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Lo­ret­ta Mor­gan glaub­te, daß sie die furcht­ba­re Feind­se­lig­keit die­ses Pla­ne­ten un­ter­schätzt hat­ten. Seit dem Ta­ge der Schöp­fung hat­te der Mars ei­ne Ewig­keit un­ge­stört und pas­siv ge­ruht. Wir sind wie Flö­he, die durch ein Hun­de­fell krab­beln, dach­te sie. Viel­leicht zuckt der Mars und schüt­telt uns ab.

Sie dach­te dar­an, wie sie den ar­men McIn­ty­re be­gra­ben hat­ten – sie hat­ten sei­nen Leich­nam ver­sie­gelt wie einen ih­rer Müll­sä­cke, um je­de Mög­lich­keit der Ver­un­rei­ni­gung zu ver­hin­dern. Kas­tor hat­te sie ein eis­kal­tes Biest ge­nannt, weil sie sich wei­ger­te zu trau­ern. Sie hät­te ihm ins Ge­sicht la­chen kön­nen. In ih­ren Au­gen war das Le­ben ein Ge­schenk, und zu wei­nen, weil es nicht mehr da war, wä­re ge­nau­so, wie wenn ein ver­zo­ge­nes Gör quen­gelt, weil der Weih­nachts­mann nur vier Ge­schen­ke statt der er­war­te­ten fünf ge­bracht hat­te. Wir sind zum Mars ge­kom­men, auf den wir nicht ge­hö­ren, dach­te sie, und des­halb wer­den wir al­le ster­ben. Wir ha­ben nicht das Recht, ir­gend et­was von die­sem kal­ten Uni­ver­sum zu er­war­ten, und das gilt auch für das kost­ba­re Ge­schenk des Le­bens selbst.

Der Ge­dan­ke an das Le­ben ließ sie auch an den Tod den­ken. Und bei dem Ge­dan­ken an den Tod dach­te sie an den ar­men McIn­ty­re. Und mit McIn­ty­re war sie gleich wie­der bei Co­lo­nel Kas­tor.

Die­ser dum­me, ein­fäl­ti­ge Schwei­ne­hund, dach­te sie. Erst hat­te er ge­wollt, daß sie trau­er­te, und jetzt, wo es wirk­lich wich­tig für ihn war, gab es ab­so­lut nichts mehr, was er tun könn­te, so oder so.

Co­lo­nel Kas­tor war heu­te ge­stor­ben. Er hat­te ein Kriech­fahr­zeug in einen zwan­zig Me­ter tie­fen Spalt ge­steu­ert und war um­ge­kom­men. Ein Un­fall. Ein ver­dammt dum­mer, sinn­lo­ser, acht­lo­ser, zweck­lo­ser Un­fall.

Schei­ße, dach­te sie. Das war kein Un­fall.

Der Mars hat­te sich er­ho­ben – ein schla­fen­der Hund war er­wacht – und hat­te ein zwei­tes Le­ben zer­kratzt.

Erst McIn­ty­re und jetzt Kas­tor.

Zwei wa­ren noch üb­rig: sie und Reynolds.

Bald wür­de es nur noch ei­ner sein.

Und die­ser ei­ne wür­de nicht sie sein.

Die har­ten, straf­fen Flä­chen des Schutz­zel­tes um­hüll­ten sie bei­de. Drau­ßen herrsch­te ei­ne kal­te Mars­nacht, aber sie hat­te ih­ren Abend­spa­zier­gang schon hin­ter sich. Nach Son­nen­un­ter­gang, so­bald das ko­kon­ar­ti­ge Ge­we­be des Zel­tes im Sand stand, pfleg­te sie al­lein spa­zie­ren­zu­ge­hen. Als Kas­tor noch leb­te, hat­te er die­se pri­va­ten Streif­zü­ge als ein Zei­chen weib­li­cher Sen­ti­men­ta­li­tät be­zeich­net. Sie wuß­te es nicht. Aber sie wuß­te, daß sie hoch auf­ge­rich­tet auf der Spit­ze ei­ner Dü­ne stand und aus ih­rem bla­sen­för­mi­gen Helm auf die ste­ti­ge grü­ne Ku­gel der Er­de starr­te. Fünf Mi­nu­ten stand sie so da und wand­te den Blick nur, um zu blin­zeln, und schließ­lich sag­te sie ein stum­mes Le­be­wohl. Die Mensch­heit war in den Welt­raum vor­ge­drun­gen, dach­te sie, um ein für al­le­mal zu ler­nen, wie ver­flucht be­deu­tungs­los sie ei­gent­lich war. Das war es, was der grü­ne Stern ihr sag­te. Und das sag­te ihr auch dies hier: Le­ben auf dem Mars. Und das sag­ten McIn­ty­re und jetzt auch Kas­tor, bei­de tot und un­be­weint, sieb­zig Mil­lio­nen Ki­lo­me­ter ent­fernt von dem, was sie ihr Zu­hau­se nann­ten. Und sie wür­de es selbst sa­gen, wenn sie an die Rei­he käme, wenn sie eben­so tot wä­re wie die bei­den. Wer (oder was), so frag­te sie sich, scher­te sich auch nur im min­des­ten um ein ein­zel­nes mensch­li­ches We­sen, ob tot oder le­ben­dig oder bei­des?

