Hin­ter der ho­hen, von der rot bren­nen­den Win­ter­son­ne über­glüh­ten Klos­ter­mau­er saß Br­ad­ley Reynolds, mit nack­ten Bei­nen und oh­ne ein kör­per­li­ches Un­be­ha­gen zu füh­len. Der bren­nend hei­ße tu­ne­si­sche Sand ver­seng­te die Sei­ten sei­ner Schen­kel, aber Br­ad­ley zwang sei­nen Geist, im ton­lo­sen Rhyth­mus mit den an­de­ren braun­ge­klei­de­ten Mön­chen zu me­di­tie­ren, die mit ihm zu­sam­men einen Kreis bil­de­ten. Aber die an­de­ren wa­ren so jung. Es fiel ihm schwer, sein geis­ti­ges Au­ge auf die ewi­ge Lee­re zu kon­zen­trie­ren, wenn sein kör­per­li­cher Blick ihm im­mer wie­der Bil­der von ih­ren leuch­ten­den Ge­sich­tern zeig­te, mit glat­ter Haut, vol­len Lip­pen und kris­tall­kla­ren Au­gen. Ich war auch ein­mal wie sie, er­in­ner­te er sich lie­be­voll, aber da hat­te ich noch nicht ge­lernt, in mei­ner ju­gend­li­chen Maß­lo­sig­keit auch Sanft­mut zu üben.

Ei­ne neue Ge­walt durch­drang sei­ne selbst­au­fer­leg­te Ein­sam­keit. Br­ad­ley hör­te den schnel­len, har­ten Schlag von sir­ren­den Hub­schrau­ber­ro­to­ren. Re­si­gniert gab er auf, und mit ei­nem kur­z­en Blick ge­gen die Son­ne er­kann­te er die plum­pe, voll­ge­fres­se­ne Ge­stalt ei­nes He­li­ko­pters, der in ei­ner sich ver­en­gen­den Kreis­bahn her­nie­der­sank.

Sie hat­ten es al­so nicht las­sen kön­nen, ihn noch ein­mal zu stö­ren, als wä­re das Al­ter nicht schon Fluch ge­nug. Die An­kunft des Hub­schrau­bers galt ihm; des­sen war Br­ad­ley sich si­cher. Mehr als zehn Jah­re wa­ren ver­gan­gen, seit sie das letz­te Mal hier ein­ge­drun­gen wa­ren, aber der Teu­fel war­te­te eben nie zu lan­ge mit neu­en Ver­su­chen.

Die jün­ge­ren Mön­che hat­ten den He­li­ko­pter eben­falls be­merkt, und ihr auf­ge­reg­tes Ge­schnat­ter er­füll­te die Luft. Aus pu­rem Starr­sinn ver­fiel Br­ad­ley wie­der in sein me­di­ta­ti­ves Schwei­gen. Zu­erst fiel es ihm leicht, die an­de­re, die äu­ße­re Welt zu iso­lie­ren – die mit den Stim­men, den schwir­ren­den Ro­tor­blät­tern, dem wei­chen Fleisch und der jun­gen Haut –, aber als der Hub­schrau­ber sich dem Bo­den nä­her­te, wir­bel­te er den Sand hoch, und die win­zi­gen gel­ben Split­ter sta­chen schmerz­haft in sein brau­nes, ver­wit­ter­tes Ge­sicht. Br­ad­ley ver­zog das Ge­sicht und muß­te plötz­lich an das En­de den­ken, wenn die Er­de des Gra­bes auf sein Ge­sicht her­abrie­seln wür­de. Viel­leicht wür­de ihm erst dies – der kör­per­li­che Tod – je­nes Ver­ges­sen brin­gen, nach dem er sich schon so lan­ge sehn­te.

Seit fünf­und­drei­ßig Jah­ren schon er­trug Br­ad­ley Reynolds die Ab­ge­schie­den­heit des Klos­ters. Als Jo­na­thon, be­ses­sen von sei­ner Su­che nach Wis­sen, das Son­nen­sys­tem ver­las­sen hat­te, hat­te auch Br­ad­ley be­schlos­sen, die mensch­li­che Welt zu ver­las­sen. War er hier­her­ge­kom­men, um ei­ne Wahr­heit zu fin­den, oder nur, um sich zu ver­ste­cken? Die­se Fra­ge hat­te er nie zu­frie­den­stel­lend be­ant­wor­ten kön­nen, und oft fürch­te­te er, daß dies der Grund da­für sein könn­te, daß die Er­leuch­tung, so nah sie auch ge­le­gent­lich kom­men moch­te, sich sei­nem Zu­griff doch im­mer wie­der ent­zog. Der Sand hat­te sich ge­setzt. Er ent­spann­te sich, und sei­ne me­di­ta­ti­ve Tran­ce ver­schwand. Das Schwir­ren hör­te auf. Der Hub­schrau­ber war ge­lan­det.

