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Es war von trü­ge­ri­scher Grö­ße und Mas­sig­keit, die­ses frem­de Raum­schiff, und ir­gend­wie sah es aus, als ob es an je­den be­lie­bi­gen Punkt des Uni­ver­sums ge­hör­te, nur nicht hier­her.

Reynolds ging vor­sich­tig den schma­len Kor­ri­dor im In­nern des Schif­fes hin­un­ter. Vor sei­nem geis­ti­gen Au­ge sah er noch ein­mal das Her­an­na­hen der Luft­schleu­se, und noch ein­mal roll­te der Vor­gang des Ver­schluckt­wer­dens ab. Die De­cken hier wa­ren hoch, das Licht war schlecht, und die Wän­de be­stan­den aus ei­nem mat­ten, po­lier­ten Me­tall.

Dies und an­de­res husch­te durch sei­ne Ge­dan­ken, wäh­rend er wei­ter­ging. Reynolds war ein Mann, dem die fei­ne Ver­wo­ben­heit sorg­sa­men Nach­den­kens Ge­nuß be­rei­te­te, aber dar­über hin­aus be­schäf­tig­te das in­ten­si­ve Den­ken an die­se Din­ge sei­nen Geist und lenk­te ihn von dem Ge­stank ab. Es war ein selt­sa­mer, di­cker Ge­ruch, und ir­gend et­was dar­an brach­te sein sorg­fäl­tig ge­wahr­tes Gleich­ge­wicht ins Wan­ken. Er kleb­te wie Pa­zi­fi­k­ne­bel. Voll­rei­fer Mist, hat­te Reynolds ge­dacht, als er durch die Luft­schleu­se her­ein­kam. Er hat­te sich um­ge­wandt und Kel­ly, die dicht in ih­ren An­zug gehüllt war, wü­tend an­ge­st­arrt und ihr von dem Ge­ruch er­zählt. „Je­der stinkt“, hat­te sie ge­sagt, gleich­mü­tig, viel­leicht im Scherz, viel­leicht auch nicht, und dann hat­te sie ihn in der leich­ten Zen­tri­fu­gal­gra­vi­ta­ti­on weg­ge­sto­ßen. Weg in ein Ge­wirr von en­gen Gän­gen, die ihn schließ­lich dort­hin füh­ren wür­den, wo er den ers­ten be­stä­tig­ten in­tel­li­gen­ten frem­den We­sen ge­ra­de­wegs in die Au­gen bli­cken wür­de. Das heißt, falls sie Au­gen be­sa­ßen.

Es amü­sier­te ihn, daß er die­ses Pri­vi­leg ha­ben soll­te. Die Eh­re hät­te je­mand an­de­rem eher ge­bührt, ei­nem Jün­ge­ren, des­sen win­zi­ger Auf­tritt in der zu­künf­ti­gen Ge­schich­te der mensch­li­chen Ras­se noch nicht statt­ge­fun­den hat­te. Mit sei­nen achtund­fünf­zig Jah­ren hat­te Reynolds längst schon ein aus­ge­füll­tes, ab­wechs­lungs­rei­ches Le­ben hin­ter sich. Zu aus­ge­füllt, dach­te er manch­mal, für einen ein­zel­nen Mann. Was al­so war mit die­sem Tag? Was war heu­te? Ei­gent­lich ließ es ihn ziem­lich kalt; es brach­te le­dig­lich die Fül­le sei­nes Le­bens über al­le Ver­nunft hin­aus in das Reich end­gül­ti­ger Ab­sur­di­tät.

