. Zu sei­nem ei­ge­nen Bes­ten.“

„Um si­cher­zu­ge­hen, daß er Ih­nen hier nicht zu­sam­men­bricht“, sag­te Tsuba­ta schroff.

„Na­tür­lich. Sein Tod hier wür­de sich sehr un­güns­tig …“

„Wie un­an­ge­nehm“, warf Ma­ra sar­kas­tisch ein.

„… auf uns al­le aus­wir­ken“, schloß Na­ji­ma bis­sig.

„Was Sie nicht be­grei­fen, Na­ji­ma, ist, daß Br­ad­ley aus per­sön­li­chen Grün­den hier ist und nicht zu ei­ner of­fi­zi­el­len In­spek­ti­on“, sag­te Ma­ra.

„Aber er hat ge­sagt …“

„Ein Vor­wand. Sie ha­ben die­se Täu­schungs­ma­nö­ver nicht er­fun­den, wis­sen Sie.“

„Ein Vor­wand wo­für?“ Na­ji­ma klang jetzt auf­rich­tig ver­wirrt.

„Die Ef­fi­zi­enz der Kui­per-Ba­sis in­ter­es­siert ihn einen Dreck“, sag­te Tsuba­ta.

„Ih­re Füh­rungs­qua­li­tä­ten eben­falls“, füg­te Ma­ra hin­zu. „Er will das Netz se­hen. Das ist al­les.“

„Wir ha­ben ho­lo­gra­phi­sche …“

„Kei­ne Bil­der. Br­ad­ley will es er­le­ben. Er ist ko­misch in die­sen Din­gen. Er …“ Ih­re Stim­me schwank­te un­si­cher.

„Reynolds kann sich sei­ne tou­ris­ti­schen An­wand­lun­gen sonst­wo hin­ste­cken“, sag­te Na­ji­ma wü­tend.

„Rein recht­lich ist er Ihr Chef“, sag­te Tsuba­ta mit Nach­druck.

„Das hal­be Son­nen­sys­tem liegt zwi­schen uns und dem Orb. Wie­so soll­te je­mand vom Ju­pi­ter mir sa­gen, was ich auf Ti­tan zu tun ha­be?“

„Es ge­hört al­les zum sel­ben For­schungs­pro­jekt“, sag­te Ma­ra.

„Zwei völ­lig ver­schie­de­ne Din­ge“, be­harr­te Na­ji­ma.

„Ku­gel­för­mi­ge Wa­le auf dem Ju­pi­ter, su­pra­leit­fä­hi­ge Kris­tal­le auf Ti­tan – es ist Le­ben, so oder so“, sag­te Ma­ra.

„Wir wis­sen nicht, ob sie su­pra­leit­fä­hig sind“, er­wi­der­te Na­ji­ma. „Nicht über­all in der Ma­trix.“

„Sie ha­ben wirk­lich das Ta­lent, um den Kern der Sa­che her­um­zu­re­den“, sag­te Ma­ra.

„Was ist denn der Kern der Sa­che?“ frag­te Na­ji­ma ver­är­gert. „Daß man hier­her­kommt und mir mei­ne Zeit stiehlt? Ich dach­te, ich müß­te einen gu­ten Ein­druck auf die­sen al­ten Mann ma­chen, wenn ich einen grö­ße­ren Etat ha­ben will. Zum Teu­fel, acht­und­zwan­zig Leu­te, die von der Kui­per-Ba­sis aus ope­rie­ren, kön­nen nicht …“

„Be­vor Ih­nen die Si­che­run­gen durch­bren­nen“, sag­te Ma­ra, „den­ken Sie bit­te dar­an, daß wir auch nicht woll­ten, daß er her­kommt.“

„Das stimmt“, be­stä­tig­te Tsuba­ta. „Er ist zu alt da­für.“

„Dann hät­ten Sie ihn zu­rück­hal­ten sol­len“, sag­te Na­ji­ma.

Ma­ra zuck­te die Ach­seln. „Er woll­te. Auf dem gan­zen Weg, in der Be­schleu­ni­gung und mit schmer­zen­den Ge­len­ken, un­fä­hig, sich in ei­nem hal­b­en gzu be­we­gen, hat er nur von Ti­tan ge­re­det. So­gar als er ei­ne Nach­richt von der Er­de er­hielt …“

Ma­ra ver­stumm­te ab­rupt, und das schwe­re Stamp­fen der wuch­ti­gen Schrit­te des Schrei­ters er­füll­te die Stil­le.

„Wei­ter“, sag­te Na­ji­ma. „Was für ei­ne Nach­richt?“

„Seit wann steht die­se Tür of­fen?“ frag­te Ma­ra laut.

Br­ad­ley hör­te die Schrit­te von Stie­feln über den Fuß­bo­den her­an­kom­men und klapp­te die Au­gen zu. Er spür­te, daß je­mand in der Tür­öff­nung stand. „Al­les in Ord­nung“, sag­te Ma­ra in ei­nem Büh­nen-flüs­tern.

Er roll­te sich auf die Sei­te und sag­te mit schlaf­trun­ke­ner Stim­me, als sei er ge­ra­de er­wacht: „Komm her­ein.“

Ein Grin­sen er­füll­te Ma­ras Ge­sicht mit kom­pri­mier­ter Ener­gie. Sie trat ein und schloß die Tür.

„Ein sehr ge­schick­tes Aus­weich­ma­nö­ver“, sag­te Br­ad­ley.

„Was …?“

„Wie du sei­ne Auf­merk­sam­keit ab­ge­lenkt hast, nach­dem du ver­ra­ten hat­test, daß wir die­sen Funk­spruch von der Er­de er­hal­ten. hat­ten.“

„War es so of­fen­sicht­lich?“

„Für mich ja. Aber all­zu leicht zu durch­schau­en bist du nicht. Du hast mir nie ge­sagt, daß du die Nach­richt ge­le­sen hast. Sie war un­miß­ver­ständ­lich aus­schließ­lich für mei­ne Au­gen be­stimmt.“

„Na­ja …“

„Schon gut. Du weißt al­so, daß man mich zu­rück­be­or­dert hat.“

„Ja. Aber sie hat­ten nicht das Recht, dir auf hal­ber Stre­cke zum Sa­tum den Tep­pich un­ter den Fü­ßen …“

„Sie ha­ben je­des Recht. Ich hat­te ih­nen näm­lich erst ge­sagt, daß ich das Orb ver­las­sen hät­te, als wir uns schon au­ßer­halb des Ju­pi­ter-Or­bit be­fan­den.“

„Aber dich we­gen die­ser einen Dienst­pflicht­ver­let­zung zu­rück­zu­ru­fen …“

Er lä­chel­te, und sei­ne braun­ge­fleck­te Hand mach­te ei­ne ab­win­ken­de Ge­bär­de. „Das ist nur ei­ne Aus­re­de. Das An­ti-Se­ni­li­täts­ge­setz ver­bie­tet ih­nen, mich ein­fach zu feu­ern. Dar­an än­dern auch Raw­lins Be­rich­te nichts. Aber das Orb ver­las­sen? Oh­ne Ge­neh­mi­gung als Pas­sa­gier mit dem re­gu­lä­ren Ver­sor­gungs-Shutt­le nach Ti­tan flie­gen?“ Er schnalz­te mit der Zun­ge und schüt­tel­te trau­rig den Kopf. „Sie ha­ben mich, Ma­ra. Ich bin ei­ne ge­rupf­te Gans.“ Er stemm­te sich äch­zend hoch und die gelb­li­chen, schlaf­fen Fal­ten sei­nes Ge­sich­tes form­ten sich zu ei­nem re­si­gnier­ten Lä­cheln. „Für mich ist hier Schluß. Ei­gent­lich nicht schlecht – ich bin bis an die äu­ßers­ten Gren­zen der Mensch­heit ge­kom­men. So weit von der Er­de ent­fernt, wie es jetzt nur geht. Ich ha­be im­mer ein ge­wis­ses, neu­gie­ri­ges In­ter­es­se für Plu­to emp­fun­den, aber das kann war­ten. Viel­leicht gibt es ja noch an­de­re Le­ben, weißt du?“

„Sie kön­nen nicht …“

„Sie kön­nen. Ganz ein­fach.“

„Was wirst du tun?“

„Ich ge­he zu­rück. Es war rei­nes Glück, daß ich über­haupt zum Orb ge­kom­men bin. Ich ha­be die­sen Job als Be­din­gung für mei­ne Un­ter­stüt­zung des Pro­jek­tes ver­langt.“

Sie lehn­te sich ge­gen das von Schweiß­näh­ten durch­zo­ge­ne, blaue Schott und ver­schränk­te die Ar­me fest un­ter der Brust. Dann wan­der­ten ih­re Hän­de zu den Hüf­ten hin­un­ter und scho­ben sich schließ­lich dicht hin­ter ih­ren Rücken, in den en­gen Zwi­schen­raum zwi­schen ih­rem Kreuz und der Wand. „Da kann man nicht si­cher sein. Viel­leicht ver­lan­gen sie dei­nen Rück­tritt und du be­kommst ei­ne nied­ri­ge­re Po­si­ti­on.“

„Ma­ra, das Le­ben ist die Kunst, aus­rei­chen­de Schluß­fol­ge­run­gen aus nicht aus­rei­chen­den Da­ten zu zie­hen. Ich weiß, wor­auf die­se Sa­che hin­aus­läuft.“

„Aber du warst es doch, der uns auf die ein­zig rich­ti­ge Wei­se zu­sam­men­ge­führt hat. Nur des­halb konn­ten wir das Al­pha-Li­bra-Puzz­le lö­sen.“

„Na und? Jetzt ha­ben sie, was sie woll­ten.“

„Aber es gibt noch so­viel mehr. Wir ha­ben ein biß­chen Ma­the­ma­tik aus dem Al­pha-Li­bra-Zeug her­aus­ge­holt, klar, aber …“

„Das Wich­tigs­te ist zu wis­sen, daß wir es über­haupt de­co­die­ren konn­ten. Das zeigt uns, daß es grund­le­gen­de Ähn­lich­kei­ten zwi­schen ver­schie­de­nen In­tel­li­gen­zen gibt.“

„Sie kön­nen uns nicht ein­fach einen neu­en Lei­ter von au­ßer­halb vor die Na­se set­zen.“

„Tun sie auch nicht. Da­zu sind sie zu schlau.“

„Wen denn dann?“

„Viel­leicht dich, Ma­ra.“

Sie lach­te scharf und bel­lend auf und be­gann, in dem tor­ten­för­mi­gen Raum auf- und ab­zu­ge­hen. In dem email­le­ar­ti­gen Licht schi­en es Br­ad­ley, als ver­strö­me sie ei­ne in ihr auf­ge­stau­te Ener­gie. Das Deck un­ter ih­ren Fü­ßen wog­te mit den stamp­fen­den Schrit­ten des Schrei­ters. „Mich nicht. Raw­lins schon eher. Das könn­te ich mir vor­stel­len.“

„Den ha­be ich ziem­lich fer­tig­ge­macht“, sag­te Br­ad­ley, und über­rascht fühl­te er, wie Stolz in ihm auf­stieg. Bis zu die­sem Mo­ment war ihm nicht klar ge­we­sen, wie sehr sich die Wun­den der Ver­gan­gen­heit in ihm an­ge­sam­melt hat­ten, wie sich die Bit­ter­keit auf­ge­staut hat­te, für je­nen Au­gen­blick, da er Raw­lins als fer­nen, ge­schla­ge­nen Feind se­hen wür­de. Wenn man ei­ne Rech­nung als be­gli­chen an­sah, war das ein si­che­res An­zei­chen da­für, daß das Spiel, ir­gend­wo tief im In­nern, be­reits zu En­de war. Ich wer­de alt, ich wer­de alt, ich rol­le mei­ne Ho­sen auf, dach­te er. Es war Jahr­zehn­te her, daß er Eli­ot ge­le­sen hat­te – in ju­gend­li­cher Be­geis­te­rung –, aber die Zei­len ka­men ihm all­zu leicht in den Sinn.