Nein, sie glaub­te nicht, daß sie ver­rückt war. Smith war ver­rückt, und Kas­tor wahr­schein­lich auch, aber nicht sie. Dies war der Mars, und sie hat­te die gan­ze Zeit ge­wußt, daß sie hier ster­ben wür­de. Es war kei­ne Vor­ah­nung – kein ver­stoh­le­ner Blick in ei­ne mög­li­che Zu­kunft. Nein, es war Wis­sen – es war ei­ne Not­wen­dig­keit. Sie wa­ren hier­her­ge­kom­men, um et­was über die Le­bens­be­din­gun­gen auf dem Mars zu er­fah­ren, aber je­der von ih­nen, ob er es woll­te oder nicht, hat­te die To­des­be­din­gun­gen der Er­de mit­ge­bracht. Sie woll­te nicht ster­ben. Sie hat­te vor dem En­de nicht we­ni­ger Angst als an­de­re auch. Aber sie wür­de ge­hen. Sie war jetzt be­reit. Es konn­te heu­te abend sein oder mor­gen oder gleich über­mor­gen. Der ex­ak­te Au­gen­blick war un­wich­tig. Das Le­ben war vor­über, zu En­de, fer­tig. Lo­ret­ta Mor­gan, wie es sie ein­mal ge­ge­ben hat­te, war tot.

Sie saß nackt ne­ben dem jun­gen Reynolds. Kas­tors Tod hat­te sie end­lich von der nächt­li­chen Bür­de ih­rer Klei­dung be­freit. Nicht daß er es je­mals wür­de be­merkt ha­ben: Sex, so hat­te er wahr­schein­lich ge­glaubt, war ein Zei­chen für weib­li­che Sen­ti­men­ta­li­tät. Aber sie hät­te es be­merkt.

„Nun, was mei­nen Sie?“ frag­te Reynolds, sehr be­müht, sich so zu be­neh­men, als hät­te er schon ein­mal ei­ne nack­te Frau ge­se­hen. Sie nahm es ihm auch ab; trotz sei­nes jun­gen­haf­ten Lä­chelns und sei­ner sie­ben­und­zwan­zig Jah­re war Br­ad­ley Reynolds ein Mann, des­sen na­tür­li­che Im­pul­se zu plötz­lich an die Ober­flä­che dran­gen, als daß er wah­re Nai­vi­tät hät­te ken­nen kön­nen. Reynolds moch­te ge­le­gent­lich un­be­hol­fen sein, aber er war nie­mals ein­fäl­tig.

Sie ließ ih­re schwe­ren Brüs­te un­ge­zwun­gen her­ab­sin­ken, als sie sich vor­beug­te und die Kar­te mit ei­nem Fin­ger be­rühr­te. „Ich glau­be, wir sind ver­dammt nah. Die Quel­le des Le­bens müß­te hier lie­gen.“

„Der Gar­ten Eden“, sag­te er; er be­trach­te­te die dicht be­schrie­be­ne nord­öst­li­che Ecke der Kar­te.

Sie lehn­te sich zu­rück. „Nen­nen Sie es nicht so. Das war Kas­tors Drang zur Dra­ma­ti­sie­rung. Das Le­ben auf dem Mars ist dra­ma­tisch ge­nug. Wir brau­chen kei­ne PR-Slo­gans.“

„Wir viel­leicht nicht, aber wo­mög­lich die NA­SA.“ Da war es wie­der: schlicht, aber nicht ein­fäl­tig.

„Dann nen­nen Sie es wie Sie wol­len.“

„Wie wär’s mit Agnew Point?“

„Wo­für?“

„Für die Ba­sis. Agnew war ei­ner von Ni­x­ons Vi­ze­prä­si­den­ten. Er wur­de aus dem Amt ge­jagt, weil er Schmier­gel­der an­ge­nom­men hat­te.“

„Sie in­ter­es­sie­ren sich doch nicht auch für den Se­nat, oder?“

Auf sei­nen Lip­pen er­schi­en ein jun­gen­haf­tes Lä­cheln. „Ich bin nicht alt ge­nug“, sag­te er. Er hielt das Ra­dio zwi­schen sei­nen be­klei­de­ten Bei­nen. Smith wür­de bald vor­über­kom­men. „Wie lan­ge, schät­zen Sie, wer­den wir brau­chen, um bis zu die­sem Ur­sprungs­punkt zu kom­men?“

Sie ver­dräng­te für einen Mo­ment das Vor­ge­fühl des her­an­na­hen­den To­des und dach­te nach. „Bei nur ei­nem Fahr­zeug und dem Ver­lust von drei Vier­teln un­se­rer Vor­rä­te wür­de ich sa­gen: drei Wo­chen.“

„Auf dem Rück­weg wer­den wir hung­rig sein.“

„Wir wer­den’s über­le­ben“, sag­te sie, ein Lä­cheln nie­der­kämp­fend.