Br­ad­ley er­hob sich und ver­ließ den zer­bro­che­nen Kreis. Zwei der jün­ge­ren Mön­che rann­ten schon eif­rig über den Sand auf den war­ten­den He­li­ko­pter zu. Br­ad­ley be­ob­ach­te­te sie kurz; ih­re dunklen Kut­ten flat­ter­ten wie die Hü­gel mü­der Fle­der­mäu­se. An der Sei­te des Hub­schrau­bers prang­te das blau-grü­ne Em­blem des Ver­ei­nig­ten Kon­gres­ses. Je­mand be­rühr­te sei­nen Arm, als er sich um­wand­te. Ein hüb­sches, flei­schi­ges Mäd­chen von zwan­zig Jah­ren mit kahl­ge­scho­re­nem Schä­del, eben­falls ei­ne Klos­ter­be­woh­ne­rin. Sie war die Toch­ter ei­nes schwe­di­schen Ree­ders. Er scher­te sich nicht um den Na­men, den man ihr ge­ge­ben hat­te; selbst jetzt noch zo­gen zu vie­le Ge­sich­ter an ihm vor­über, als daß er sich ei­nes be­son­ders hät­te mer­ken kön­nen.

„Was … was ist das?“ Ih­re Angst über­rasch­te ihn.

„Ein Hub­schrau­ber“, ant­wor­te­te er sanft.

„Ist es … was glaubst du … ist es ein Zei­chen?“

Ver­wirrt schüt­tel­te er den Kopf. „Nein. Er ist für mich.“ Er tät­schel­te sanft ih­re Hand. „In ein paar Stun­den sind sie wie­der fort.“

„Als er kam, dach­te ich … in mei­ner Me­di­ta­ti­on … ich dach­te, es sei das Au­ge Got­tes.“

Ih­re Of­fen­ba­rung ließ ihn schau­dern. Er wies auf den Hub­schrau­ber. „Nun, es ist nicht Gott.“ Ei­lig schritt er auf die Stein­mau­er zu, die die üp­pi­ge Oa­se des Klos­ters von dem rau­hen Wüs­ten­bo­den trenn­te.

Mit sei­nen sie­ben­un­dacht­zig Jah­ren be­saß Br­ad­ley Reynolds noch die Spann­kraft ei­nes Man­nes, der ei­ne gan­ze Ge­ne­ra­ti­on jün­ger war. Die­ses Pri­vi­leg ver­dank­te er den Jah­ren, die er im Welt­raum ver­bracht hat­te. Die Schwe­re­lo­sig­keit hat­te sein In­ne­res lieb­kost und die le­bens­wich­ti­gen Or­ga­ne da­vor be­wahrt, an ih­rem ei­ge­nen Ge­wicht zu er­sti­cken. Den­noch war er nicht mehr jung. Im­mer häu­fi­ger ge­sch­ah es, daß sein Kör­per sich ein­fach wei­ger­te, Be­feh­le zu er­fül­len, de­nen er einst au­to­ma­tisch ge­horcht hat­te. Die­se Un­si­cher­heit des Kör­pers führ­te na­tür­lich zu ei­ner noch tiefe­ren Un­si­cher­heit des Geis­tes. Men­schen star­ben, so glaub­te er, letz­ten En­des aus Grün­den, die sie sich selbst schu­fen, aber Br­ad­ley gab sich nicht auf. Er war die­sem Pro­blem zum ers­ten Mal vor fünf­und­drei­ßig Jah­ren be­geg­net: et­was Sinn­vol­les zu ent­wi­ckeln, um ein strah­len­des Al­ter zu ver­le­ben. Soll­te er sich mit ge­kreuz­ten Bei­nen hin­set­zen und sei­nen Geist zum Glau­ben mes­me­ri­sie­ren, oder soll­te er das Uni­ver­sum durch­su­chen, durch­for­schen und durch­stö­bern nach dem rech­ten Zei­chen, dem einen, kost­ba­ren Kie­sel, der die au­gen­blick­li­che Of­fen­ba­rung des Gan­zen bräch­te? Als er jung war, hat­te er das letz­te­re ver­sucht; im Al­ter neig­te er zu ers­te­rem. Und jetzt, da der Tod un­er­bitt­lich nä­her­kam, er­schie­nen ihm bei­de Me­tho­den lä­cher­lich. Oh­ne Zwei­fel ha­be ich ver­sagt, dach­te er, denn den Be­weis da­für hat­te er un­über­seh­bar in dem un­schul­di­gen Stau­nen der jun­gen Klos­ter­schwes­ter ge­fun­den: In ih­rer Welt gab es einen Gott, in sei­ner nicht. Er konn­te ih­rer klam­mern­den Um­ar­mung nicht ent­rin­nen.