Er fühl­te, wie der Schrei­ter er­be­bend zu Bo­den sank. Ir­gend et­was in sei­nem Ab­sin­ken ließ Ma­ra ste­hen­blei­ben. Un­ver­mit­telt trom­mel­te je­mand ge­gen die Tür und man hör­te ge­dämpf­tes, un­ver­ständ­li­ches Schrei­en. Ma­ra öff­ne­te, und Na­ji­ma stand im Tür­rah­men. „Dr. Reynolds, ich … kom­men Sie und schau­en Sie hin­aus.“

Br­ad­ley wälz­te sich wie­der von sei­ner Ko­je her­un­ter. Be­hen­de und mit all­zu bei­läu­fi­ger An­mut lan­de­te er auf sei­nen Fü­ßen. Der Bo­den hat­te sich glück­li­cher­wei­se be­ru­higt, und so schritt er auf­recht und si­cher zu sei­nem Dreh­ses­sel. „Was gibt’s?“

„Da“, sag­te Na­ji­ma schlicht. Sein Zei­ge­fin­ger war un­nö­tig; über dem Ho­ri­zont er­hob sich ei­ne röt­li­che Bla­se. Aus ih­rer von War­zen be­deck­ten Ober­sei­te wall­ten wei­ße Wol­ken hoch. Wäh­rend sie noch zu­sa­hen, brach ein neu­er Schwall aus der fle­cki­gen Haut her­vor. Mit dem aus­strö­men­den Gas wur­den dunkle Schwär­me wie Schrap­nel­le aus­ge­spien, schos­sen in stump­fen, pa­ra­bel­för­mi­gen Bah­nen hoch in den Him­mel und reg­ne­ten dann durch die dün­ner wer­den­den Wol­ken wie­der her­ab. Schwar­ze Ker­ne im feuch­ten Fleisch ei­nes Ap­fels, dach­te Br­ad­ley. „Ein Eis­vul­kan“, sag­te er.

„Ge­nau“, sag­te Na­ji­ma. „Wir wuß­ten na­tür­lich, daß es in die­ser Ge­gend ver­schlos­se­ne Druck­bla­sen gab. Aber die­se Din­ge sind nicht vor­her­seh­bar. Sie ver­ste­hen doch?“

„Ich ver­ste­he.“

„Wir müs­sen so­fort um­keh­ren …“

„Nein.“

„Es geht mir um Ih­re …“

„Ich sag­te nein.“

Na­ji­ma schwenk­te sei­nen Ses­sel her­um und nahm ein ge­dul­di­ges, ent­spann­tes Aus­se­hen an. Er ver­schränk­te die Fin­ger in­ein­an­der und be­trach­te­te Br­ad­ley, und sei­ne Au­gen glit­zer­ten wie klei­ne, schwar­ze Per­len. Br­ad­ley über­leg­te, wie er jetzt wohl am bes­ten ver­fah­ren soll­te.

„Sie ma­chen sich doch si­cher kei­ne Sor­gen we­gen der La­va, oder?“ frag­te er. Oft war es bes­ser, sei­nem Geg­ner ei­ne ein­fa­che Fra­ge zu stel­len. So ge­wann man Zeit zum Nach­den­ken.

Na­ji­ma schnapp­te nach dem Kö­der und er­ging sich in ei­ner weit­schwei­fi­gen Er­klä­rung über die Erup­ti­ons­me­cha­nis­men. Ti­tan war ein mas­si­ver Schnee­ball mit ge­fro­re­ner Krus­te und ei­nem Fels­kern im Zen­trum. Der Be­reich zwi­schen die­sen fes­ten Be­gren­zun­gen war an­ge­füllt von ei­nem Brei aus Staub, Eis und Flüs­sig­keit. Der Druck und der stot­tern­de Ver­fall des ra­dio­ak­ti­ven Ge­steins führ­te zu ei­ner all­mäh­li­chen Er­wär­mung von be­stimm­ten Re­gio­nen des Schnee­balls. Hei­ße Flüs­sig­keit drang nach oben, der Druck ver­stärk­te sich und ent­lud sich schließ­lich in ei­nem Schwall von La­va aus flüs­si­gem Me­than, Am­mo­ni­ak und Was­ser.

„Das ist kaum ge­fähr­lich“, mein­te Br­ad­ley. „Für Ti­tan-Ver­hält­nis­se recht heiß, zu­ge­ge­ben, aber im­mer noch min­des­tens fünf­zig Grad käl­ter als wir.“

Na­ji­ma schüt­tel­te sei­nen vier­e­cki­gen, kurz­ge­scho­re­nen Kopf. „Die Fels­bro­cken, die da her­aus­ge­schleu­dert wer­den …“

„Wir schei­nen uns ja nicht in ih­rer un­mit­tel­ba­ren Nach­bar­schaft zu be­fin­den“, sag­te Br­ad­ley, und es klang wie ‚Sei ein bra­ver Jun­ge’. „Man sieht, wie sie die Hän­ge her­un­ter­rol­len.“

Na­ji­mas glat­tes, dunkles Ge­sicht nahm einen ver­schlei­er­ten, wis­sen­den Aus­druck an. „Dann se­hen Sie auch die Ris­se.“

Br­ad­ley späh­te durch das di­cke Ple­xi­glas auf die Öff­nung des Vul­kans. Jen­seits der na­he­ge­le­ge­nen An­hö­hen wan­den sich Ala­bas­ter­wol­ken hin­auf in das un­ver­än­der­te Ro­sa des Him­mels. Vom selt­sam auf­ge­bläh­ten Gip­fel aus scho­ben sich fei­ne, ge­wun­de­ne Li­ni­en die Hän­ge her­ab. Wäh­rend er noch zu­sah, ver­brei­ter­ten sich ei­ni­ge von ih­nen. Aus ei­nem der Ris­se quol­len Gas­wol­ken hoch. Es sah aus, als ver­su­che der Vul­kan müh­sam, sich von sei­ner ver­krus­te­ten Haut zu be­frei­en; er war auf­ge­dun­sen und ge­schwol­len. „Spal­ten im Eis“, sag­te Br­ad­ley.

„Wenn wir in ei­ne da­von hin­ein­fal­len …“ be­gann Tsuba­ta.

„Wir kön­nen sie um­ge­hen“, ent­geg­ne­te Na­ji­ma knapp und fest. Sein Ge­sicht war zu ei­ner Mas­ke ge­wor­den.

„Nicht, wenn sie sich un­ter uns auf­tun“, sag­te Br­ad­ley. Er lä­chel­te bei sich. Ganz si­cher hat­te Na­ji­ma die Ab­sicht ge­habt, die Spal­ten als Vor­wand für die Rück­kehr zur Kui­per-Ba­sis zu be­nut­zen. Aber das Ar­gu­ment war zwei­schnei­dig; Tsuba­ta hat­te das be­merkt und dis­kret dar­auf hin­ge­wie­sen: Ge­fähr­lich war es in je­der Rich­tung – auf den Vul­kan zu und von ihm weg.

Na­ji­ma leg­te sei­nen kan­ti­gen Kopf merk­wür­dig schräg, als müs­se er nach­den­ken. „Nun, es ist im­mer …“

„Ich wür­de vor­schla­gen – in dem Be­wußt­sein, Sir, daß die­ses Fahr­zeug selbst­ver­ständ­lich im­mer noch un­ter Ih­rem Kom­man­do steht und ich le­dig­lich ein Pas­sa­gier bin –, daß wir hier ab­war­ten, bis die Un­ru­he sich ge­legt hat.“ Br­ad­ley spreiz­te freund­lich die Hän­de.

„Das kön­nen wir nicht“, sag­te Na­ji­ma.

„Wir ha­ben Vor­rä­te …“ Ma­ra woll­te hilf­reich ein­sprin­gen.

„Ja, aber in ei­ner sol­chen feind­se­li­gen Um­ge­bung wä­re es un­ver­nünf­tig, sie auf­zu­brau­chen. Und das wür­den wir, falls wir lan­ge hier­blie­ben.“ Na­ji­ma beug­te sich mit ernst­haf­ter Mie­ne vor. Den be­wußt mas­ken­haf­ten Ge­sichts­aus­druck hat­te er über dem Be­stre­ben, sich auf das Pro­blem zu kon­zen­trie­ren, ver­ges­sen. Br­ad­ley er­in­ner­te sich, daß Na­ji­ma schließ­lich an ers­ter Stel­le In­ge­nieur und erst in sehr un­ter­ge­ord­ne­ter, zwei­ter Li­nie Ver­wal­tungs­mensch war. „Das Ter­rain hier ist nicht si­cher“, fuhr Na­ji­ma fort. „Wir ste­hen auf ei­ner von Fel­sen durch­setz­ten Eis­de­cke. Es kann sein, daß sie reißt.“

„Aber doch nicht so bald?“ sag­te Br­ad­ley.

„So et­was läßt sich un­mög­lich vor­her­sa­gen.“

„Dann schla­ge ich vor, wir su­chen uns einen fes­ten Fel­sen­un­ter­grund“, sag­te Br­ad­ley.

„Ich könn­te einen Hub­schrau­ber ru­fen …“

„Der auf dem Eis lan­den soll? Das könn­te an sich schon ge­fähr­lich sein.“

„Das glau­be ich kaum.“

Br­ad­ley gab sei­nem Ge­sicht einen küh­len, di­stan­zier­ten Aus­druck. „Wie oft ha­ben Sie es schon ver­sucht?“

„Na, noch nie. Wir ver­mei­den sol­che Si­tua­tio­nen. So sind un­se­re An­wei­sun­gen.“

„Sie ha­ben al­so kei­ner­lei Er­fah­rung.“

Na­ji­ma zö­ger­te. „Nein.“

„Ich bin im­mer noch Ihr Com­man­der, Mr. Na­ji­ma.“

Na­ji­ma blick­te von Ma­ra zu Tsuba­ta und dann wie­der zu Br­ad­ley. Er hat­te rein tech­nisch im­mer noch das Kom­man­do hier. Aber es gibt ei­ne psy­cho­lo­gi­sche Kraft, die oft stär­ker ist als Le­ga­lis­men, und un­ter dem las­ten­den Schwei­gen der Drei wich Na­ji­ma schließ­lich dem Blick Br­ad­leys aus. Er räus­per­te sich tief und rum­pelnd und sag­te: „Ich glau­be, ich ha­be ver­stan­den, Sir.“

„Die Re­lais­sta­ti­on Vier ist nicht all­zu weit ent­fernt“, sag­te Br­ad­ley in neu­tra­lem Ton.

„Kön­nen wir dort un­ter­kom­men?“ frag­te Ma­ra.

„Un­se­re Sta­tio­nen sind al­le si­cher“, sag­te Na­ji­ma. Er be­trach­te­te Br­ad­ley for­schend und als müs­se er sich be­mü­hen, den An­schluß nicht zu ver­lie­ren. „Sie schei­nen ei­ne gan­ze Men­ge über un­se­re Ope­ra­tio­nen zu wis­sen, Sir.“

„Ich ma­che stets mei­ne Haus­auf­ga­ben“, sag­te Br­ad­ley. Er ließ sei­ne Stim­me gleich­för­mig und geis­tes­ab­we­send klin­gen. Vor al­lem durf­te er Na­ji­ma nicht wis­sen las­sen, wie­viel hier­von ab­hing. Wenn der Mann Ver­dacht schöpf­te, könn­te er leicht ei­ne An­fra­ge zur Er­de be­a­men. Und falls das ge­schä­he, wür­den die we­ni­gen, kost­ba­ren Ta­ge, die Br­ad­ley noch blie­ben, wei­ter zu­sam­men­schrump­fen, und die Fol­gen wür­den je­den von ih­nen tref­fen.