„Wahr­schein­lich.“ Er zuck­te die Ach­seln. „Aber die ein­zi­ge Er­klä­rung, die mir für die­sen Ur­sprungs­punkt ein­fällt, ist die, daß das mar­sia­ni­sche Le­ben noch zu jung ist, um sich nicht nur auf die­se ei­ne Ge­gend zu kon­zen­trie­ren.“

Sie schüt­tel­te den Kopf. „Da­für ist es schon zu weit ent­wi­ckelt.“

„Nicht un­be­dingt. Wo­her wol­len wir das wis­sen? Oh­ne ei­ne Oz­on­schicht und in ei­ner Koh­len­di­oxydat­mo­sphä­re kann die Mu­ta­ti­ons­ra­te ge­ra­de­zu phan­tas­tisch sein.“

Ih­re Ge­dan­ken ka­men so klar, daß es sie ver­blüff­te. „Die ers­ten Son­den fan­den Hin­wei­se auf Le­ben in ei­ner Ent­fer­nung bis nach Ely­si­um. Viel­leicht ist die ver­mu­te­te Zen­tra­li­sie­rung nur ei­ne Fra­ge von Um­welt­be­din­gun­gen. Auf der Er­de gibt es mehr Le­ben in Flo­ri­da als auf Grön­land. Viel­leicht ist Hel­las das Flo­ri­da des Mars.“ Sie stu­dier­te den Chro­no­me­ter an ih­rem Hand­ge­lenk. „Es ist gleich so­weit.“

Er tat über­rascht. „Smith schon?“

„Hö­ren Sie“, sag­te sie schnell, „Sie wer­den es ih­nen sa­gen, nicht wahr?“

„Weil Kas­tor jetzt tot ist?“ Er schüt­tel­te den Kopf. „Das fin­de ich ei­gent­lich nicht fair. Er wür­de aus­se­hen wie ein Narr, weil er es ver­heim­licht hat – wie ein Narr oder Schlim­me­res.“

„Aber er war ein Narr – und Schlim­me­res.“

„Nein. Ich ha­be dar­über nach­ge­dacht. Ich wer­de es ih­nen sa­gen, aber nicht so­fort. Ich will nicht den Ruf die­ses Man­nes rui­nie­ren.“

„Aber der Mann ist tot, ver­dammt!“

„Es tut mir leid, Mor­gan.“

„Aber Sie ha­ben die Ab­sicht, es ih­nen spä­ter zu sa­gen? Sie wer­den kei­ne al­ber­nen, dra­ma­ti­schen Spiel­chen spie­len – wie Kas­tor?“

„Nein, ich wer­de es ih­nen sa­gen.“

„Ver­spre­chen Sie’s.“

Er schi­en ver­wirrt, aber er nick­te. „Al­so gut, ich ver­spre­che es.“

All dies zwang sie zu der Er­kennt­nis, daß sie furcht­bar al­lein war. Gab es sonst nie­man­den – Mann, Frau oder Tier –, der wirk­lich be­griff, wie über­aus win­zig ein mensch­li­ches We­sen war? Dies war der Mars, ver­dammt noch mal, und hier gab es ein­ge­bo­re­nes Le­ben! Wer konn­te sich zu ei­ner sol­chen Zeit und an ei­nem sol­chen Ort über den Ruf ei­nes to­ten Man­nes Ge­dan­ken ma­chen?

Smit­hs Stim­me kam hoch und schrill über das Ra­dio. „… hier ist Fres­no. Ni­xon Ba­sis, hier ist Fres­no.“

Reynolds sag­te: „Fres­no, hier ist Hel­las Ba­sis. Paul, ich ha­be schreck­li­che Nach­rich­ten. Co­lo­nel Kas­tor ist heu­te töd­lich ver­un­glückt.“

„Oh nein“, sag­te Smith.

Lo­ret­ta Mor­gan lä­chel­te, ver­knif­fen. Ihr ver­damm­ten Heuch­ler, dach­te sie. Wenn der Zeit­punkt kam, wür­den sie dann auch um sie trau­ern?