Bru­der Ling, des­sen wei­ße Kut­te acht­los den Staub auf­wir­bel­te, trat Br­ad­ley hin­ter dem In­nen­tor ent­ge­gen. Br­ad­ley hat­te Ling mehr als drei Jahr­zehn­te lang ge­liebt und ihm ge­dient, aber da­nach kann­te er die­sen zier­li­chen, gel­ben Mann nicht bes­ser als zu­vor. Warum muß ich mich heu­te mit sol­chen trost­lo­sen Ge­dan­ken quä­len? frag­te er sich. Es muß­te an dem Hub­schrau­ber lie­gen. Auch die­sen Schmerz wür­de er ih­nen zum Vor­wurf ma­chen.

„Ja, sie sind wie­der mei­net­we­gen ge­kom­men“, sag­te er zu Ling, denn er wuß­te, daß die­ser nach dem Hub­schrau­ber fra­gen woll­te.

„Und du wirst mit ih­nen spre­chen?“

„Ich – nein.“ Dann nick­te er. „Nein, schick sie in mei­ne Zel­le.“

Das Klos­ter war aus den Rui­nen ei­nes al­ten Mau­ren­tem­pels er­baut wor­den. Die Stei­ne wa­ren vom Al­ter ver­wit­tert, und doch hat­te die töd­li­che Gleich­för­mig­keit der Wüs­te­num­ge­bung sie kon­ser­viert. Je­de Nacht stieg Br­ad­ley auf die Spit­ze des öst­li­chen Tur­mes und be­trach­te­te die Ster­ne. Das soll­te ei­ne Ab­schieds­ges­te sein, mit der er das Uni­ver­sum, das er einst be­wohnt hat­te, ver­ließ und ein an­de­res be­trat; aber in der nächs­ten Nacht kam er dann doch wie­der zu­rück und starr­te nach oben.

„Sie soll­ten dir dei­ne Ru­he las­sen, Bru­der Br­ad­ley.!“

„Viel­leicht – aber sie wer­den es kaum tun.“

„Sie glau­ben, du wirst dort drau­ßen ge­braucht.“

„Nie­mand wird je­mals ge­braucht, Bru­der Ling.“

Sei­ne Zel­le war na­tür­lich völ­lig kahl. Ei­ne sau­be­re De­cke lag or­dent­lich zu­sam­men­ge­fal­tet in ei­ner Ecke. Br­ad­ley setz­te sich mit­ten auf den Bo­den und ließ die Tür of­fen ste­hen. Sein bär­ti­ges Kinn ließ er mü­de auf die Brust sin­ken. Er lä­chel­te. Au­to­ma­tisch war er in die Tech­nik ver­fal­len, die schon vor­her gu­te Diens­te ge­tan hat­te. Es war ei­gent­lich nicht not­wen­dig ge­we­sen, hier­her zu kom­men; er hät­te drau­ßen blei­ben und sie dort emp­fan­gen kön­nen. Aber dies war sein Re­vier – sein Schlupf­win­kel –, und die­se schüt­zen­de Lee­re gab ihm Kraft. Wenn sie ka­men und ihn fan­den, einen ge­beug­ten al­ten Mann, der auf dem stei­ner­nen Bo­den ei­ner kah­len Mönchs­zel­le hock­te, wür­den sie so­gleich ver­ste­hen, daß sie ge­schei­tert wa­ren.