Der Schrei­ter ließ die schäu­men­de Vul­kan­kup­pel in zü­gi­gem Tem­po hin­ter sich. Br­ad­ley gab vor, sich wie­der aus­ru­hen zu müs­sen, und kehr­te in den wie ein Stück Tor­te ge­form­ten Ab­schnitt zu­rück, in dem sich die Schlafräu­me be­fan­den. Der Schrei­ter war ei­ne Kup­pel, die auf hy­drau­li­schen Schwing­ar­men be­fes­tigt war, und die Steu­er­ka­bi­ne nahm die Hälf­te die­ser Kup­pel in An­spruch. Der rest­li­che Teil war in drei La­ger- und Be­sat­zungs­räu­me ein­ge­teilt. Es war ein in­ter­essan­ter Kom­men­tar zur Mensch­heit, fand Br­ad­ley, daß die Pla­ner sich für ge­trenn­te Räu­me ent­schie­den hat­ten, ob­gleich je­der da­von so klein sein muß­te. Auf den ers­ten Blick hät­te man glau­ben sol­len, daß die durch das stän­di­ge Le­ben in ge­schlos­se­nen Räu­men, ab­ge­kap­selt von dem knir­schen­den Ge­fühl Ti­t­ans, her­vor­ge­ru­fe­ne Klaustro­pho­bie nach großen Räu­men ver­langt hät­te, nach ei­nem Ge­fühl von luf­ti­ger, aus­ge­dehn­ter Wei­te. Aber selbst hier woll­ten die Men­schen lie­ber ih­re Pri­vat­sphä­re be­hal­ten. Die Rei­bung, die sich aus dem stän­di­gen Kon­takt er­gab, er­wies sich als zu an­stren­gend.

Klei­ne, klei­ne Ges­ten im An­ge­sicht des Frem­den, dach­te er.

Br­ad­ley späh­te durch die wäch­ser­ne Trans­pa­renz der Fens­ter­lu­ke und ver­such­te, trotz des Ge­schau­kels einen Blick auf das zu er­ha­schen, wes­halb er her­ge­kom­men war: Die großen, kris­tal­le­nen Net­ze, die Ti­tan um­spann­ten und de­ren Na­tur im Dun­keln lag. Er wuß­te, daß es in der Nä­he ei­ne gan­ze Rei­he von ih­nen gab. Der Ti­tan-Or­bi­ter hat­te sie völ­lig über­se­hen. Un­ter der rot­brau­nen Wol­ken­de­cke span­nen die wei­ßen Fa­sern ein schein­bar un­ge­ord­ne­tes Netz. Frü­he Spe­ku­la­tio­nen hat­ten in Ti­tan so et­was wie ei­ne ei­si­ge Ur­sup­pe ge­se­hen, reich an Me­than und Am­mo­ni­ak. Das Netz schi­en al­ler­dings ei­ni­ge ölar­ti­ge Ket­ten­mo­le­kü­le zu ent­hal­ten, aber da­mit en­de­te die Ana­lo­gie zur Er­de auch. An man­chen Stel­len war das Kris­tall­ge­bil­de von simp­ler, mo­no­kli­ner Struk­tur, und an an­de­ren, da, wo sich die wei­ßen Strän­ge durch Glet­scher­spal­ten und Eis­fel­der zo­gen, ver­schmolz es zu kom­ple­xen, in­ein­an­der ver­schlun­ge­nen Ma­tri­zes. Die ers­te be­mann­te Ex­pe­di­ti­on hat­te gel­be Farb­mar­kie­run­gen in der Nä­he des Net­zes hin­ter­las­sen. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter si­cker­ten zi­tro­nen­far­be­ne Fle­cken und Tup­fen ki­lo­me­ter­weit ent­fernt her­vor. Es gab ei­ne Art von Ver­dau­ung – ein leich­ter Ab­bau des Öls, das die Män­ner ver­wen­det hat­ten –, aber kei­ner­lei Hin­weis dar­auf, wie die Ener­gie nutz­bar ge­macht wur­de. Au­gen­schein­lich lie­fer­te es die elek­tri­sche Ener­gie für die ge­le­gent­lich aus­bre­chen­den zu­cken­den Strö­me, die sich über die Ti­ta­no­ber­flä­che kräu­sel­ten, aber nicht ein­mal in die­sem ein­zel­nen, ein­fa­chen Punkt herrsch­te wirk­lich Klar­heit.

Br­ad­ley ließ sich zu­rück­sin­ken; das an­ge­streng­te Blin­zeln er­mü­de­te ihn. Na­ji­ma und die an­de­ren in der Kui­per-Ba­sis zeig­ten sich in ih­ren Be­rich­ten an­ge­sichts der Er­folg­lo­sig­keit ih­rer Ex­pe­ri­men­te im­mer wie­der von neu­em über­rascht. Die Ent­wick­lung von ge­nau­en Prüf­ver­fah­ren er­for­der­te ei­ne Ar­beits­hy­po­the­se. Aber was noch we­sent­li­cher war: Für die Ex­pe­ri­men­te be­durf­te es auch ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Me­tho­de, die von den rich­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen aus­ging.

Nach Jo­na­thons irr­wit­zi­gem Tanz, nach Co­reys Sturz in den Wahn­sinn war Br­ad­ley nicht mehr so si­cher. Al­le die­se Ent­de­ckun­gen wa­ren von den äu­ßers­ten, nack­ten Rän­dern mensch­li­cher Er­fah­rung ge­kom­men, nicht aus dem war­men, be­hag­li­chen Fleck­chen rings um das gol­den leuch­ten­de La­ger­feu­er der Mensch­heit.

Lag dar­in ei­ne Mo­ral? Die Of­fen­ba­run­gen – und wie hat­te er nach ih­nen ge­dürs­tet, oh­ne es zu wis­sen! – ka­men auf dem Vek­tor des Un­er­war­te­ten. Die Kon­sens-Rea­li­tät blieb un­frucht­bar.

Das Al­pha-Li­bra-Puzz­le war, wie sich zeig­te, nicht bis ins letz­te Kom­ma lo­gisch. Und Jo­na­thons lä­cher­li­che Lie­be zu Krei­sen als voll­kom­me­nen Kur­ven – ver­nünf­tig, un­ter ei­ner Vor­aus­set­zung, die eben­so ab­surd war wie die läp­pi­schen Re­geln des trief­äu­gi­gen, al­ten Pla­to, aber oh­ne die­se Vor­aus­set­zung … Nein, er spür­te, daß es da noch einen Mit­tel­weg ge­ben muß­te.

Und dann … viel­leicht wa­ren sei­ne Me­di­ta­tio­nen in Nord­afri­ka, so be­ru­hi­gend sie auch wa­ren, ei­ne Ab­len­kung von dem ge­we­sen, was er wirk­lich such­te. Soll­te er ver­su­chen, das Un­er­war­te­te ein­zu­fan­gen, um die­ses Ding zu fin­den, das sich durch ei­ne ver­schwom­men emp­fun­de­ne Lee­re de­fi­nier­te? Soll­te er ver­su­chen, es mit ei­nem lis­ti­gen, schnel­len Blick aus den Au­gen­win­keln zu er­ha­schen?

Ma­ra öff­ne­te die Tür einen Spalt weit und sah er­war­tungs­voll her­ein. Ih­re hoch­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en schie­nen ih­rem Ge­sicht einen frisch­ge­präg­ten Aus­druck zu ver­lei­hen, den er noch nie zu­vor ge­se­hen hat­te. Ei­ne un­be­wußt her­ab­las­sen­de Be­sorg­nis für die­ses wirr­köp­fi­ge al­te Wrack auf sei­ner über­erns­ten Missi­on?

„Komm rein“, rief er dröh­nend. „Mei­ne Fä­hig­keit zu schla­fen hat auch ei­ne Gren­ze.“

„Schla­fen, was?“ Sie trat ein und schloß die Tür. „Ich glau­be dir kein Wort.“

„Oh?“

„Du über­legst dir, wie du mit Na­ji­ma fer­tig­wirst und was du tun sollst, wenn er be­schließt, um­zu­keh­ren.“

Br­ad­ley grins­te. Einen Grund hat­te sie er­ra­ten, aber es war der we­ni­ger ver­zwei­fel­te. Er sag­te: „Ich glau­be nicht, daß er um­keh­ren wird.“

„Ge­trof­fen. Du hast ihn ein­ge­schüch­tert, und er will nicht, daß du dir ein Bein brichst, so­lan­ge er dich un­ter sei­nen Fit­ti­chen hat. Er wird in der Re­lais­sta­ti­on Vier un­ter­krie­chen, bis der Vul­kan er­lo­schen ist. Oder bis die Er­de dir die Ge­neh­mi­gung ver­wei­gert, dich über­haupt auf Ti­tan auf­zu­hal­ten.“

„Na­ji­ma ver­mu­tet doch nicht, daß ich Schwie­rig­kei­ten mit der Er­de ha­be?“

„Mög­lich wä­re es.“

„Hat er et­was ge­sagt?“

„Nur, daß es ihm nicht ge­fal­len hat, wie du so plötz­lich auf­ge­taucht bist. Er dach­te, er be­käme le­dig­lich Vor­rä­te vom Orb.“

„Ich woll­te, daß er das glaubt.“

„Da­mit er kei­ne Zeit hät­te, sich bei der Er­de zu be­schwe­ren?“

„Ja, und da­mit er sich kei­ne Mög­lich­keit aus­den­ken konn­te, mich in der Kui­per-Ba­sis fest­zu­hal­ten.“

Ma­ra setz­te sich auf das Fußen­de der Ko­je. Ih­re Stirn leg­te sich in Fal­ten, als su­che sie im Pris­ma sei­nes letz­ten Sat­zes nach ei­nem kon­ver­gie­ren­den Teil sei­nes In­nern, das wah­re Spek­trum sei­nes We­sens. „Du wirst lang­sam ziem­lich by­zan­ti­nisch, Br­ad­ley.“

„Weil ich die Er­de nicht dar­über in­for­miert ha­be, daß ich nach Ti­tan kom­me?“

„Ja. Das war ge­fähr­lich.“

„Ein Glückss­piel.“

„Was ist denn so ver­dammt wich­tig an die­sem Eis­ball? Die Ze­ta-Bot­schaft ist das We­sent­li­che …“

„Ma­ra, Ma­ra. Wie ha­ben wir am En­de das Puzz­le ent­schlüs­selt? Der kon­ven­tio­nel­len Weis­heit zu­fol­ge er­kun­det man das Uni­ver­sum, in­dem man durch ein Te­le­skop schaut.“

„Ja. Durch ein Ra­dio­te­le­skop.“

„Aber was wir schließ­lich sa­hen, ha­ben wir im Spie­gel ge­fun­den.“

„Na­ja …“

„Siehst du nicht, was mit der Ze­ta-Bot­schaft pas­siert? Ein neu­er Zweig der Wis­sen­schaft wird ge­bo­ren. Hast du die Über­sicht ge­se­hen, die wir letz­ten Mo­nat be­kom­men ha­ben?“

„Das ers­te nicht-ma­the­ma­ti­sche Ele­ment?“

„Ja.“

„Mir ist nicht klar, was es be­deu­tet.“

„Das ist nie­man­dem klar. Es gibt ei­ne Denk­schu­le, die über­setzt die­se Krin­gel mit – wie ging es noch gleich?“

„Die For­mu­lie­rung lau­tet: ‚Die Fä­hig­keit, einen Über­le­bens­vor­teil ver­grö­ßernd auf ein an­de­res We­sen zu über­tra­gen.’ Das ist ei­ne gro­be Über­set­zung.“

Br­ad­ley lä­chel­te. Im Bull­au­ge sah er sein blas­ses Spie­gel­bild; es er­in­ner­te ihn an oft ge­fal­te­tes Pack­pa­pier, ein Netz von brü­chi­gen Run­zeln. „Warum über­setzt man es nicht we­ni­ger grob mit ‚Lie­be’?“

„Hm. Mög­lich.“

„Frü­her oder spä­ter wird die Bot­schaft sol­che Fra­gen auf­wer­ten. Spe­zia­lis­ten wer­den sich in die Haa­re ge­ra­ten und die poe­ti­sche Les­art ge­gen die prak­ti­sche set­zen. Gan­ze Uni­ver­si­täts­ab­tei­lun­gen, Kon­fe­ren­zen, Dis­ser­ta­tio­nen …“

„Ich se­he im­mer noch nicht, wie Ti­tan da­bei hel­fen kann.“

„Na, in­dem er uns einen neu­en Kon­text gibt.“ Br­ad­ley war über­rascht, daß sie ihn nicht ver­stan­den hat­te. „Wir kön­nen uns nicht an ir­gend­ei­ner Il­lu­si­on von Ein­zig­ar­tig­keit mes­sen. Es sind Men­schen wie Raw­lins, die an star­re De­fi­ni­tio­nen glau­ben – sei­ne Angst vor dir wur­zelt in schlich­ter Igno­ranz. Und un­se­re Auf­ga­be ist es, die De­fi­ni­tio­nen zu er­wei­tern, bis selbst Raw­lins sie nicht mehr als Tar­nung ver­wen­den kann.“ Er fal­te­te sei­ne ver­dorr­ten, fle­cki­gen Hän­de auf dem Bauch und spür­te, wie ei­ne be­hag­li­che Schläf­rig­keit ihn zu durch­drin­gen be­gann. Und, dach­te er, selbst im Frem­den ei­ne ver­zei­hen­de See­le zu fin­den.

