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Obgleich sein Zimmer völlig im Dunkeln lag, machte sich Reynolds beim Eintreten nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Er kannte jeden Zoll dieses Zimmers, kannte es im Dunkeln so gut wie im Hellen. In den letzten vier Jahren hatte er durchschnittlich zwölf Stunden täglich hier verbracht. Er kannte die vier Wände, den Schreibtisch, das Bett, die Regale, die Bücher, er kannte sie besser, als er jemals einen anderen Menschen gekannt hatte. Er erreichte das Klappbett, ohne einmal mit dem Fuß irgendwo anzustoßen oder über ein offenes Buch zu fallen oder über eine ausgebreitete Karte zu stolpern, und setzte sich darauf. Er legte die Hände auf sein Gesicht und spürte die Falten auf seiner Stirn wie große, breite Striemen. Es gab ein Spiel, das er gelegentlich mit diesen Falten spielte, wenn er allein war. Er tat dann so, als ob jede von ihnen ein Ereignis, eine Facette seines Lebens repräsentierte. Diese hier, die große über seiner linken Augenbraue – das war der Mars. Und die hier, fast schon an seinem rechten Ohr – das war ein Mädchen namens Melissa, das er damals in den achtziger Jahren gekannt hatte. Aber jetzt war er nicht in der richtigen Stimmung für dieses Spiel. Er ließ die Hände sinken. Im Grunde wußte er genau, was die Falten in Wirklichkeit waren: das Alter, schlicht, einfach und ehrlich – das Alter. Keine von ihnen bedeutete etwas ohne die anderen. Sie repräsentierten unpersönliche und unvermeidliche Erosion. Sie waren ein äußerlicher Reflex des Todes, der im Innern vonstatten ging.
Dennoch war er froh, wieder hier in diesem Zimmer zu sein. Es war ihm nie bewußt gewesen, wie überaus wichtig diese vertraute Umgebung für seinen Gemütszustand war, bis man ihn ihrer für eine Weile beraubt hatte. In dem fremden Raumschiff war es so schlimm nicht gewesen. Dort war die Zeit schnell vergangen; man hatte gar nicht erst zugelassen, daß Heimweh in ihm aufsteigen konnte. Danach erst war es schlimm geworden. Mit Kelly und den anderen in ihrem dumpfen, häßlichen, unpersönlichen Loch von einem Büro. Das erst waren wirklich unerträgliche Stunden gewesen.
Aber jetzt war er zu Hause, und er würde erst wieder von hier weggehen müssen, wenn sie es sagten. Man hatte ihn zum offiziellen Abgesandten für die Aliens ernannt, aber er machte sich nicht eine Sekunde lang etwas vor. Er hatte diese Ernennung nur bekommen, weil Jonathon sich geweigert hatte, mit irgend jemand anderem zusammenzutreffen. Nicht weil irgend jemand ihn mochte oder respektierte oder ihn für kompetent genug hielt, diesen Auftrag zu erfüllen. Er war anders als sie, und das war alles. Als sie noch Kinder waren, hatten sie sein Gesicht jede Woche in den alten Fernsehprogrammen gesehen, Abend für Abend. Kelly hätte es lieber gesehen, wenn jemand wie sie selbst mit den Aliens umgegangen wäre. Jemand, der wußte, wie man Befehle entgegennahm, jemand, der über die Maßen kompetent war, sozusagen das Computerfaksimile eines menschlichen Wesens. Wie sie selbst. Jemand, der eine ihm erteilte Aufgabe in der effektivsten Weise und der kürzesten Zeit erledigte.
Kelly war Direktor der Mondbasis. Sie war vor zwei Jahren hergekommen und hatte Bill Newton ersetzt, einen Zeitgenossen und Freund von Reynolds. Kelly war das Protege irgendeines US-Senators, eines mächtigen Idioten aus dem Mittelwesten und Führers der Anti-NASA-Fraktion im Kongreß. Kellys Beförderung war Teil eines krampfhaften Versuches gewesen, den Senator mit Gefälligkeiten und speziellen Aufmerksamkeiten zu besänftigen. In gewisser Weise hatte das auch funktioniert. Es gab immer noch Amerikaner auf dem Mond. Sogar die Russen waren vor zwei Jahren abgezogen.