Wie­der ga­bel­te sich der Kor­ri­dor. Er frag­te sich, wo er sich wohl in der un­eben­mä­ßi­gen, ver­dreh­ten Hül­le des Schif­fes ge­nau be­fin­den moch­te. Er hat­te ver­sucht, al­les, was er sah, im Ge­dächt­nis zu be­hal­ten, aber da war nichts, ab­so­lut nichts als Me­tall mit fei­nen Näh­ten, ab und zu ei­ne Stel­le, an der er sich bücken oder krie­chen muß­te, und im­mer der­sel­be schreck­li­che Ge­ruch. Jetzt wuß­te er, was ihn ge­stört hat­te, als er das Schiff zum ers­ten Mal vom Mond aus im Te­le­skop sah. Es er­in­ner­te ihn in Form und Grö­ße an ein Ge­bäu­de, in dem er vor nicht all­zu vie­len Jah­ren wäh­rend der kur­z­en Dau­er sei­ner letz­ten Ru­he­pe­ri­ode 2008 und 2009 in Sào Pau­lo in Bra­si­li­en ge­lebt hat­te: ein ho­her, ul­tra­mo­der­ner Apart­ment­kom­plex von ent­schie­den ra­di­ka­lem De­sign. Auf der Er­de ge­be es nichts Ver­gleich­ba­res, hat­ten die Wer­be­pla­ka­te ver­kün­det, und er hat­te ih­nen zu­ge­stimmt. Er hat­te es auf den ers­ten Blick ver­ab­scheut. Jetzt al­ler­dings gab es et­was Ver­gleich­ba­res – aber nicht auf der Er­de.

Das Ge­bäu­de hat­te ge­wiß nicht aus­ge­se­hen wie ein Raum­schiff, aber das tat die­ses Ding hier auch nicht. Ein Teil des einen En­des war in kom­pli­zier­ter Wei­se kon­stru­iert, ein Zy­lin­der mit in­ter­essan­ten Mo­di­fi­ka­tio­nen. Ei­ne lan­ge, glat­te Röh­re schloß sich dar­an an, und an ih­rem an­de­ren En­de saß et­was wirk­lich ab­sur­des: ein Ke­gel, der sich aus­wärts und vom Schiff ab­ge­wandt öff­ne­te und völ­lig leer war. Ab­surd – bis man er­kann­te, was das war.

Die An­triebs­quel­le des Raum­schif­fes wa­ren buch­stäb­lich Was­ser­stoff­bom­ben. Die Mit­tel­röh­re ent­hielt of­fen­bar ei­ne große An­zahl von Fu­si­ons­vor­rich­tun­gen. Ei­ne nach der an­de­ren wur­den die Bom­ben aus­ge­klinkt, trie­ben zur Mün­dung des Ke­gels und wur­den ge­zün­det. Der Ke­gel war ein rie­si­ger Stoß­fän­ger, und der Ex­plo­si­ons­druck der Bom­be trieb das Schiff vor­wärts. Ein Ru­be-Gold­berg-Ster­nen­an­trieb …

Di­rekt vor ihm teil­te sich der Kor­ri­dor säu­ber­lich, wie ei­ne Röst­ga­bel mit zwei Zin­ken. Das weck­te ei­ne Er­in­ne­rung: Röst­ga­bel, ja, in den Ta­gen, da er noch Fleisch aß. Er hielt sich links und folg­te dem rich­ti­gen der bei­den Zin­ken. Er hat­te recht kla­re An­wei­sun­gen er­hal­ten.

Er fühl­te im­mer noch ein deut­li­ches Un­be­ha­gen. Viel­leicht lag es an sei­ner Klei­dung, daß ihm al­les so völ­lig ver­kehrt vor­kam. Es war nicht rich­tig, durch ein au­ßer­ir­di­sches La­by­rinth zu lau­fen – in Hemds­är­meln und ei­ner ganz nor­ma­len Ho­se. Ein Fuß­gän­ger.

Aber die Luft war atem­bar, wie sie es ver­spro­chen hat­ten. Ob sie die­ses spe­zi­el­le Stick­stoff-Sau­er­stoff-Ge­misch wohl auch at­me­ten? Und ob sie den Ge­stank moch­ten?

Wie­der teil­te sich der Kor­ri­dor vor ihm. An die­ser Stel­le war der Ge­ruch grau­en­voll stark. Er zog, wür­gend bei­na­he, den Kopf ein und sprang durch ei­ne run­de Öff­nung.