Stun­den spä­ter lo­der­te die Au­ßen­be­leuch­tung der Re­lais­sta­ti­on Vier auf, ein ein­la­den­des Strah­len im röt­li­chen Ta­ges­licht von Ti­tan.

Ei­ne Welt aus Rost, dach­te Br­ad­ley. Ein schma­ler Bruch­teil des sicht­ba­ren Spek­trums si­cker­te durch die Wol­ken­hül­le her­ab und tauch­te das buck­li­ge Land in ein mod­ri­ges Glü­hen. In dem grel­len Licht warf der Schrei­ter einen spin­nen­ar­ti­gen Schat­ten auf die na­he­ge­le­ge­ne schie­fer­graue Wand, die das Tal um­säum­te. Sei­ne stamp­fen­den Bei­ne wir­bel­ten Staub­wol­ken auf, als er sich rück­wärts in die Luft­schleu­se der Sta­ti­on schob.

Na­ji­ma schal­te­te die Ma­schi­ne ab und si­cher­te die Steu­er­kon­so­le. Dann sah er hin­über zu Br­ad­ley. „Ich dach­te, ich er­spa­re Ih­nen die Mü­he, einen An­zug an­zu­le­gen. Un­se­re Heck­schleu­se mün­det di­rekt in die Sta­ti­on.“

„Dan­ke, aber ich ha­be so­wie­so …“ Br­ad­ley brach ab; je we­ni­ger Na­ji­ma über die Tat­sa­che nach­dach­te, daß Br­ad­ley einen ti­tan­taug­li­chen An­zug bei sich hat­te, de­sto bes­ser. Ein An­schein von Hilf­lo­sig­keit wür­de nütz­lich sein. „Die­se wei­ßen Li­ni­en – ist das das Netz?“ frag­te er im Plau­der­ton.

„Ja, ich glau­be schon. Sie lie­gen ziem­lich dicht in die­ser Ge­gend.“

Aus dem Heck des Schrei­ters drang das Pfei­fen der Luft­schleu­se, und dann kam ein bit­ter­kal­ter Wind­stoß her­an. Br­ad­ley schau­der­te. Der Kra­gen sei­ner blau­en Ja­cke flat­ter­te schlaff im fri­schen Atem von Ti­tan. Die gu­te Iso­lie­rung des Schrei­ters ver­deck­te die Tat­sa­che, daß die Tem­pe­ra­tur in der zer­klüf­te­ten, reif­be­deck­ten Land­schaft drau­ßen hun­dert Grad un­ter dem Ge­frier­punkt von Was­ser lag. Der Hü­gel war von ro­sa­far­be­nen Eis­fle­cken be­deckt, die auf der Er­de so­gleich zu ei­nem bren­nen­den Schwall von Am­mo­niak­dunst auf­ge­blüht wä­ren.

Tsuba­tas tro­ckene Stim­me be­stä­tig­te, daß die Ver­bin­dung mit der Sta­ti­on her­ge­stellt sei. Na­ji­ma schwenk­te auf sei­nem Sitz her­um und er­hob sich, aber Br­ad­ley hob die Hand. „Wir sind auf ei­ner Art Fel­sen­in­sel, nicht wahr?“

„Ei­ne Klip­pe, die durch das Eis stößt, ja.“ Na­ji­mas klo­bi­ger Kopf wa­ckel­te zu­stim­mend. „Kei­ne Sor­ge – die­se Or­te sind die sta­bils­ten auf Ti­tan. Kui­per-Ba­sis ist nur die größ­te von ih­nen.“

„Sie könn­ten aber ab­sin­ken.“

„Un­wahr­schein­lich, Sir. Die­se Tä­ler ha­ben ein lan­ges Le­ben.“

„Wie Stei­ne in ei­nem Eis­berg.“

„Ver­mut­lich. Aber es ist ein ku­gel­för­mi­ger Eis­berg, und der Ozean ist in­nen. Das macht die Krus­te re­la­tiv sta­bil.“

Br­ad­ley nick­te. Na­ji­mas sanft­mü­ti­ge Freund­lich­keit durch­brach die rau­he Scha­le des Ba­sis-Com­man­ders, wann im­mer sich die Mög­lich­keit bot. Br­ad­leys zur Schau ge­tra­ge­ne Vor­sicht brach­te die weich­her­zi­ge Sei­te Na­ji­mas zum Vor­schein, und in den nächs­ten Ta­gen, wäh­rend ih­res Auf­ent­hal­tes in der Sta­ti­on, wür­de er an die­ser Fa­cet­te ar­bei­ten kön­nen. Falls sie sich nicht al­le ent­spann­ten und ih­re Ge­reizt­heit bän­dig­ten, wür­de es si­cher­lich Schwie­rig­kei­ten ge­ben.

„Ich neh­me an, daß das Netz das weiß?“ frag­te Br­ad­ley mil­de.

„Sie ver­mu­ten, daß es das weiß. Daß es ein Be­wußt­sein hat.“

„Ei­ne Hy­po­the­se.“

„… die un­be­wie­sen ist. Wir ha­ben kei­ner­lei Hin­wei­se auf Ner­ven …“

„Warum tre­ten sie in den si­che­ren Ge­bie­ten so ge­ballt auf?“

Na­ji­mas oli­ven­far­be­nes Ge­sicht leg­te sich in Fal­ten. „Nun ja, sie be­ste­hen größ­ten­teils aus Si­li­ka­ten und me­tal­li­schen Ele­men­ten. Es er­scheint nur na­tür­lich, daß geo­lo­gi­sche For­ma­tio­nen dort ent­ste­hen …“

„… wo ih­re Bau­stei­ne reich­lich vor­han­den sind“, schloß Br­ad­ley für ihn.

„Selbst­ver­ständ­lich.“

„Könn­te das Kris­tall­ge­bil­de nicht von sich aus die si­che­ren Be­rei­che auf­su­chen?“

„Die Vor­stel­lung, daß die elek­tro­che­mi­schen Pro­zes­se im Netz Le­ben re­prä­sen­tie­ren …“

„… ist un­mo­dern“, sag­te Br­ad­ley. „Aber das wa­ren Ho­sen auch ein­mal. Was könn­te es Ver­nünf­ti­ge­res ge­ben, falls die Kris­tall­ma­trix die win­zi­gen Ver­schie­bun­gen in der Ti­tan­krus­te wahr­neh­men kann?“

„Und wo­her wol­len wir wis­sen, daß sie das kann?“

„Wir wis­sen es nicht. Wenn vor lan­ger Zeit ein leich­ter Über­le­bens­vor­teil dar­in lag, zu wis­sen, wo das Land sich ver­schie­ben und zer­rei­ßen wür­de, dann ist das ein evo­lu­tio­närer Me­cha­nis­mus.“

Na­ji­mas ver­schlei­er­te Au­gen be­gan­nen zu glän­zen. „Wo­her wuß­ten Sie, daß das Kris­tall­netz sich be­wegt?“

„Das wuß­te ich nicht. In Ih­ren Be­rich­ten steht nichts …“

„Wir sind nicht si­cher. Wir möch­ten kei­ne Be­haup­tun­gen auf­stel­len, be­vor die Mes­sun­gen nicht ab­ge­schlos­sen sind.“

Br­ad­ley un­ter­drück­te ein La­chen. „Okay. Und was sind die vor­läu­fi­gen Er­geb­nis­se?“

„Ei­ni­ge der lan­gen Ket­ten­mo­le­kü­le schei­nen ei­ne Ver­schie­bung der Kris­tall­flä­chen aus­zu­lö­sen, die sich wel­len­för­mig durch die ge­sam­te Struk­tur fort­setzt und sie pro Jahr um ein paar Mil­li­me­ter wei­ter­be­wegt.“

„Al­so kön­nen die Kris­tall­strän­ge wan­dern. Je bes­ser das Kris­tall­netz sei­ne Um­ge­bung wahr­neh­men und ver­ste­hen kann, de­sto si­che­rer wird es.“

„Aber das Kris­tall­ge­bil­de ist nur ein Stück“, sag­te Ma­ra. Br­ad­ley sah auf. Sie hat­te of­fen­bar hin­ter ihm ge­stan­den und die Aus­ein­an­der­set­zung ge­nos­sen. Die Hüf­te vor­ge­streckt, stand sie her­aus­for­dernd da, ihr schwar­zes Haar schim­mer­te im emailar­ti­gen Licht des Schrei­ters, und ih­re Lip­pen wa­ren dun­kel be­tont.

„Na und?“

„Bei ei­nem Ein­zel­we­sen gibt es kei­ne Evo­lu­ti­on“, sag­te sie. „Es gibt kein ge­ne­ti­sches Ma­te­ri­al an ir­gend­wel­che Kin­der wei­ter. Kei­ne Re­pro­duk­ti­on, kei­ne Se­lek­ti­on.“

Na­ji­ma wirk­te er­leich­tert über die­se plötz­li­che Un­ter­stüt­zung von un­er­war­te­ter Sei­te. „Das klingt sehr ver­nünf­tig“, sag­te er.

„Wie­der kon­ven­tio­nel­le Weis­heit.“ Br­ad­ley fühl­te sich plötz­lich mü­de. „Und wenn nun je­de Fa­ser des Net­zes ein Kind ist?“

Ma­ra run­zel­te die Stirn. „Es gibt kei­nen Hin­weis …“

„Das sind Spe­ku­la­tio­nen oh­ne je­de Ba­sis“, sag­te Na­ji­ma mit ge­wich­ti­ger Ernst­haf­tig­keit, und Br­ad­ley be­griff jetzt, was ihn hier drau­ßen zu ei­nem gu­ten, so­li­den Sta­ti­ons­lei­ter mach­te. „Was wir brau­chen, Sir, sind mehr Da­ten. Da­für …“

„… brau­chen Sie wei­te­re Mit­tel“, mein­te Br­ad­ley. „Ein Syl­lo­gis­mus, der mir mög­li­cher­wei­se nicht zum ers­ten Mal un­ter­kommt.“ Er seufz­te. „Wol­len wir die­se An­ge­le­gen­heit nicht beim Es­sen er­ör­tern?“

Die Ko­cher feu­er­ten und ei­ne Mahl­zeit er­schi­en: ein ge­schmor­ter Pfann­ku­chen aus ei­nem zä­hen, un­de­fi­nier­ba­ren Zeug, Prei­sel­beer­ku­chen, Zi­tro­nen­schaum mit ei­nem merk­wür­dig kal­ki­gen Nach­ge­schmack. Am Mit­tel­tisch wur­de ge­plau­dert, und da­nach hör­te man das ver­trau­te Klap­pern und Zi­schen der Ge­schirr­spül­an­la­ge. Die­ses an­hei­meln­de Ri­tu­al ließ den Raum un­ter der Dop­pel­kup­pel der Sta­ti­on mensch­lich er­schei­nen und brach­te die vier nä­her zu­ein­an­der. Die Sta­ti­on glich an­nä­hernd ei­ner Ku­gel, um so einen größt­mög­li­chen In­nen­raum zu schaf­fen und gleich­zei­tig den peit­schen­den Ti­t­an­win­den ei­ne ge­rin­ge Ober­flä­che ent­ge­gen­zu­set­zen. Das obe­re (und wär­me­re) der bei­den Stock­wer­ke war den Quar­tie­ren vor­be­hal­ten. Auch hier hat­te das Be­dürf­nis nach Pri­vat­sphä­re Vor­rang; für je­de Per­son stand ei­ne ei­ge­ne, en­ge Zel­le zur Ver­fü­gung.