Als er das fremde Raumschiff verließ, hatte Kelly ihn gleich an der Luftschleuse erwartet. Er hatte sich an ihr vorbeidrücken und seinen Anzug anziehen können, ehe sie ihn noch ausfragen konnte. Er hatte gewußt, daß sie es nicht wagen würde, über das Radio mit ihm zu reden; die Gefahr, daß jemand mithörte, war zu groß. Sie konnte nicht sicher sein, daß er stets nur das Richtige sagen würde.
Aber mit diesem kleinen Spiel hatte er die Sache lediglich ein paar Minuten hinausgezögert. Die Fähre war zur Mondbasis zurückgekehrt, und alle waren gleich in Kellys Büro gegangen. Dann hatte das Verhör begonnen. Reynolds hatte ganz hinten im Zimmer gesessen, während alle anderen sich um Kelly herumdrängten.
Kelly stellte die erste Frage. „Was wollen sie?“ Er kannte sie gut genug, um genau zu verstehen, was sie meinte: Was wollen sie für das, was wir von ihnen wollen?
Reynolds sagte es ihr. Sie wollten die Sonne kennenlernen.
„Soviel haben wir auch mitbekommen“, erwiderte Kelly. „Aber welche Art von Informationen wollen sie haben? Worauf sind sie spezifisch aus?“
Unter großen Schwierigkeiten versuchte er es ihr zu erklären.
Kelly unterbrach ihn nach kurzer Zeit. „Und was haben Sie ihnen gesagt?“
„Nichts“, antwortete er.
„Wieso nicht?“
„Weil ich nicht wußte, was ich ihnen sagen sollte.“
„Ist Ihnen niemals zufällig der Gedanke gekommen, ihnen vielleicht am besten genau das zu erzählen, was sie hören wollten?“
„Auch das konnte ich nicht“, sagte er, „weil ich nicht wußte, was das war. Sagen Sie’s mir: Ist die Sonne gütig? Wie inspiriert sie Ihr tägliches Leben? Ist sie ständig wütend? Ich weiß das nicht, und Sie wissen es auch nicht, und wir können hier nicht riskieren zu lügen, denn es ist gut möglich, daß sie es wissen. Für sie ist ein Stern ein lebendiges Wesen. Ein Stern ist ein Gott, aber auch mehr als unsere Götter, denn sie können einen Stern sehen, seine Hitze spüren und immer wissen, daß er da ist.“
„Werden sie wollen, daß Sie zurückkommen?“ fragte sie.
„Das nehme ich an. Sie mochten mich. Oder er mochte mich. Es. Ich habe nur mit einem von ihnen gesprochen.“
„Ich denke, es waren zwei?“
Also erzählte er ihr die ganze Geschichte noch einmal, von Anfang bis Ende, und er hoffte, sie würde diesmal verstehen, daß Aliens keine Menschen waren und man deshalb auch nicht vertraute Reaktionen erwarten konnte. Als er davon sprach, wie die beiden Aliens im Raum gestanden hatten, sagte er: „Schauen Sie. Außer uns sind jetzt noch sechs Leute hier im Zimmer. Aber sie sind hier nur zur Schau. Die ganze Zeit wird keiner von ihnen etwas sagen, etwas denken oder etwas entscheiden. Der andere Alien war die ganze Zeit über mit mir und Jonathon im Raum. Aber wenn er nicht dabeigewesen wäre, hätte sich nichts geändert. Ich weiß nicht, warum er da war, und ich glaube, ich werde es auch nie erfahren. Aber ich verstehe auch nicht, warum Sie glauben, all diese Männer hier um sich herum haben zu müssen.“
Sie ignorierte diese Bemerkung völlig. „Das ist also alles, was sie interessiert? Es sind Pilger, und sie glauben, die Sonne sei Mekka.“
„Mehr oder weniger“, sagte er, mit der Betonung auf ‚weniger’.
„Dann werden sie mit mir nicht reden wollen? Oder mit sonst jemandem von uns? Sie sind derjenige, der die Sonne kennt. Richtig?“ Mit einer flotten Bewegung ihres Ellbogens kritzelte sie etwas auf ihren Notizblock.
„Richtig.“
„Reynolds“, sagte sie und sah auf, „ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun.“
„Warum?“ fragte er.