Es war ein großer Raum. Wie im Kor­ri­dor be­fand sich auch hier die De­cke gut sie­ben Me­ter über dem Bo­den, aber die Wän­de tru­gen leich­te Pas­tell­tö­ne von Rot, Oran­ge und Gelb. Die Far­ben ver­misch­ten sich auf sämt­li­chen Wän­den in will­kür­li­chen, plan­lo­sen Mus­tern. Es sah sehr hübsch aus, fand Reynolds, ganz und gar nicht fremd­ar­tig. Au­ßer­dem stan­den an der ge­gen­über­lie­gen­den Wand noch zwei Ali­ens.

Als Reynolds die bei­den We­sen sah, blieb er ste­hen und rich­te­te sich hoch auf. Er hob den Blick und reck­te sich, um ih­re Au­gen­hö­he zu er­rei­chen. Da­bei emp­fand er dann auch ei­ne Re­ak­ti­on, Schock als ers­tes, und dann das kit­zeln­de Emp­fin­den von Über­ra­schung. Dann Freu­de und Er­leich­te­rung. Der An­blick der bei­den We­sen ge­fiel ihm. Um die Au­gen her­um sa­hen sie oh­ne Zwei­fel viel freund­li­cher aus als er er­war­tet hat­te.

Reynolds trat einen Schritt vor, blieb vor den Ali­ens ste­hen und ließ den Blick von ei­nem zum an­dern strei­fen. Wel­cher war wohl der An­füh­rer? Oder wa­ren sie bei­de An­füh­rer? Oder kei­ner von bei­den? Er be­schloß zu war­ten. Aber kei­ner der Ali­ens sag­te einen Ton, kei­ner rühr­te sich. So war­te­te Reynolds wei­ter.

Was hat­te er zu fin­den er­war­tet? Men­schen? Et­was Men­schen­ähn­li­ches, das heißt, mit zwei Ar­men, zwei Bei­nen, ei­nem Kopf an der rich­ti­gen Stel­le mit ei­ner Na­se, zwei Au­gen und ei­nem Paar wei­chen Oh­ren? Kel­ly hat­te da­mit ge­rech­net, daß er so et­was fin­den wür­de – sie wür­de jetzt ent­täuscht sein –, aber Reynolds hat­te nicht ei­ne Se­kun­de lang dar­an ge­glaubt. Kel­ly dach­te, daß al­les, was Eng­lisch sprach, ein Mensch sein müs­se, aber Reynolds hat­te mehr Phan­ta­sie. Er wuß­te es bes­ser; er hat­te nicht er­war­tet, einen Men­schen zu fin­den, nicht ein­mal einen mit vier Ar­men und drei Bei­nen und vier­zehn Fin­gern oder fünf Oh­ren. Was er er­war­tet hat­te, war et­was wirk­lich Frem­des. Einen Klum­pen, wenn es zum Schlimms­ten käme, aber in je­dem Fal­le eher et­was wie ei­ne Schlan­ge oder einen Hai oder einen Wolf als et­was Men­schen­ähn­li­ches. In dem Mo­ment, da Kel­ly ihm ge­sagt hat­te, daß die Ali­ens ihn se­hen woll­ten – „Ih­ren Mann, der am bes­ten kennt Ih­ren Stern“ –, hat­te er es ge­wußt.

Jetzt sag­te er: „Ich bin der Mann, den Sie se­hen woll­ten. Der, der die Ster­ne kennt.“

Wäh­rend des Spre­chens ließ er sei­nen Blick gleich­mä­ßig zwi­schen den bei­den hin und her wan­dern; noch im­mer hat­te er kei­ne Ah­nung, wer von bei­den der An­füh­rer war. Ei­ner – der klei­ne­re – zuck­te mit ei­nem Na­sen­loch, als Reynolds sag­te: „die Ster­ne“, der an­de­re blieb re­gungs­los.