Nach dem Es­sen schlief die Un­ter­hal­tung ein. Tsuba­ta such­te sich einen Le­se­film aus, Ma­ra nahm ein aus­gie­bi­ges Dampf­bad und Na­ji­ma streif­te durch die Sta­ti­on und über­prüf­te mü­ßig die Ge­rä­te. Die Ke­ra­mik­wän­de wa­ren be­hängt mit Schrau­ben­schlüs­seln, Eis­ha­ken und Meß­leh­ren, kleb­strei­fen­um­wi­ckel­ten Häm­mern, stump­fen Zan­gen und kom­pli­zier­ten Ge­rät­schaf­ten mit Räd­chen und Buch­sen, de­ren Funk­ti­on Na­ji­ma of­fen­bar be­kannt war, wäh­rend Br­ad­ley nur ra­ten konn­te. Die Ar­beits­be­rei­che wa­ren un­auf­ge­räumt, wie im­mer, wenn nie­mand di­rekt ver­ant­wort­lich ist. Rol­len von Mes­sing­draht, aus­ge­fräs­te, fas­ri­ge Me­tall­stücke, Split­ter und Spä­ne von glän­zen­dem Kup­fer, wir­re Draht­knäu­el, Mi­kro­schalt­kreis­plat­ten – al­les lag wild durch­ein­an­der in den Werk­stät­ten ver­streut. Na­ji­ma ord­ne­te, sor­tier­te, re­gis­trier­te, la­ger­te, und all­mäh­lich wich die chao­ti­sche Flut zu­rück.

Dann be­gab sich Na­ji­ma mit klap­pern­den Stie­feln über die Trep­pe nach un­ten in die Ver­sor­gungs- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­ne. Br­ad­ley nag­te an sei­ner Un­ter­lip­pe. Er konn­te nur war­ten.

Er er­hob sich aus sei­nem Ses­sel und schau­te auf die große, schim­mern­de Sichtschei­be. Das gleich­mä­ßi­ge Zwie­licht von Ti­tan reg­te sich mit dem Wind. Staub­fah­nen ver­hüll­ten den Ho­ri­zont.

Er wand­te sich ab, ging in sei­ne win­zi­ge Kam­mer und schloß die Tür. Der Schrei­ter park­te im Erd­ge­schoß, wo Na­ji­ma jetzt her­um­stö­ber­te. Br­ad­ley über­dach­te noch ein­mal die An­la­ge der Sta­ti­on, aber es bot sich ihm nichts zu tun. Er dach­te dar­an, schla­fen­zu­ge­hen oder Ma­ra zu su­chen, um mit ihr zu plau­dern, oder noch et­was von den Le­bens­mit­tel­re­ser­ven der Sta­ti­on zu es­sen, um Ener­gie zu tan­ken. Doch dann leg­te er sich hin und stu­dier­te statt­des­sen ei­ne Kar­te von der Um­ge­bung der Sta­ti­on.

Als Na­ji­ma klopf­te, stopf­te Br­ad­ley die Kar­te un­ter das Kis­sen, be­vor er ant­wor­te­te. Aus Grün­den der psy­cho­lo­gi­schen Gleich­heit woll­te er auf sei­nen Fü­ßen ste­hen.

Mit um­wölk­ter Stirn trat Na­ji­ma ein. „Wir soll­ten un­ter vier Au­gen mit­ein­an­der re­den“, sag­te er ge­preßt.

„Sie ha­ben Kui­per ge­ru­fen.“ Es war kei­ne Fra­ge.

„Dort ist ei­ne Di­rek­ti­ve von der Er­de ein­ge­gan­gen“, sag­te Na­ji­ma for­mell. Br­ad­ley spür­te, daß der Mann ner­vös war, und sein stei­fes Ge­ha­be soll­te da­zu die­nen, Br­ad­ley auf si­che­re Di­stanz zu hal­ten.

Br­ad­ley sag­te gar nichts.

„Sie ha­ben mich be­lo­gen.“

„Nein.“

„Sie ha­ben ge­sagt, Sie be­fän­den sich auf ei­nem In­spek­ti­ons­be­such. Auf ei­ner of­fi­zi­el­len …“

„Ich ha­be im­pli­ziert, es sei of­fi­zi­ell.“

„Sie ha­ben die Im­pli­ka­ti­on im Raum ste­hen las­sen, oh­ne sie zu kor­ri­gie­ren.“

„Das stimmt.“

Na­ji­ma stemm­te die Hän­de in die Hüf­ten und fun­kel­te Br­ad­ley an. „Die Er­de wuß­te nicht, daß Sie ka­men, bis Sie schon kurz vor Ti­tan wa­ren. Als man Ih­nen be­fahl, zum Orb und dann zur Er­de zu­rück­zu­keh­ren, sand­ten Sie einen Funk­spruch und sag­ten dies zu.“

„Ich wer­de es auch tun“, ant­wor­te­te Br­ad­ley sanft.

„Die Er­de hat ei­ne Lan­dung auf Ti­tan nicht ge­neh­migt. Sie soll­ten im Or­bit blei­ben.“

„Das ist wahr.“

„Dann ge­he ich seit drei Ta­gen völ­lig un­nö­ti­ge Ri­si­ken ein. Wenn Sie hier ge­stor­ben wä­ren, un­ter mei­ner Ver­ant­wor­tung …“

„Ich weiß. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung.“

„Sie sind zu alt für so et­was, Dr. Reynolds. Ge­hen Sie zu­rück zur Er­de. Sie sind – ein Wahn­sin­ni­ger.“

„Ich weiß. Ein Wahn­sin­ni­ger.“ Br­ad­ley fühl­te, wie die Wor­te em­por­stie­gen und ihn von die­ser letz­ten Cha­ra­de be­frei­ten. „Ein ver­rück­ter, ra­sen­der Wahn­sin­ni­ger.“

Als er in je­ner Nacht im Bett lag – ei­ne künst­li­che Nacht na­tür­lich, denn Ti­t­ans röt­li­ches Leuch­ten än­der­te sich nie – und als die blas­sen Lich­ter im­mer mat­ter wur­den, lausch­te Br­ad­ley den Ge­räuschen der an­de­ren drei, die sich eben­falls in ih­re Zel­len zu­rück­zo­gen.

Tsuba­ta als ers­ter, Ma­ra nur einen Au­gen­blick spä­ter. Er soll­te mit ihr re­den, und er woll­te es auch, aber das Ge­spräch mit Na­ji­ma hat­te ihm je­des Wort ver­lei­det. Sein gan­zes Le­ben lang hat­te er nach dem rau­hen, wah­ren Ge­fühl der Din­ge ge­sucht, und nicht nach dem Schein der Wor­te, der die Rea­li­tät um­gab. Das We­sen, den Kem, das Ding hin­ter den Sym­bo­len: das war es, was er woll­te. Nicht im­mer mehr Wor­te, Be­rich­te, Ar­gu­men­te.

Er war si­cher, daß er auf der Er­de nichts So­li­des fin­den wür­de. Na­ji­ma wür­de mor­gen um­keh­ren, wenn der Vul­kan nicht mehr ak­tiv sei­nen ei­si­gen Zorn aus­spie. Zu­rück nach Kui­per und dann auf das war­ten­de Shutt­le. In ei­ner fla­chen El­lip­se zum Orb. Von da in ei­ner et­was län­ge­ren zur Er­de, und der Wahn­sin­ni­ge wä­re un­ter Dach und Fach.

Er wür­de sich in der ein­bal­sa­mie­ren­den Üp­pig­keit von Lu­na oder ei­ner der Sa­tel­li­ten­städ­te zur Ru­he set­zen. Un­ten wür­de ei­ne spar­ta­ni­sche Er­de zwei­fel­los die Ar­beit am Al­pha-Li­bra-Puzz­le und an Ti­tan fort­füh­ren. Der Wahn­sin­ni­ge durf­te viel­leicht zu­se­hen, aber mehr nicht. Er durf­te hin­un­ter­spä­hen, auf einen un­för­mi­gen, blau­wei­ßen Pla­ne­ten. Ab­ge­trennt, aus­ge­trock­net, tot. Ein al­ter Mann, der an ein sum­men­des Le­bens­er­hal­tungs-Mo­dul an­ge­schlos­sen war, der mit wäß­ri­gen Au­gen die künst­li­che Hand­lung auf dem 3-D ver­folg­te, der, in ei­ne Welt aus Kis­sen ge­bet­tet, einen Col­lie auf sei­nem Schoß strei­chel­te. Zu­frie­den­heit. Der Mü­he Lohn. Das En­de.

Nein. Nein.

Na­ji­ma ru­mor­te im­mer noch im obe­ren Stock­werk der Sta­ti­on. Br­ad­ley schloß die Au­gen, um einen Mo­ment lang aus­zu­ru­hen. Er hat­te im Schrei­ter so­viel wie mög­lich ge­schla­fen, weil er wuß­te, daß er den Schlaf brau­chen wür­de, und jetzt brauch­te er ihn.

Die Ge­räusche ver­san­ken, er be­gann zu dö­sen, und oh­ne daß er es merk­te, über­mann­te ihn der Schlaf.

Er er­wach­te lang­sam und spür­te, daß er frei von sei­nem Kör­per war. Einen un­s­te­ten Au­gen­blick lang schweb­te er, und et­was in ihm war un­schlüs­sig, ob er nun in die­sen ver­brauch­ten, runz­li­gen Ka­da­ver zu­rück­glei­ten soll­te, der da zwi­schen den Kis­sen hin­ge­streckt lag, oder ob er hin­aus­we­hen soll­te, zu ei­ner neu­en, ne­bel­haf­ten Be­stim­mung. Und wäh­rend er die­se Fra­ge er­wog, schwoll das bun­te Sum­men und Plät­schern des Le­bens in ihm an: die kör­ni­ge Be­schaf­fen­heit der be­harr­lich wi­der­ste­hen­den ma­te­ri­el­len Welt, die Freu­den­des Zu­sam­men­seins mit an­de­ren, ei­nes ein­fa­chen Schwat­zes über ei­ner Tas­se Kaf­fee, die Freu­den der Ar­beit und der Ru­he nach der Ar­beit. Al­les lag vor ihm aus­ge­brei­tet wie bei ei­nem un­ge­heu­ren Fest, et­was, was je­den Tag von neu­em er­grif­fen und ge­won­nen wer­den muß­te. Er er­wach­te un­ter dem sach­li­chen Sur­ren der Ven­ti­la­ti­on, und sein Er­wa­chen war ein will­kür­li­cher Akt, als hät­te er einen An­ker los­ge­las­sen und trie­be jetzt trä­ge an die Ober­flä­che.

Es war Zeit. (Ja, dar­an war kein Zwei­fel.) Zeit war es. Zeit. Zeit. Zeit.

Er stand auf und öff­ne­te die Tür einen Zen­ti­me­ter weit. Stil­le. Die Lich­ter der Sta­ti­on brann­ten ge­dämpft. Er trat in den Schat­ten des Kor­ri­dors hin­aus.

Bei der nächs­ten Tür blieb er ste­hen und lausch­te. Er hat­te plötz­lich ei­ne Vi­si­on von Ma­ra und Tsuba­ta, wie sie in­ein­an­der ver­schlun­gen hin­ter die­ser Tür la­gen, glat­te Glied­ma­ßen auf zer­knüll­ten La­ken, ei­ne Ein­heit, die er bis zu ei­nem be­stimm­ten Grad ar­ran­giert hat­te. Hat­te er das Fri­sche, das Prak­ti­sche in Tsuba­ta ge­se­hen und Ma­ra sanft in die­se Rich­tung ge­drängt? Es war kein Zu­fall, daß die­se neu­en Män­ner oft, zu­min­dest kul­tu­rell, aus Asi­en ka­men und mit si­che­rer An­mut ei­ne Welt be­tra­ten, die der Wes­ten einst grell­bunt ge­färbt hat­te. Sie wa­ren ein Teil des Pen­del­schwungs der mensch­li­chen Ge­schich­te: Ost, West, Ost, West. Viel­leicht wü­de Ti­tan sich am En­de sol­chen Män­nern er­ge­ben. Aber in an­de­rer Hin­sicht war Br­ad­ley da nicht so si­cher. Dem Os­ten fehl­te ei­ne Ei­gen­schaft, die der Wes­ten be­saß – war es Dreis­tig­keit oder schlich­te Dumm­heit? –, und er fürch­te­te, die­ses Ele­ment könn­te der Schlüs­sel zu dem sein, was hier ver­bor­gen lag.