Dies­mal kam nur ein ein­zi­ger Mann. Br­ad­ley sah den Schock in sei­nem Ge­sicht und las sei­ne Ge­dan­ken: Kann dies Br­ad­ley Reynolds sein? Der ers­te Mensch auf dem Mars? Der Mann, der mit den Ali­ens sprach? Der Mann, den wir brau­chen, um die Welt zu ret­ten? Br­ad­ley er­in­ner­te sich mit Ver­gnü­gen an einen Tag vor zwölf Jah­ren, als Von­da Kel­ly ge­kom­men war. Ihr Be­such war ihm tiefer im Ge­dächt­nis ge­blie­ben als die der an­de­ren, denn sie hat­te ei­ne gan­ze Nacht lang ver­sucht, ihn zur Rück­kehr zu be­we­gen, und da­bei hat­te sie so­gar Sex ein­ge­setzt. Bru­der Ling hat­te ihn gründ­lich ge­züch­tigt, weil er nicht ver­mocht hat­te, ihr zu wi­der­ste­hen. Aber das Al­ter ließ einen Mann dort un­ten schließ­lich nicht ver­dor­ren. Es mach­te es höchs­tens leich­ter, sich auf die we­ni­ger kör­per­li­chen Aspek­te des Da­seins zu kon­zen­trie­ren.

„Dr. Reynolds, ich …“

„Sa­gen Sie ein­fach Br­ad­ley. Der an­de­re Na­me – es ist nicht mehr mei­ner.“

„Sir, mein Na­me ist Carr, und man hat mich be­auf­tragt, Sie um Ih­re An­we­sen­heit …“

„Nein. Ich bin nie­mals ir­gend­wo an­we­send au­ßer hier.“ Br­ad­ley sah, daß er das Spiel be­reits ge­won­nen hat­te. Die­ser Carr, so un­be­deu­tend wie al­le nie­de­ren Bü­ro­kra­ten, zö­ger­te. Weil er sich nir­gend­wo hin­set­zen konn­te, trat er ner­vös von ei­nem Fuß auf den an­de­ren. Vor sei­nen Au­gen saß Br­ad­ley wie an­ge­wur­zelt am Bo­den und hat­te die Si­tua­ti­on völ­lig in der Hand.

Schließ­lich faß­te Carr sich ein Herz. „Ich ha­be ei­ne Vor­la­dung.“

Br­ad­ley streck­te die Hän­de aus. „Ver­haf­ten Sie mich.“

„Ich bin si­cher, das wird nicht not­wen­dig sein.“ Carr igno­rier­te die Hand­ge­len­ke, die sich ihm dar­bo­ten. „Wir brau­chen nur ei­ne Stel­lung­nah­me von Ih­nen. Da die gan­ze An­ge­le­gen­heit letzt­lich von Fra­gen der Zweck­mä­ßig­keit ab­hängt, könn­te Ih­re Au­to­ri­tät viel­leicht den Aus­schlag ge­ben.“

Br­ad­ley, der seit fünf­und­drei­ßig Jah­ren kei­ne Nach­rich­ten mehr ge­hört hat­te, frag­te: „Wo­von re­den Sie?“

„Na, von dem Al­pha-Li­bra-Si­gnal. Dem Puzz­le.“

Br­ad­ley spür­te, daß ihm die Si­tua­ti­on zu ent­glei­ten droh­te. In dem, was Carr sag­te, lag et­was Be­un­ru­hi­gen­des. Sei­ne Wor­te schie­nen zu vi­brie­ren von ei­ner Be­deu­tung, die weit über ih­re ober­fläch­li­che Un­ver­ständ­lich­keit hin­aus­ging.

Er schwank­te un­si­cher. Schließ­lich ge­wann sei­ne Neu­gier die Ober­hand. „Das müs­sen Sie mir er­klä­ren.“

„Ich kann es Ih­nen zei­gen.“ Carr zog ein Pho­to aus der ge­räu­mi­gen Ta­sche sei­nes Man­tels. „Das ist es.“

Wie­der wich Br­ad­ley zu­rück, aber schon lag das Pho­to kühl in sei­nen Hän­den, und er konn­te nicht um­hin, es zu be­trach­ten.

„Ein Fun­kras­ter“, sag­te er, oh­ne zu zö­gern.