Es gab ein Tier auf der Er­de, das tat­säch­lich so aus­sah wie die­se Ge­schöp­fe, und das war der Grund, wes­halb Reynolds so glück­lich und er­leich­tert war. Die Ali­ens wa­ren fremd­ar­tig ge­nug, ja. Und ganz ge­wiß wa­ren es kei­ne Men­schen. Aber sie sa­hen auch nicht aus wie Klum­pen oder Wöl­fe oder Haie oder Schlan­gen. Es wa­ren Gi­raf­fen. Lie­be, net­te, freund­li­che, an­ge­neh­me, lä­cheln­de, stum­me Gi­raf­fen. Es gab na­tür­lich ein paar Un­ter­schie­de. Die Haut­far­be der Ali­ens war ei­ne Re­gen­bo­gen­col­la­ge von pas­tell­far­bi­gem Pur­pur, Grün, Rot und Gelb, und das plan­lo­se Mus­ter glich den bunt­ge­färb­ten Wän­den. Ih­re Kör­per stan­den hö­her über dem Bo­den und ih­re Hälse wa­ren kräf­ti­ger als bei nor­ma­len Gi­raf­fen. Sie hat­ten we­der Schwän­ze noch Hu­fe. Statt des­sen en­de­te je­des ih­rer vier Bei­ne in fünf stump­fen kur­z­en Fin­gern und ei­nem brei­ten, di­cken, ab­ge­win­kel­ten Dau­men.

„Mein Na­me ist Br­ad­ley Reynolds“, sag­te er. „Ich ken­ne die Ster­ne.“ Ge­gen sei­nen Wil­len mach­te ihr fort­ge­setz­tes Schwei­gen ihn ner­vös. „Stimmt et­was nicht?“ frag­te er.

Der klei­ne­re der bei­den Ali­ens senk­te sei­nen Hals zu ihm her­ab. Mir schril­ler, ho­her Stim­me wie ein Kind sag­te er: „Nein.“ Wie ein auf­ge­reg­tes, ner­vö­ses Kind. „Das ist nein“, sag­te er.

„Das hier?“ Reynolds hob die Hand; er hat­te fast ver­ges­sen, was er dar­in hielt. Kel­ly hat­te ihm be­foh­len, den Re­cor­der mit­zu­neh­men, aber jetzt konn­te er wahr­heits­ge­mäß sa­gen: „Ich ha­be es noch nicht ak­ti­viert.“

„Zer­bre­chen Sie es, bit­te“, sag­te der Ali­en.

Reynolds ver­such­te nicht zu pro­tes­tie­ren oder zu dis­ku­tie­ren. Er ließ das Ge­rät zu Bo­den fal­len und sprang mit bei­den Fü­ßen dar­auf. Das leich­te Alu­mi­ni­um­ge­häu­se riß auf wie die Scha­le ei­nes zer­quetsch­ten Ap­fels. Noch ein­mal sprang Reynolds. Dann blieb er ste­hen und stieß die Glas- und Me­tall­split­ter mit dem Fuß in ei­ne freie Ecke des Raum­es. „In Ord­nung?“ frag­te er.

Jetzt be­weg­te sich der zwei­te Ali­en zum ers­ten Mal. Sei­ne Nüs­tern zuck­ten zier­lich, und dann be­weg­ten sich auch die Bei­ne, ho­ben und senk­ten sich.

„Will­kom­men“, sag­te er ab­rupt und hielt in sei­nen Be­we­gun­gen in­ne. „Mein Na­me ist Jo­na­thon.“

„Ihr Na­me?“ frag­te Reynolds.

„Und das ist Ri­chard.“

„Oh“, sag­te Reynolds und wi­der­sprach nicht. Er ver­stand jetzt. Die­se We­sen hat­ten die Spra­che des Men­schen ge­lernt, und da­mit na­tür­lich auch sei­ne Na­men.

„Wir wün­schen Ih­ren Stern ken­nen­zu­ler­nen“, sag­te Jo­na­thon re­spekt­voll. Sei­ne Stim­me klang haar­ge­nau wie die des an­de­ren. Ob die Tat­sa­che, daß er erst nach der Zer­stö­rung des Re­cor­ders ge­spro­chen hat­te, ein Hin­weis dar­auf sein moch­te, daß er der An­füh­rer der bei­den war? Reynolds muß­te bei­na­he la­chen, als er den Wor­ten sei­ner Ge­dan­ken lausch­te. Ei­gent­lich, so er­in­ner­te er sich, muß­te es es hei­ßen, nicht er.