Er schüt­tel­te die be­sinn­li­che Stim­mung ab und schob sich den Gang hin­un­ter. Er be­weg­te sich be­hut­sam. Die Trep­pe, die zur un­te­ren Ebe­ne hin­un­ter­führ­te, vi­brier­te schwach un­ter sei­nen ge­dämpf­ten Schrit­ten. Er durch­quer­te die kreis­för­mi­ge un­te­re Werk­statt und zwäng­te sich zwi­schen Sta­peln von Ma­te­ri­al hin­durch. In ei­ner recht­e­cki­gen Ni­sche hing ei­ne Ma­schi­ne wie ein rie­si­ges Me­tallba­by, das dar­auf war­te­te, ge­ba­det und ge­wi­ckelt zu wer­den.

Br­ad­ley er­reich­te die Stel­le, wo Sta­ti­on und Schrei­ter mit­ein­an­der ver­bun­den wa­ren, und mach­te ei­ne Pau­se. Kam die­ses ge­le­gent­li­che schwa­che Stamp­fen von oben, von dem ru­he­lo­sen Na­ji­ma? Er ver­such­te an­ge­strengt, das Ge­räusch zu ent­schlüs­seln. Die Ärz­te be­haup­te­ten, daß ih­re Küns­te sein Ge­hör auf dem Stand ei­nes Drei­ßig­jäh­ri­gen ge­hal­ten hät­ten, aber er wuß­te, daß er die tie­fen, dröh­nen­den Klän­ge von Mu­sik und wahr­schein­lich auch an­de­re Tö­ne, wie dün­nes Wis­pern oder fer­ne Ge­sprä­che, nicht mehr wahr­nahm.

Un­be­wußt streck­te er ei­ne Hand aus, und plötz­li­che, ste­chen­de Käl­te ließ ihn zu­rück­fah­ren. Die Wand der Werk­statt hat­te ih­re nor­ma­le, ei­si­ge Tem­pe­ra­tur be­wahrt; die Sta­ti­on hat­te sich noch nicht völ­lig für ih­re Gäs­te er­wärmt. Sie ver­brach­te lan­ge Mo­na­te un­ter Ti­tan-Tem­pe­ra­tu­ren, ein Stück die­ser Welt, und selbst ih­re Luft la­ger­te dann als flüs­si­ge Brü­he in den Tanks.

Das Ge­räusch wie­der­hol­te sich nicht. Br­ad­ley wuß­te, daß er nicht gut ge­nug hör­te, um zu mer­ken, wenn er ver­folgt wür­de, zu­min­dest dann nicht, wenn er den Schrei­ter be­tre­ten hät­te. Sei’s drum; von hier gab es kein Zu­rück mehr. Er trat durch die Schleu­se des Schrei­ters in die An­zug­kam­mer.

Der Schrei­ter war für fle­xi­ble Ein­sät­ze kon­stru­iert, und da­zu ge­hör­te auch die Mög­lich­keit, daß ein ver­letz­tes oder schwa­ches Be­sat­zungs­mit­glied al­lein auf Ti­tan hin­aus­ge­hen muß­te. Vier Schutz­an­zü­ge hin­gen an schwenk­ba­ren Stän­dern. Br­ad­ley schwenk­te sei­nen An­zug her­aus und ließ ihn auf der au­to­ma­ti­schen An­klei­de­platt­form ein­ras­ten. Die Iso­la­ti­on mach­te den An­zug un­för­mig, und er be­weg­te sich schwer­fäl­lig.

Br­ad­ley schob sich rück­wärts in die Um­hül­lung. Das S-för­mig ge­schwun­ge­ne An­zug­fut­ter schmieg­te sich dicht an ihn. Er beug­te sich vor und schlän­gel­te sei­ne Ar­me nach hin­ten in die Är­mel­röh­ren. Müh­sam und an­ge­spannt zwäng­te er den Kopf durch den Hals­ring. Das Ge­stell trug zwar den An­zug und leg­te ihn au­to­ma­tisch an, aber es hielt ihn, wie je­mand mit zitt­ri­gen Hän­den einen Leich­nam hält. Br­ad­ley rich­te­te sich auf, drück­te auf einen Knopf, und der An­zug schloß sich auf dem Rücken. Der Helm senk­te sich sanft auf den Hals­ring her­ab. Ein letz­ter kur­z­er Ruck, und die Ver­rie­ge­lung ras­te­te ein.

Br­ad­ley über­prüf­te me­tho­disch die in­ter­nen Sys­te­me und ruh­te sich für einen Mo­ment aus. Im Helm­ra­dio hör­te er das leb­lo­se Pie­pen des Peil­si­gnals der Sta­ti­on. An­de­ren Funk­ver­kehr gab es nicht. Es war sinn­los, noch zu war­ten, sag­te er sich; er lös­te den An­zug von dem Stän­der, und das Ge­wicht sank wie ei­ne De­cke auf sei­ne Schul­tern. Er mach­te einen Schritt und dann noch einen. Ein Fuß­ge­lenk pro­tes­tier­te. Den­noch, es wür­de ge­hen. Sei­ne schwer be­la­de­ne Ge­stalt wank­te vor­an.

Es war si­che­rer, viel si­che­rer, wenn er durch die klei­ne­re Schleu­se des Schrei­ters hin­aus­ging. Er trat zu der In­stru­men­ten­säu­le, die aus dem Bo­den des Schrei­ters em­por­rag­te, und gab ein paar In­struk­tio­nen ein. Ei­ne lang­sa­me Zy­klus­ra­te; das wür­de das Pum­pen­ge­räusch nied­rig­hal­ten. In sei­nem An­zug hör­te er nichts, aber der Schrei­ter ab­sor­bier­te wahr­schein­lich den größ­ten Teil der Ge­räusche von der Schleu­se, ehe sie in die Sta­ti­on drin­gen konn­ten. Zu­min­dest hoff­te er das. Es war ent­schei­dend, daß er sich un­be­ob­ach­tet von der Sta­ti­on ent­fer­nen konn­te, da­mit sie nicht wuß­ten, in wel­che Rich­tung sie ihn ver­fol­gen soll­ten.

An der Schleu­se leuch­te­te das grü­ne Licht auf. Br­ad­ley öff­ne­te die Klap­pe. Sie ließ sich leicht zu­rück­le­gen, und un­be­hol­fen klet­ter­te er in die Schleu­sen­kam­mer. Er lös­te den Pum­pen­zy­klus aus und war­te­te, daß die näh­ren­de mensch­li­che Luft ab­si­cker­te. Durch sei­ne Stie­fel spür­te er, wie mit ei­nem Schwall et­was an­de­res in die Schleu­se her­ein­drang: der dün­ne, leicht duns­ti­ge Eis­hauch von Ti­tan. Dann öff­ne­te sich die un­te­re Lu­ke, und er trat hin­aus in das Ant­litz des Au­ßer­ir­di­schen.

Mit ei­nem freu­di­gen Hoch­ge­fühl emp­fand er die Be­frei­ung von der scha­len En­ge der Sta­ti­on. Und mehr noch: Er hat­te recht ge­habt. Die­se Welt war ein neu­er Ort, frisch und selt­sam glit­zernd, wenn man sie so sah. Die di­cken Bullau­gen des Schrei­ters hat­ten die­se ge­fro­re­ne Ga­le­rie ei­ner Welt ver­zerrt und ge­bro­chen, wie ein Aqua­ri­um, das Fi­sche zu auf­ge­dun­se­nen, kunst­lo­sen Krea­tu­ren auf­quel­len läßt. Jetzt war er frei da­von.

Er trat aus dem schüt­zen­den, kreis­run­den Schat­ten des Schrei­ters her­aus. Der fle­cki­ge Him­mel hing schwer über ihm. Der sprö­de Bo­den knirsch­te un­ter sei­nen Fü­ßen. Et­was be­weg­te sich zu sei­nen Fü­ßen, und über­rascht sah er ein paar Me­ter vor sich einen klei­nen Wir­bel­wind, in dem sich Staub­teil­chen und Flo­cken in ei­ner ei­si­gen Spi­ra­le dreh­ten. Ein kreis­för­mi­ges We­sen, sicht­bar ge­macht erst durch die Last, die es trug. Es sprang in die Hö­he, saug­te den Bo­den auf und wich vor Br­ad­ley zu­rück. Er ging wei­ter und mit­ten hin­durch; halb er­war­te­te er die Be­rüh­rung des Win­des zu spü­ren. Als er zu­rück­schau­te, war der tan­zen­de Krei­sel ver­schwun­den.

Er sah hin­über zu den matt er­leuch­te­ten Lu­ken der Sta­ti­on und des Schrei­ters. Nichts rühr­te sich. Kein Ge­sicht späh­te her­aus, er­schreckt, weiß und mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen. Nur die Ab­gas­aus­läs­se, die in die Wän­de der Sta­ti­on ein­ge­las­sen wa­ren, wand­ten sich mit ei­nem er­starr­ten Aus­druck von über­rasch­ter Be­stür­zung nach oben.

Ein Wind­stoß jag­te über die freie Flä­che rings um die Sta­ti­on, auf der Flucht vor ei­nem dunklen Strei­fen am Ho­ri­zont. Wo­mög­lich brau­te sich ein Sturm zu­sam­men. Wenn er nur kräf­tig ge­nug wür­de, dann könn­te Na­ji­ma kei­ne Hub­schrau­ber her­bei­ru­fen, um nach ihm zu su­chen. Ein gu­tes Zei­chen, aber zu­nächst muß­te Br­ad­ley aus der Um­ge­bung der Stadti­on ver­schwin­den.

Er mach­te sich auf den Weg, und ab­sicht­lich setz­te er sei­ne Schrit­te im Takt sei­ner fla­chen At­mung, um zu ei­nem Rhyth­mus zu ge­lan­gen. Er mar­schier­te berg­auf. Er hat­te sich die Kar­te die­ser Ge­gend ins Ge­dächt­nis ein­ge­prägt und schätz­te, daß der Schrei­ter den Ge­birgs­kamm, der sich vier Ki­lo­me­ter ent­fernt hin­zog, nicht über­win­den konn­te. Wenn sie ihn da­mit ver­folg­ten, wür­den sie einen lan­gen Um­weg ma­chen müs­sen, par­al­lel zu dem Kamm bis zu ei­nem Durch­bruch, der sechs Ki­lo­me­ter wei­ter nörd­lich lag. Bis da­hin müß­te er den Be­reich, in dem die Li­ni­en des Net­zes am dich­tes­ten wa­ren, er­reicht ha­ben; er lag gleich hin­ter dem Gip­fel des Berg­kam­mes.

Fros­ti­ge Schlei­er weh­ten her­ab. Br­ad­ley fand, daß das Land in sei­nem ei­ge­nen Licht viel leuch­ten­der er­schi­en als im In­nern des Schrei­ters. Die Wol­ken­bän­ke ver­streu­ten ih­re trü­be Strah­lung gleich­mä­ßig und ver­teil­ten die Ener­gie, die von der un­sicht­ba­ren Son­ne her­ab­si­cker­te. Auch Ti­tan hat­te ei­ne ge­ring­fü­gig käl­te­re Nacht­sei­te, aber das Licht drang durch die dich­te Luft bis dort­hin und ver­bann­te je­de wirk­li­che Nacht. Nicht ein­mal Sa­turn mit sei­nen leuch­ten­den Strei­fen war durch die Wol­ken­schich­ten zu er­ken­nen.