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„Sie mei­nen, Sie ha­ben es wirk­lich noch nicht ge­se­hen?“ frag­te Carr ver­blüfft.

„Wann wur­de das auf­ge­fan­gen?“

„Vor zwei Mo­na­ten.“

„Und hat man es ent­zif­fert?“

„Nur die­sen Teil.“ Carr wies in ei­ne Ecke des Pho­tos. „Wir glau­ben, dies ist ihr Pla­ne­ten­sys­tem. Und das dort – das muß ih­re Hei­mat­welt sein.“

„Das ist ein Rie­se“, sag­te Br­ad­ley.

„Das ist das Pro­blem.“

„Dann müs­sen sie …“ Er zuck­te hef­tig die Ach­seln, als wer­fe er ein schwe­res Ge­wicht ab. „Wer weiß?“

„Wir wol­len es her­aus­fin­den. Ih­re Stel­lung­nah­me … ei­ne Kon­fe­renz des Aus­schus­ses für Wis­sen­schaft und Astro­nau­tik … und viel­leicht sieht dann al­les an­ders aus.“

Er brauch­te nicht zu fra­gen, wie. Sie hat­ten einen Feh­ler be­gan­gen, aber wie soll­te er das er­klä­ren? Carr woll­te ei­ne Stel­lung­nah­me von ihm, sei­ne Un­ter­stüt­zung, sein Ge­wicht, aber der Mann, den sie such­ten, war nicht mehr hier: Br­ad­ley Reynolds, die Le­gen­de, der Space­man, ein We­sen aus ei­ner an­de­ren Zeit. Wie soll­te er Carr bei­brin­gen, daß je­ner jün­ge­re Br­ad­ley für den äl­te­ren Br­ad­ley, den al­ten Mönch, der ihm jetzt ge­gen­über­saß, ge­nau dies war: ein un­deut­li­ches Ge­sicht in ei­nem wir­ren Strang ver­bli­che­ner Er­in­ne­run­gen, ein ver­gilb­tes Pho­to, ei­ne fremd­ar­ti­ge, ent­fern­te Epi­so­de aus ei­ner ver­wit­ter­ten Ge­schich­te? Man­ches von dem, was je­ner jün­ge­re Mann ge­tan hat­te, konn­te er ver­ste­hen, aber nie­mals wür­de er ein­fach in sei­nen straf­fen Kör­per schlüp­fen oder die glei­chen leich­ten, sprin­gen­den Ge­dan­ken ent­wi­ckeln kön­nen. Sei­ne Li­der wa­ren jetzt dun­kel und runz­lig, sei­ne Na­se war flei­schig, und sei­ne Haut hat­te einen leich­ten Oli­ven­ton an­ge­nom­men. Wir sind mehr als nur Pas­sa­gie­re in der Hül­le ei­nes Kör­pers, dach­te er. Das Fleisch formt und ver­zerrt uns, wir­belt uns her­um und rich­tet uns da­hin, wo die Kor­pus­kel, Ar­te­ri­en und Drü­sen es ver­lan­gen. Die Tat­sa­che, daß der von sei­nem Kör­per ge­setz­te Kurs sich mit der Zeit ver­la­gert hat­te, schi­en kaum von Be­deu­tung. Der Geist im In­nern lern­te, ver­gaß und sor­tier­te De­tails und Er­in­ne­run­gen, oh­ne je zu er­fah­ren, wie der Kör­per – im­mer schwei­gend, im­mer un­an­ge­foch­ten herr­schend – die­se Din­ge ab­ge­wo­gen hat­te, be­vor er sie zum Be­wußt­sein brach­te. Der Geist er­lag Il­lu­sio­nen, der Kör­per nie­mals. „Ich bin zu alt“, sag­te er zu Carr.

„Zu alt zum Re­den?“

„Ja. Weil ich das nicht bin. Ich bin nicht mehr die­ser Mann.“

„Aber die al­ten Leu­te ver­eh­ren Sie im­mer noch.“

Das hat­ten die an­de­ren auch ge­sagt. Die Al­ten und die Ster­ben­den, de­ren Zahl so auf­ge­bläht und de­ren Iso­la­ti­on so starr war, daß sie ei­ne ei­ge­ne, welt­wei­te Sub­kul­tur ent­wi­ckelt hat­ten – sie hat­ten Br­ad­ley Reynolds zu ih­rem Hel­den er­ho­ben. Warum? Für sie, für die Mü­den, die Ver­brauch­ten, die An­ti­ken, strahl­te er wie ein fer­nes, hel­les Leucht­feu­er – der Mann, der al­les ge­tan und es dann fort­ge­wor­fen hat­te.