„Ich bin be­reit, Ih­nen zu er­zäh­len, was im­mer Sie zu wis­sen wün­schen“, sag­te er.

„Sie sind ein … Pries­ter … ein Die­ner der Son­ne?“

„Ein Astro­nom“, kor­ri­gier­te Reynolds.

„Wir möch­ten gern al­les wis­sen, was Sie wis­sen. Und dann möch­ten wir gern Ih­ren Stern be­su­chen und mit ihm re­den.“

„Selbst­ver­ständ­lich. Ich wer­de tun, was ich kann, um Ih­nen da­bei zu hel­fen.“ Kel­ly hat­te ihn schon dar­auf vor­be­rei­tet, daß die Ali­ens sich für die Son­ne in­ter­es­sie­ren wür­den, des­halb über­rasch­te ihn das al­les über­haupt nicht. Aber nie­mand wuß­te, was sie im ein­zel­nen wis­sen woll­ten oder warum sie es wis­sen woll­ten, und Kel­ly hoff­te, er wür­de es viel­leicht her­aus­fin­den. Im Au­gen­blick fie­len ihm nur zwei Mög­lich­kei­ten ein, das Ge­spräch wei­ter­zu­füh­ren, und bei­des wa­ren Fra­gen. Er ver­such­te es mit der ers­ten: „Was wün­schen Sie denn zu wis­sen? Un­ter­schei­det sich un­ser Stern er­heb­lich von an­de­ren sei­nes Typs? Falls dies so ist, sind wir uns des­sen nicht be­wußt.“

„Kein Stern gleicht dem an­de­ren“, sag­te der Ali­en. Das war wie­der Jo­na­thon. Sei­ne Stim­me wur­de er­regt. „Was ist? Wün­schen Sie hier nicht zu spre­chen? Ist un­ser Schiff nicht der rech­te Ort für Sie?“

„Nein, das ist kein Pro­blem“, sag­te Reynolds, nicht ganz si­cher, ob es ver­nünf­tig wä­re, sei­ne Ver­wir­rung wei­ter zu ver­ber­gen. „Ich wer­de Ih­nen er­zäh­len, was ich weiß. Spä­ter kann ich Ih­nen auch Bü­cher brin­gen.“

„Nein!“ Der Ali­en schrie nicht, aber an der Art, wie sei­ne Bei­ne zit­ter­ten und sei­ne Nüs­tern beb­ten, er­kann­te Reynolds, daß er et­was Un­an­stän­di­ges ge­sagt hat­te.

„Ich wer­de es Ih­nen mit mei­nen ei­ge­nen Wor­ten be­rich­ten“, ver­bes­ser­te er sich.

Jo­na­thon stand still und starr da. „Gut.“

Jetzt war es Zeit, daß Reynolds sei­ne zwei­te Fra­ge stell­te. Er ließ sie in die lan­ge Stil­le fal­len, die auf Jo­na­thons letz­tes Wort ge­folgt war. „Warum wol­len Sie un­se­ren Stern ken­nen­ler­nen?“

„Aus die­sem Grun­de sind wir hier­her­ge­kom­men. Auf un­se­ren Rei­sen ha­ben wir vie­le Ster­ne be­sucht. Aber es ist der Ih­re, den wir am längs­ten ge­sucht ha­ben. Er ist so kraft­voll. Und gü­tig. Ei­ne sel­te­ne Kom­bi­na­ti­on, wie Sie si­cher wissen.“

„Sehr sel­ten“, ant­wor­te­te Reynolds; dies er­gab kei­nen Sinn. Aber warum soll­te es auch? Zu­min­dest hat­te er ein biß­chen dar­über er­fah­ren, wel­cher Art die Missi­on der Ali­ens war, und das war mehr als je­der an­de­re hat­te her­aus­brin­gen kön­nen in den Mo­na­ten, in de­nen sich die Ali­ens lang­sam dem Mond nä­her­ten und da­bei ih­re Was­ser­stoff­bom­ben zün­de­ten, um ih­re Ge­schwin­dig­keit zu ver­lang­sa­men.