Br­ad­ley warf einen Blick zu­rück. Die Sta­ti­on war hin­ter ei­ner zer­klüf­te­ten An­hö­he ver­schwun­den. Das Ge­län­de hier war dun­kel und me­tal­lisch wie ei­sen­hal­ti­ger Lehm. Sei­ne Stie­fel wir­bel­ten fei­nes Pul­ver auf. Er hör­te nichts als sei­nen ei­ge­nen seuf­zen­den Atem und das ge­le­gent­li­che Pfei­fen sei­nes An­zugs, wenn die­ser ir­gend­wel­che Druck­kor­rek­tu­ren vor­nahm. Er konn­te die­se Welt zwar se­hen, aber er konn­te sie we­der rie­chen noch hö­ren, we­der füh­len noch schme­cken. Er war ein Ali­en un­ter Glas.

Plat­schend durch­quer­te er ei­ne Pfüt­ze. Sie sah aus wie Was­ser, aber ein Trop­fen, der auf sei­ne Sichtschei­be ge­spritzt war, ver­dampf­te so­gleich zu ge­kräu­sel­tem Dunst. Am­mo­ni­ak? Er knips­te die Hand­lam­pe an, und der zi­tro­nen­gel­be Licht­strahl hüpf­te und tanz­te über die zer­ris­se­ne Ober­flä­che des Tüm­pels. Er schal­te­te das Licht wie­der aus, für den Fall, daß man auf der Sta­ti­on über ei­ne Mög­lich­keit ver­füg­te, so weit zu se­hen, und der Kon­trast ließ die Um­ge­bung für einen Au­gen­blick noch trüber er­schei­nen.

Mit po­chen­dem Her­zen mar­schier­te Br­ad­ley wei­ter. Der Auf­stieg er­wies sich als an­stren­gen­der als er er­war­tet hat­te, selbst in die­ser ge­rin­gen Gra­vi­ta­ti­on. Er fand es plötz­lich ver­wun­der­lich, daß ein sol­cher Mond, des­sen Gra­vi­ta­ti­on kaum stär­ker war als die von Lu­na, ei­ne der­ar­tig di­cke At­mo­sphä­re be­saß. Die schreck­li­che Käl­te war das Ge­heim­nis.

Me­than und Was­ser­stoff wa­ren so trä­ge, daß sie nur lang­sam aus der Fla­sche der Schwer­kraft her­aus­si­ckern konn­ten. In sei­ner di­cken Iso­lie­rung spür­te Br­ad­ley nichts als das be­ru­hi­gen­de Rei­ben und Stre­cken des Schutz­an­zugs. Er blieb einen Mo­ment ste­hen und ließ sein Was­ser in das Uri­nal des An­zugs lau­fen. Er keuch­te ein we­nig. In sei­ner Phan­ta­sie sah er sich den An­zug öff­nen und di­rekt auf Ti­tan pin­keln. Beim Auf tref­fen wür­de der gel­be Strahl au­gen­blick­lich ge­frie­ren, und die Käl­te wür­de sich aus­brei­ten, den Strahl hin­auf, und die dün­ne, blas­se Was­ser­säu­le wür­de in Se­kun­den kris­tal­li­sie­ren, wo­bei das ge­lös­te Am­mo­ni­ak viel­leicht frei wür­de, wäh­rend die Käl­te die Spit­ze sei­nes Pe­nis er­reich­te und sich in sei­ne Ein­ge­wei­de er­gos­se, ein Or­gan nach dem an­de­ren er­grif­fe und sich aus­brei­te­te, bis er zu Stein er­starrt wä­re.

Gro­tesk, ja, und ko­misch, ja. Br­ad­ley stampf­te mit dem Fuß auf, um ei­nem krib­beln­den Ge­fühl zu be­geg­nen, und ging dann wei­ter.

„Br­ad­ley. Br­ad­ley!“

Ma­ras Stim­me. Ver­dat­tert blieb er ei­ne Se­kun­de lang ste­hen und setz­te sich dann wie­der in Gang.

Es hat­te kei­nen Sinn zu ant­wor­ten. Sie könn­ten sei­ne Trä­ger­wel­le an­pei­len und die Rich­tung be­stim­men.

„Br­ad­ley, komm zu­rück!“

Er kämpf­te sich durch ein Feld von klo­bi­gen, zer­narb­ten Stei­nen. Ro­sa­far­be­ner Schnee weh­te um sei­ne Fü­ße. Er muß­te vor­sich­tig sein. Wenn er stürz­te, könn­te er sich einen Kno­chen bre­chen, und das wä­re das En­de sei­ner Rei­se.

„Er hört nicht“, sag­te Ma­ra lei­se.

„Er muß uns hö­ren.“ Na­ji­mas Stim­me klang ner­vös, aber fest. Das Ra­diorau­schen ver­schluck­te sei­ne nächs­ten Wor­te, und dann sag­te er: „Wir müs­sen jetzt einen Such­plan in Gang set­zen.“

Ma­ra: „Wie?“

„Luft­un­ter­stüt­zung … nein, das wür­de wohl zu lan­ge dau­ern.“

Br­ad­ley stapf­te wei­ter. Sein Atem war jetzt ein rau­hes Keu­chen.

„Wel­che Rich­tung mag er ge­nom­men ha­ben?“ frag­te Tsuba­ta, und sei­ne Stim­me klang hohl.

Ma­ra: „Ich weiß nicht … Mo­ment. Zu dem Kris­tall­ge­bil­de. Na­tür­lich.“

Tsuba­ta: „Das ist es, was er will.“

Ma­ra: „Ja.“ Pau­se. „Ja.“

Na­ji­ma: „Ich könn­te Luft-Bo­den-Über­wa­chungs­glei­ter star­ten. Da­mit kann man Be­we­gun­gen aus­ma­chen.“

Ma­ra: „Er könn­te den Start se­hen.“

Na­ji­ma: „Na und? Wenn er nicht ge­se­hen wer­den will, müß­te er ste­hen­blei­ben. Sie wür­den zu­min­dest sein Fort­kom­men ver­lang­sa­men.“

Ma­ra: „Gut. Gut. He, das Ra­dio. Er kann …“

Die Lei­tung war tot.

Mit pen­deln­den Ar­men be­schleu­nig­te Br­ad­ley sei­nen Schritt. We­ni­ge hun­dert Me­ter vor ihm rag­te der Fels­kamm zer­klüf­tet in den ro­sa­far­be­nen Him­mel. Er roll­te den zä­hen Kem ei­ner ge­trock­ne­ten Frucht auf der Zun­ge und be­ar­bei­te­te ihn kon­zen­triert. Dann nahm er einen lan­gen Zug von me­tal­lisch schme­cken­dem Oran­gen­saft und schließ­lich einen Schwall rei­nen Sau­er­stoff, der ihm kühl zu Kopf stieg.

Ein Stein rutsch­te un­ter sei­nem Stie­fel weg, und er ge­riet ins Tau­meln. Vor­sich­tig, vor­sich­tig. Das Ge­stein hier sah zer­narbt und ab­ge­schlif­fen aus. Ero­si­on? Strö­me von Am­mo­ni­ak und Me­than, die die­ses Hoch­land ab­ge­ho­belt hat­ten? Oder wie­der­hol­tes Ge­frie­ren und Auf­tau­en von Am­mo­ni­ak in den Stei­nen, das sie zer­bro­chen und die Ei­sen­erzadern pul­ve­ri­siert hat­te? In den Klip­pen und Fels­blö­cken gab es kei­ne Li­ni­en, kei­ne Spu­ren der Evo­lu­ti­on. Al­les hier war rein. Der Schutt des ur­zeit­li­chen Son­nen­sys­tems war hier an­ge­schwemmt und hat­te sich wie ei­ne Scha­le um den ei­si­gen Ball ge­legt. Kein Schie­fer, kein Sand­stein, kein Gra­nit. Nichts, was von ei­ner Ent­wick­lung Zeug­nis ab­leg­te, nichts, was im In­nern ge­ba­cken oder von ge­dul­di­gen Ozea­nen ab­ge­la­gert wor­den wä­re. Ei­ne fri­sche Welt mit ei­ner Ober­flä­che aus Müll, ver­brämt mit …

Ver­brämt mit …

Über ihm rag­te der Berg­kamm auf. Er klet­ter­te einen Hang hin­auf, und plötz­lich lag der Grat hin­ter ihm. Vor ihm er­streck­te sich ein schma­les Tal. Fels­s­pal­ten kro­chen wie Fin­ger den Hang her­auf auf ihn zu.

Ver­brämt mit wei­ßen Fa­sern …

We­ni­ge hun­dert Me­ter wei­ter un­ten sah er einen el­fen­bein­far­be­nen Strang. Aber ein Riß im Fels ver­sperr­te ihm den Weg; er wür­de am Kamm ent­lang­ge­hen müs­sen, bis er einen si­che­ren Ab­stieg fand.

Der Him­mel fla­cker­te auf. Ein grel­les, wei­ßes Lo­dern strahl­te über ihm auf und warf Schat­ten über das Land.

Ein Über­wa­chungs­glei­ter. Br­ad­ley blieb re­gungs­los ste­hen und hoff­te, daß sein blau­er An­zug sich nicht all­zu deut­lich ab­zeich­ne­te.

Er ver­zog das Ge­sicht. Na­tür­lich wür­de er auf­fäl­lig sein, des­we­gen tru­gen sie ja die­se Far­ben. Al­so wuß­ten sie jetzt, wo er war. Viel­leicht, wenn er mit Ma­ra sprä­che …

Nein, sinn­los. Durch Re­den konn­te er Na­ji­ma nicht auf­hal­ten.

Br­ad­ley be­gann, has­tig am Grat ent­lang­zu­lau­fen. Sei­ne Stie­fel glit­ten auf dem zu­sam­men­ge­ba­cke­nen Eis ab; er spür­te einen ste­chen­den Schmerz und mar­schier­te wei­ter.

Er trat über auf­ge­weh­ten Staub hin­weg und an röt­lich-brau­nen Eis­plat­ten vor­bei. Die ver­schlis­se­ne Ma­schi­ne sei­nes Kör­pers be­gann zu schmer­zen, und ob­wohl er sich auf sei­nen Weg kon­zen­trier­te, be­gan­nen Bil­der durch sei­ne Ge­dan­ken zu hu­schen, Bil­der von Von­da und Ma­ra und Co­rey, Er­in­ne­run­gen an die Zeit, da er sich, schwit­zend in sei­nem Ku­gel­helm, auf dem Mars ab­ge­kämpft hat­te. Sein Kör­per war ei­ne Ta­fel, be­schrie­ben von die­sen Men­schen und die­sen Or­ten, sei­ne Haut ein zu­recht­ge­schnit­te­nes, ver­knit­ter­tes Ma­nu­skript. In sei­nem Kör­per fand er Auf­zeich­nun­gen, so­viel er woll­te: Das Bren­nen der Nah­rung, die in sei­nem Bauch ver­wes­te, der Res­te sei­nes Abendes­sens, oder die sü­ßen Na­del­sti­che sei­nes pro­tes­tie­ren­den Knö­chels, den er sich neu­lich ge­sto­ßen hat­te, als er im Schrei­ter die Ba­lan­ce ver­lo­ren hat­te, oder einen Schmerz von säu­er­li­cher, ver­schwom­me­ner Art, ei­ne Fol­ge die­ser An­stren­gun­gen, oder ein silb­ri­ges Ste­chen in der Wa­de, ver­ur­sacht durch ei­ne win­zi­ge Un­eben­heit im An­zug, oder ein Po­chen in sei­ner Na­se, das ir­gend­wie an Jo­na­thons Tanz er­in­ner­te, oder den dump­fen Druck in sei­nen Schen­keln, ein Echo der jah­re­lan­gen Me­di­ta­tio­nen in Nord­afri­ka, oder einen zie­hen­den Schmerz, wäh­rend er im­mer wei­ter und wei­ter mar­schier­te.

Die Zeit ver­schmolz zu ei­ner end­lo­sen Rei­he von Schrit­ten, zu dem Knir­schen sei­ner Stie­fel auf dem Kies, und zu dem Atem, der aus zu­sam­men­fal­len­den Lun­gen ent­wich. Ei­ne be­täu­ben­de Käl­te kroch an sei­nen Bei­nen hoch. Er sah wie durch einen Tun­nel, und die Luft in sei­nem Helm wur­de dick und schmeck­te fau­lig.