Sie versuchte gar nicht erst, ihre Verachtung zu verbergen. Kaum einer von ihnen tat das noch und Kelly am wenigsten. Ihrer Meinung nach sollte Reynolds überhaupt nicht mehr hier sein. Steckt ihn in ein Altersheim auf der Erde, sagte sie immer. Die anderen Astronauten – die waren taktvoll genug, sich zur Ruhe zu setzen, wenn das Leben zu kompliziert für sie wurde. Wieso hielt dieser Mann, Bradley Reynolds, sich für so etwas Besonderes? Na gut, pflegte sie einzuräumen, vor zehn, zwanzig Jahren, da war er vielleicht ein großer, tapferer Mann im Kampf um die Eroberung des Unbekannten. Als ich sechzehn war, konnte man keine zwei Schritte weit laufen, ohne über seinen Namen oder sein Gesicht zu stolpern. Aber heute? Was ist er schon? Ich sag’ euch, was er ist: eine verfallene, runzlige alte Ruine von einem Mann. Er ist Astronom und Astronaut – na und? Er ist der bestmögliche Mann für das Mondobservatorium – na und? Ich sage trotzdem, er macht mehr Probleme als er wert ist. Er läuft in der Mondbasis herum wie ein träumender Hund. Niemand kann mit ihm Kontakt bekommen. Er hat nicht an einer einzigen psychologischen Expansionssitzung teilgenommen, seit er hier ist, und das war er schon lange vor meiner Zeit. Er ist ein Problem für die Moral; niemand kann seinen Anblick mehr ertragen. Was seinen Job betrifft – den macht er, ja, aber das ist auch alles. Er ist nicht mit dem Herzen dabei. Stellt euch vor, er wußte nicht einmal, daß die Aliens im Orbit waren, bis ich ihn rufen ließ und ihm sagte, daß sie ihn sehen wollten.
Das letztere stimmte natürlich nicht. Wie alle anderen hatte auch Reynolds von den Aliens gewußt, aber er mußte zugeben, daß ihr Kommen ihn nicht sonderlich betroffen gemacht hatte. Die Hysterie, die die ganze Erde ergriffen hatte, als die Meldung herauskam, daß ein fremdes Raumschiff in das System eingedrungen sei, hatte er nicht teilen können. Die Behörden hatten es schon seit Monaten gewußt, bevor sie die Nachricht freigaben. Bevor irgend etwas an die Öffentlichkeit drang, hatte man zunächst sichergestellt, daß die Aliens gegenwärtig keine eindeutige Gefahr für die Erde darstellten. Aber das war ungefähr alles, was man in Erfahrung hatte bringen können. Dann war das Raumschiff in den Mondorbit eingeschwenkt, ein Akt, der das Fehlen jeder bösen Absicht gegen die Erde bekräftigen sollte, und das ganze Problem war plötzlich in Kellys Schoß gelandet. Die Aliens sagten, daß sie einen Mann sehen wollten, der etwas über die Sonne wußte, und das war, wie sich herausstellte, Reynolds. Dann – und erst dann – hatte er Grund gehabt, sich ernsthaft für die Aliens zu interessieren. An jenem Tage hatte er sich zum ersten Mal seit sechs Jahren die täglichen Nachrichtensendungen von der Erde angehört. Er stellte fest – und es überraschte ihn nicht sonderlich –, daß alle anderen das anfängliche Interesse an den Aliens längst wieder verloren hatten. Es schien, daß sich wieder ein Krieg zusammenbraute. In Afrika diesmal, und darin lag nicht nur eine örtliche, sondern wahrscheinlich auch eine substantielle Veränderung. Die Aliens wurden nur einmal, ungefähr in der Mitte der Sendung, erwähnt, aber Reynolds merkte, daß sie nicht mehr als besondere Nachricht galten. Ein Zusammentreffen zwischen einem Vertreter der amerikanischen Mondbasis und den Aliens werde gegenwärtig arrangiert, sagte der Sprecher, und er fügte hinzu, es werde an Bord des fremden Schiffes im Mondorbit stattfinden. Der Name Bradley Reynolds wurde nicht erwähnt. Ob sie mich wohl noch kennen, hatte er sich gefragt.