Reynolds war über­rascht, einen plötz­li­chen Aus­bruch von Zu­trau­lich­keit zu ver­spü­ren. Er hat­te sich seit Jah­ren nicht mehr so si­cher ge­fühlt, und eben­so wie vor­hin gab es kei­nen lo­gi­schen Grund für die­se Si­cher­heit. „Wä­ren Sie be­reit, mir auch ein paar Fra­gen zu be­ant­wor­ten? Über Ih­ren ei­ge­nen Stern?“

„Ge­wiß, Br­ad­ley Reynolds.“

„Kön­nen Sie mir sa­gen, wie Sie Ih­ren Stern nen­nen? Und was sei­ne Ko­or­di­na­ten sind?“

„Nein“, ant­wor­te­te Jo­na­thon und senk­te den Kopf. „Das kann ich nicht.“ Sein rech­tes Au­ge zwin­ker­te wie ra­send. „Un­se­re Ga­la­xis ist nicht die­se. Es ist ei­ne Ga­la­xis, die für Ih­re In­stru­men­te zu weit ent­fernt ist.“

„Ich ver­ste­he“, sag­te Reynolds, denn er konn­te den Ali­en nicht gut einen Lüg­ner nen­nen, auch wenn er ei­ner war. Daß Jo­na­thon zö­ger­te, die La­ge sei­ner Hei­mat­welt preis­zu­ge­ben, kam zu­dem nicht ganz un­er­war­tet; Reynolds hät­te sich un­ter ähn­li­chen Um­stän­den ge­nau­so ver­hal­ten.

Jetzt sprach Ri­chard. „Darf ich mei­ne Ehr­er­bie­tung er­wei­sen?“

Jo­na­thon wand­te sich zu Ri­chard und gab ei­ne Rei­he von schril­len, zir­pen­den Lau­ten von sich. Ri­chard ant­wor­te­te ihm in der­sel­ben Spra­che.

Wie­der zu Reynolds ge­wandt, frag­te er dann noch ein­mal: „Darf ich mei­ne Ehr­er­bie­tung er­wei­sen?“

„Ja.“ Reynolds wuß­te nicht, was er sonst hät­te sa­gen sol­len.

Ri­chard han­del­te so­fort. Sei­ne Bei­ne schos­sen ab­rupt un­ter sei­nem Kör­per her­vor, in ei­nem Win­kel, den ei­ne Gi­raf­fe nie­mals hät­te be­werk­stel­li­gen kön­nen. Ri­chard sank mit aus­ge­brei­te­ten Bei­nen auf den Bauch, sein Hals ging in die Waa­ge­rech­te, und sein Maul scharr­te sanft über den Bo­den.

„Dan­ke“, sag­te Reynolds und ver­neig­te sich leicht in der Hüf­te. „Aber es gibt auch vie­les, was wir von Ih­nen ler­nen kön­nen.“ Er sprach, um sei­ne Ver­le­gen­heit zu ver­ber­gen, und rich­te­te sei­ne Wor­te an Jo­na­thon, wäh­rend er hoff­te, sie wür­den da­zu die­nen, auch Ri­chard wie­der auf die Bei­ne zu brin­gen. Als dies nicht ge­lang, be­gann er mit der Re­de, die zu hal­ten man ihn be­auf­tragt hat­te. Er wuß­te, was er sa­gen soll­te, und sprach so has­tig er konn­te. „Wir sind ein we­nig ent­wi­ckel­tes Volk. Ver­gli­chen mit Ih­nen sind wir Kin­der im Uni­ver­sum. Un­se­re Rei­sen ha­ben uns nur bis zu un­se­ren Schwes­ter­pla­ne­ten ge­führt, wäh­rend Sie schon Ster­ne ge­se­hen ha­ben, de­ren Licht vie­le Jah­re braucht, um Ih­re Hei­mat zu er­rei­chen. Wir wis­sen, daß Sie uns vie­les leh­ren kön­nen, und wir tre­ten vor Sie hin wie Stu­den­ten vor einen großen Phi­lo­so­phen. Wir sind dank­bar für die Ge­le­gen­heit, un­ser ma­ge­res Wis­sen mit Ih­nen tei­len zu dür­fen, und er­bit­ten uns da­für nichts als das Pri­vi­leg, auch Ih­nen lau­schen zu dür­fen.“