Wie­viel Zeit noch? Na­ji­ma konn­te schnell lau­fen. Aber wenn Na­ji­ma ihn nicht fand …

Br­ad­ley schwenk­te um und be­gann den Hang hin­un­ter­zu­stei­gen. Hier gab es große Fels­blö­cke, hö­her als er selbst. Er schlän­gel­te sich zwi­schen ih­nen hin­durch und sah sich dann um. Wenn Na­ji­ma nicht di­rekt über ihm auf dem Grat stän­de, wür­de er den blau­en An­zug in den Schat­ten kaum ent­de­cken kön­nen.

Br­ad­ley such­te den Him­mel ab. Nir­gends blink­ten die Lich­ter­ei­nes Hub­schrau­bers, und nir­gends fand er den Punkt ei­nes Über­wa­chungs­flie­gers. Am wal­len­den Ho­ri­zont spie der Trich­ter des Vul­kans damp­fen­de, bräun­li­che Wol­ken in die Hö­he. Schwar­ze Fle­cken tanz­ten in der zer­fa­ser­ten Rauch­fah­ne.

Fle­cken …

Br­ad­ley blin­zel­te und sah pur­pur­ne Punk­te am Ran­de sei­nes Ge­sichts­fel­des schwin­del­er­re­gend hin und her hu­schen. Den ris­si­gen, ro­si­gen Schnee zu sei­nen Fü­ßen konn­te er kaum er­ken­nen.

Ab­rupt ging er wei­ter; ei­ne hek­ti­sche Ener­gie bro­del­te in ihm auf. Sein Atem war ein dün­nes Ras­peln. Der An­zug war gut, aber er konn­te ihm kei­ne Ener­gi­en und Re­ser­ven ge­ben, die er nicht be­saß. Ein war­mer An­zug, ein schwe­rer An­zug. Al­le Be­hag­lich­keit des Heims. Ein Pro­dukt des Wes­tens. Was hat­te Na­ji­ma noch gleich er­zählt? Als Gand­hi im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert nach Eng­land ge­kom­men war und ein Re­por­ter ihn frag­te, was er von der Zi­vi­li­sa­ti­on des Wes­tens hal­te, ha­be Gand­hi geant­wor­tet: „Ich fin­de, das wä­re ei­ne gu­te Idee.“

Ja, und das war es auch ge­we­sen. Vie­le Ide­en, ge­nau­ge­nom­men. Und ganz be­son­ders ei­ne: das Uni­ver­sum zu be­trach­ten, zu be­su­chen, zu durch­for­schen.

Ein Schü­ler der Ster­ne zu sein.

Zu stamp­fen, zu mar­schie­ren, zu at­men …

Der Sand­pa­pier­bo­den glitt un­ter sei­nen Stie­feln weg. Er klam­mer­te sich an einen Fel­sen und fand sein Gleich­ge­wicht wie­der. Ein klei­ner Erd­rutsch ließ den Staub un­ter sei­nen Fü­ßen ab­flie­ßen.

Sei­ne Na­se lief und sei­ne Au­gen brann­ten. Er trank einen Schluck, und die Flüs­sig­keit si­cker­te wie öl durch sei­ne Keh­le.

Br­ad­ley stieß sich von dem Fel­sen ab. Er hat­te die Ori­en­tie­rung ver­lo­ren, und sei­ne ein­zi­ge Hoff­nung war es jetzt, sich bergab zu kämp­fen. Ir­gend­wann wür­de er auf die Kris­tall­fa­sern sto­ßen. Er muß­te. Klei­ne Stein­chen knirsch­ten ge­gen sei­ne Stie­fel, nah­men ihm Ba­lan­ce und Ge­schwin­dig­keit.

Er wank­te vor­wärts, und die Fel­sen teil­ten sich vor ihm.

Erst sah er nur einen leuch­ten­den Fleck.

Er tat noch einen Schritt und sah das ho­he, kan­ti­ge Kris­tall­ge­bil­de, el­fen­bein­far­ben und we­nigs­tens zwei Me­ter hoch. Es schlän­gel­te sich zwi­schen den Fels­blö­cken da­von. Br­ad­ley dach­te so­gleich an einen wel­len­för­mi­gen Zaun auf dem Lan­de, der acht­los zwi­schen Ge­stein er­rich­tet wor­den war, aber die­ses Ding hier er­hob sich in ei­nem Stück aus dem Bo­den und aus den Fel­sen­flä­chen. Naht­los. Als sei es hier ge­wach­sen.

Das Kris­tall­netz. Die Ma­trix. Br­ad­ley hat­te das Ge­fühl, zu fal­len. Er sah gol­de­ne Kleck­se, die tief in dem mil­chi­gen Kris­tall schwam­men. Glit­zernd. Krei­send.

Er zwin­ker­te. Sei­ne Au­gen spiel­ten ihm einen Streich. Aber nein … das Ding schi­en sich wirk­lich zu be­we­gen.

Er schüt­tel­te den Kopf, um ihn zu klä­ren. Die pur­pur­nen Punk­te wa­ren ver­schwun­den. Er at­me­te tief, und ein zu­sätz­li­cher Schwall von Sau­er­stoff schmeck­te süß auf sei­nen Lip­pen. Er schau­te über das Kris­tall­ge­bil­de „hin­weg, dort­hin, wo ein stei­ler Hang in ein un­über­sicht­li­ches Tal hin­un­ter­führ­te. Dann sah er wie­der auf die Kon­tu­ren des Net­zes. Sie be­weg­ten sich nicht, aber sie bil­de­ten einen Rah­men für Li­ni­en und Per­spek­ti­ven, die sich um­ein­an­der­dreh­ten.

Ein kal­tes, pri­ckeln­des Be­ben durch­lief ihn. Er sah …

… flüch­ten­de An­ti­lo­pe, ver­wun­det, Flan­ke fle­ckig von tro­ckenem Blut, Zun­ge her­aus­hän­gend …

… den um­hül­len­den Man­tel. Die brei­te Flä­che ei­ner sich wöl­ben­den Welt, ru­bin­ro­tes Tuch er­streck­te sich weit­hin und dreh­te sich, gol­den jetzt, und bern­stein­far­ben …

… Kraft und Mas­se, ei­ne aus­ge­bleich­te Er­de, äch­zend un­ter der Last von sie­ben lo­dern­den Krei­sen … die lach­ten …

… einen prä­zi­se de­fi­nier­ten Raum, Mi­nia­tur­fa­cet­ten von Licht und An­mut und Form, die sanf­te Run­dung glän­zen­der Äp­fel, feuch­te Trop­fen auf vol­len Trau­ben …

Br­ad­ley schau­der­te. Sei­ne Kopf­haut pri­ckel­te.

… di­cken, üp­pi­gen Schaum, der zu den Ster­nen em­por­leck­te …

… das ver­rot­ten­de Ro­sa von Ti­tan, ei­ne ver­ros­ten­de Welt, Ge­stank, Ab­fall, Hohl­heit, Echos …

Er riß sei­nen Blick los und rich­te­te ihn auf die schrof­fen grau­en Fel­sen, um ihn dann lang­sam wie­der auf das leuch­ten­de Kris­tall zu­rück­glei­ten zu las­sen. Ein recht­e­cki­ger Fleck: hier ei­ne Sei­te, dort ei­ne Ver­bin­dung; zwei Li­ni­en, ver­län­gert, tra­fen sich dort …

ei­ne ge­schnitz­te Fi­gur aus po­lier­ter Ei­che, das Bild ei­nes dunklen Man­nes, der in den Sturm wink­te, und der Wind zerr­te an sei­nem Haar …

Br­ad­ley trat nä­her. Schweiß tropf­te über sei­ne Au­gen, und er muß­te blin­zeln. Die Bil­der flat­ter­ten. Men­schen, Wel­ten, ver­dreh­te We­sen, ver­zerr­te, blätt­ri­ge Din­ge und ge­zack­te Strei­fen von Licht.

Er trat noch nä­her.

Er sah Sprün­ge in dem Kris­tall­netz, wie Ris­se in ei­ner er­kal­te­ten Va­nil­le­sau­ce. Die ge­sam­te Ober­flä­che war von ei­nem Ge­wirr stein­ge­wor­de­ner Li­ni­en und Far­ben über­zo­gen. Je­der klei­ne Ein­schnitt war ei­ne Py­ra­mi­de, ein Ku­bus, ei­ne zer­klüf­te­te Form aus Spit­zen und Win­keln, aber zu­sam­men war es mehr als das.

Er sah einen Berg, an dem In­sek­ten­ma­schi­nen ar­bei­te­ten; sie nag­ten an sei­nen Hän­gen. Plötz­lich war der Berg ein Loch im Him­mel, das sich trä­ge mit schim­mern­dem Was­ser füll­te, und dann ein Ke­gel, ein Amei­sen­hü­gel. Ein ko­mi­sches Ge­sicht mit ei­ner krum­men Na­se.

(Von­da?)

(Ma­ra?)

Al­les das im Bruch­teil ei­ner Se­kun­de und oh­ne daß sich zwi­schen die Sprün­ge ein Ge­dan­ke hät­te drän­gen kön­nen.

Sein Kopf ro­tier­te in ei­nem hoh­len Raum oh­ne Luft.

Er schau­te und blick­te tiefer hin­ein. In die mil­chi­ge Ober­flä­che ein­ge­schnit­ten wa­ren Rhom­boi­den, viel­flä­chi­ge Skulp­tu­ren, schar­fe Schnitt­punk­te in ver­dreh­ten Per­spek­ti­ven, Viel­e­cke, die an­ein­an­ders­tie­ßen.

Und nä­her: Der ein­fa­che Wür­fel war ein Feld für fei­ne­re Schnit­ze­rei­en, klei­ner als ein Fin­ger­na­gel, aber voll­kom­men ge­stal­tet. Ge­zack­te Ster­ne, Stru­del und Fa­sern, die spinn­web­fei­ne Li­ni­en zu ei­ner Ku­gel in vi­brie­ren­dem Raum span­nen.

Sie ver­schlan­gen sich in­ein­an­der, ver­misch­ten sich zu et­was, das nach Br­ad­ley griff und ihn zwang, den Blick ab­zu­wen­den. Je­de die­ser kom­ple­xen Schich­ten …

… laut­los wei­nen­der Mann, zit­ternd …

… er­weck­te einen wir­ren Strom von Emo­tio­nen in ihm. Wie weit moch­te die­se Ord­nung noch nach in­nen ge­hen? Mi­kro­sko­pi­sche Skulp­tu­ren, für das Au­ge viel zu fein ge­mei­ßelt?

Schwan­kend trat er zu­rück und starr­te zum Him­mel. Die Wol­ken wur­den dün­ner, wie Ne­bel, wenn man sich ihm nä­hert, und er sah den Va­ter Sa­turn, der Ti­tan in sei­nem Griff hielt. Jen­seits des ge­streif­ten Rie­sen bil­de­ten zehn Mil­li­ar­den Ste­me ei­ne Ga­la­xis, und zehn Mil­li­ar­den Ga­la­xi­en bil­de­ten ein Uni­ver­sum. Die Milch­stra­ße war ein Ne­bel, ein Dis­kus, der sich dreh­te, hun­dert­tau­send Licht­jah­re breit. Der Dis­kus dreh­te sich wie ein Fun­ken­wir­bel, und Br­ad­ley konn­te nicht se­hen, wer ihn ge­wor­fen hat­te.

… üp­pi­ger, fei­ner Lehm mit ei­nem tie­fen, er­di­gen Ge­ruch öff­ne­te sich zu sei­nen Fü­ßen …

… ei­ne na­del­fei­ne Spit­ze von Angst zer­teil­te das Fleisch, ein sü­ßer, gnä­di­ger Stich …

… ein ge­fro­re­ner Pfei­ler von Urin sprang aus dem sei­dig-ros­ti­gen Land …

Er schrie in plötz­li­cher, auf­bers­ten­der Er­leich­te­rung. Schrie. Er sank auf die Knie, ein Schü­ler der Ster­ne. Wein­te. Sah und fühl­te und um­fing al­les.

Der Him­mel zer­sprang.

Et­was in ihm zer­brach.