„Las­sen Sie mich al­lein.“

„Ich fürch­te, ich kann ein Nein nicht ak­zep­tie­ren. Es geht hier um die Zu­kunft der mensch­li­chen Ras­se.“

Carr griff wie­der in die Ta­sche. Noch ein­mal die Vor­la­dung? Oder ei­ne Pis­to­le?

„Ich ha­be nicht nein ge­sagt. Ich ha­be ge­sagt, las­sen Sie mich nach­den­ken!“

Un­ter der Ge­walt von Br­ad­leys Wut­aus­bruch wich Carr zu­rück zur of­fe­nen Tür. „Bis wann?“ rief er vom Gang her­ein.

„Ich wer­de Ih­nen ant­wor­ten, wenn es dun­kel wird“, ver­sprach Br­ad­ley.

Aber es dau­er­te län­ger, viel län­ger, denn er war ge­zwun­gen, den Glau­ben und das Han­deln von fünf­und­drei­ßig Jah­ren in sei­ne Über­le­gun­gen ein­zu­be­zie­hen. Er saß auf dem Bo­den sei­ner Zel­le und be­nutz­te die Me­tho­den der Ge­gen­wart, um sei­ne Sehn­süch­te der Ver­gan­gen­heit zu er­for­schen. Er stu­dier­te sei­ne nack­ten Un­ter­ar­me, die so knor­rig wie al­te Ul­men wa­ren, und ver­such­te da­bei, ei­ne ein­zi­ge Ket­te von ra­tio­na­len Ge­dan­ken zu er­fas­sen und zu ver­fol­gen. Trotz der har­ten Stein­plat­ten, auf de­nen er saß, schi­en die Welt zu zer­schmel­zen; die Luft kräu­sel­te sich in un­sicht­ba­rer Ak­ti­vi­tät. Er­eig­nis­se wie­der­ho­len sich und keh­ren wie­der, dach­te er – Er­eig­nis­se und Men­schen und Ide­en bil­den sich wie­der und wie­der, ent­wir­ren und ver­schlin­gen sich, wir­beln im Kreis, in end­lo­ser Wie­der­kehr. Man darf sich nicht vor der Rück­kehr in die Ver­gan­gen­heit fürch­ten. Al­les fließt von al­lein und oh­ne na­tür­li­che Gren­zen. Die For­schung bleibt ei­ne Auf­ga­be oh­ne En­de. Aber Br­ad­ley fühl­te, daß das nicht al­les sein konn­te. Die Er­eig­nis­se wa­ren wie ei­ne Speer­spit­ze, und die Zeit und das mensch­li­che Le­ben wa­ren auf et­was ge­rich­tet. Er wei­ger­te sich, den Men­schen als ani­mier­tes Senf­korn zu se­hen, das ge­bo­ren wur­de, um zu wach­sen und zu ster­ben und da­bei Ab­bil­der sei­ner selbst in end­lo­ser Fol­ge her­vor­zu­sto­ßen. Die idio­ti­sche Wie­der­ho­lung der Bio­lo­gie konn­te kein Sym­bol für die Mensch­heit sein. Es muß­te einen Vek­tor ge­ben.

Vie­le Stun­den lang saß er in der schat­ti­gen, kal­ten Zel­le, wäh­rend der Win­ter­re­gen auf das un­sicht­ba­re Land her­un­ter­pras­sel­te. Zor­ni­ge, dunkle Wol­ken koch­ten am Ho­ri­zont auf, und ru­he­lo­se Vö­gel zwit­scher­ten und kreisch­ten. Ihm war, als trei­be er er­trin­kend in der sü­ßen, schwe­ren Luft Afri­kas.

Dann rühr­te sich et­was in ihm. Es war spät, fast schon Mit­ter­nacht. Die Ant­wort traf ihn wie ein Blitz der Er­kennt­nis. Es hät­te die Er­leuch­tung sein kön­nen, aber es war nur:

Ein Pla­net. Ei­ne rie­si­ge Welt. Bän­der von Licht und Far­ben.