„Sie wün­schen al­les über un­se­ren Stern zu er­fah­ren?“ frag­te Jo­na­thon.

„Über vie­le Din­ge“, ent­geg­ne­te Reynolds. „Über Ihr Raum­schiff zum Bei­spiel. Es über­schrei­tet un­se­re ma­ge­ren Kennt­nis­se bei wei­tem.“

Jo­na­thons rech­tes Au­ge be­gann wie­der wie wild zu zwin­kern. Wäh­rend er re­de­te, wur­de das Zwin­kern im­mer schnel­ler. „Das wün­schen Sie zu wis­sen?“

„Ja, wenn Sie be­reit sind, Ih­re Kennt­nis­se mit uns zu tei­len. Wir wür­den auch gern die Ster­ne be­su­chen.“

Das Au­ge be­weg­te sich jetzt so schnell wie nie zu­vor. Jo­na­thon sag­te: „Un­glück­li­cher­wei­se gibt es nichts, was wir Ih­nen über die­ses Schiff sa­gen könn­ten. Lei­der wis­sen wir sel­ber nichts dar­über.“

„Nichts?“

„Das Schiff war ein Ge­schenk.“

„Sie mei­nen, Sie ha­ben es nicht selbst ge­baut? Nein. Aber Sie müs­sen Me­cha­ni­ker ha­ben, Leu­te, die in der La­ge sind, das Schiff im Not­fall zu re­pa­rie­ren.“

„Aber so et­was ist noch nie­mals vor­ge­kom­men. Ich glau­be nicht, daß das Schiff ver­sa­gen kann.“

„Wür­den Sie mir das er­klä­ren?“

„Un­se­re Ras­se, un­se­re Welt, wur­de ein­mal von Ge­schöp­fen ei­ner an­de­ren Ras­se be­sucht. Sie schenk­ten uns die­ses Schiff. Sie wa­ren von ei­nem fer­nen Stern zu uns ge­kom­men, um uns die­ses Ge­schenk zu ma­chen. Da­für ha­ben wir das Schiff nur be­nutzt, um die Weis­heit un­se­res Vol­kes zu ver­grö­ßern.“

„Was kön­nen Sie mir über die­se an­de­re Ras­se sa­gen?“ frag­te Reynolds.

„Lei­der auch sehr we­nig. Sie ka­men von ei­nem ur­al­ten Stern na­he dem wah­ren Mit­tel­punkt des Uni­ver­sums.“

„Und wa­ren sie wie Sie? Phy­sisch?“

„Nein. Mehr wie Sie. Wie Men­schen. Aber bit­te – ge­stat­ten Sie uns, über das zu re­den, was we­sent­lich ist? Un­se­re Zeit ist knapp.“

Reynolds nick­te, und im sel­ben Mo­ment hör­te Jo­na­thon auf zu zwin­kern. Reynolds fol­ger­te dar­aus, daß er des Lü­gens mü­de ge­wor­den war, und das über­rasch­te ihn über­haupt nicht. Jo­na­thon war ein mi­se­ra­bler Lüg­ner. Nicht nur, daß die Lü­gen an sich völ­lig un­glaub­haft wa­ren – er zwin­ker­te auch noch bei je­der ein­zel­nen wie ein Ir­rer mit Asche im Au­ge.