Ju­pi­ter, er­kann­te Br­ad­ley, und so­gleich füg­ten sich die My­ria­den von Frag­men­ten säu­ber­lich zu­sam­men, und die Lö­sung lag voll­stän­dig vor ihm.

Br­ad­ley lä­chel­te.

Wenn das Al­pha-Li­bra-Si­gnal wich­tig für die mensch­li­che Exis­tenz war, dann war Ju­pi­ter der Ne­xus für je­des ernst­haf­te Stu­di­um die­ses Rät­sels. Er wür­de vor dem Kon­greß­aus­schuß er­schei­nen. Zu­nächst wür­de er idea­lis­tisch re­den. Der Mensch war nicht al­lein in der Ga­la­xis. All die wun­der­ba­ren Din­ge, die man von ei­ner an­de­ren In­tel­li­genz wür­de ler­nen kön­nen. Dann, wenn er ih­re Auf­merk­sam­keit ge­fes­selt hät­te, wür­de er flugs die Ein­rich­tung ei­nes La­bo­ra­to­ri­ums im Or­bit des Ju­pi­ter emp­feh­len, mit ei­ner stän­di­gen Be­sat­zung, die von dort aus die Ge­heim­nis­se je­ner mys­te­ri­ösen Welt wür­de er­grün­den kön­nen.

Soll­ten sie ab­leh­nen, wür­de er hier­her in das dump­fe Schwei­gen Afri­kas zu­rück­keh­ren.

Soll­ten sie sei­nen Vor­schlag aber an­neh­men, wür­de er selbst ge­hen. Das konn­ten sie ihm nicht ver­wei­gern. Er wuß­te von den miß­ver­ständ­lich als An­ti-Se­ni­li­täts­ge­set­ze be­zeich­ne­ten Ver­ord­nun­gen, die je­de Dis­kri­mi­nie­rung aus Al­ters­grün­den ver­bo­ten. Er wür­de ih­re ei­ge­nen po­li­ti­schen Ge­set­ze ge­gen sie ver­wen­den. Es leb­te nie­mand mehr, der für die Ar­beit im Welt­raum bes­ser qua­li­fi­ziert ge­we­sen wä­re als Br­ad­ley Reynolds. Er war zu alt – viel­leicht –, aber die­sen Ein­wand konn­ten sie nicht mehr ge­gen ihn gel­tend ma­chen.

Br­ad­ley stand auf. Das En­de war zu na­he, um noch hier­zu­blei­ben. Die Zeit war ge­kom­men, den Kreis sei­nes Le­bens zu schlie­ßen. Konn­te es einen bes­se­ren Tod ge­ben, als zu tun, zu den­ken und zu se­hen, was alt und was neu war? Die Er­schöp­fung wür­de ihn schließ­lich zu Bo­den drücken, aber nur der rau­he, kan­ti­ge Schleif­stein des Le­bens konn­te sei­nem Be­wußt­sein ei­ne neue, schar­fe Schnei­de ge­ben. Lie­ßen sich denn al­le Ge­heim­nis­se da­durch lö­sen, daß man mit tau­ben Bei­nen auf die­sem kal­ten Stein­bo­den saß? Für man­che viel­leicht – für Bru­der Ling oder für die­ses groß­äu­gi­ge Mäd­chen –, aber nicht für ihn.

Als Br­ad­ley auf die of­fe­ne Tür zu­ging, be­folg­ten sei­ne Bei­ne au­to­ma­tisch die Be­feh­le sei­nes Hirns. Er ver­spür­te we­der Steif­heit noch Schmer­zen, als er ging.

In der Tür hielt er noch ein­mal in­ne. Die Zeit hier war kein Ver­lust, dach­te er. Ich ha­be ge­lernt. Erst ler­nen, dann han­deln. Der Au­gen­blick war ge­kom­men, wie­der auf­zut­au­chen.

Er fand Carr in der Haupt­kam­mer, wo er vol­ler Un­be­ha­gen saß und miß­traui­sche, bei­na­he ängst­li­che Bli­cke auf die schwei­gen­den Mön­che warf, die dort in ei­ner Rei­he hock­ten. Br­ad­ley sag­te mit kla­rer Stim­me: „Ich kom­me mit Ih­nen, so­bald Sie fer­tig sind.“

Nur Bru­der Ling sah auf, als er sprach.