„Wenn ich Ih­nen von un­se­rem Stern er­zäh­le“, schlug Jo­na­thon vor, „sind Sie dann be­reit, uns da­für von Ih­rem zu er­zäh­len?“ Der Ali­en senk­te den Kopf ein we­nig, und sein lan­ger Hals schwank­te hin und her. Es war ganz of­fen­sicht­lich, daß Jo­na­thon Reynolds Ant­wort große Be­deu­tung bei­maß.

Al­so sag­te Reynolds: „Mit Ver­gnü­gen“, ob­gleich er sich ei­gent­lich kei­ne In­for­ma­ti­on über die Son­ne vor­stel­len konn­te, die bei die­sen We­sen be­son­de­re Über­ra­schung aus­lö­sen wür­de. Gleich­viel, man hat­te ihn hier­her­ge­sandt, um so­viel wie mög­lich über die Ali­ens her­aus­zu­fin­den, oh­ne da­bei et­was Wich­ti­ges über die Mensch­heit preis­zu­ge­ben. Die­ser In­for­ma­ti­ons­aus­tausch über Ster­ne schi­en ihm ein si­che­rer Weg zu sein.

„Dann wer­de ich be­gin­nen“, sag­te Jo­na­thon, „und bit­te ver­zei­hen Sie die un­ge­naue Aus­drucks­wei­se. Mei­ne Kennt­nis­se Ih­rer Spra­che sind be­grenzt. Ich neh­me an, Sie ha­ben für die­sen Be­reich ein spe­zi­el­les Vo­ka­bu­lar.“

„Ein tech­ni­sches Vo­ka­bu­lar, al­ler­dings.“

Der Ali­en sag­te: „Un­ser Stern ist ein Bru­der des Ih­ren. Oder bes­ser ei­ne Schwes­ter? In Zei­ten in­ten­sivs­ter Ver­bun­den­heit ist sei­ne – oder ih­re? – Weis­heit ma­kel­los. Zu Zei­ten ist er auch zor­nig – an­ders als Ihr Stern –, aber die­se Zei­ten sind sel­ten, und sie dau­ern auch nicht län­ger als ein paar flüch­ti­ge Au­gen­bli­cke. Zwei­mal hat er die Ver­nich­tung un­se­rer Zi­vi­li­sa­ti­on in Au­gen­bli­cken höchs­ten per­sön­li­chen Zor­nes an­ge­kün­digt, aber nie­mals hat er es für er­for­der­lich ge­hal­ten, die­se Vor­her­sa­ge auch zu er­fül­len. Ich wür­de sa­gen, er ist eher freund­lich denn ra­send, eher sanft­mü­tig denn bru­tal. Ich glau­be, er liebt un­ser Volk tief und fest. Un­ter den Ster­nen des Uni­ver­sums ist sei­ne Stel­lung nicht be­deu­tend, aber er ist un­ser Hei­mat­stern, und wir müs­sen ihn ver­eh­ren. Und das tun wir na­tür­lich auch.“

„Spre­chen Sie wei­ter“, sag­te Reynolds.

Jo­na­thon fuhr fort, und Reynolds lausch­te ihm. Der Ali­en sprach von sei­ner per­sön­li­chen Be­zie­hung zu dem Stern und da­von, wie der Stern ihm in Zei­ten in­di­vi­du­el­ler Fins­ter­nis ge­hol­fen hat­te. Ein­mal war er ihm bei der Part­ner­su­che be­hilf­lich ge­we­sen, und die dar­aus re­sul­tie­ren­de Ver­bin­dung war nicht nur voll­kom­men, sie war ge­ra­de­zu gött­lich ge­we­sen. Die gan­ze Zeit hin­durch re­de­te Jo­na­thon über sei­nen Stern wie ein ehr­fürch­tig-from­mer Ju­de über den Gott des Al­ten Tes­ta­ments ge­spro­chen hät­te. Zum ers­ten Mal be­dau­er­te Reynolds jetzt, daß er den Re­cor­der hat­te zer­stö­ren müs­sen. Wenn er ver­such­te, Kel­ly von die­sem Ge­spräch zu be­rich­ten, wür­de sie ihm kein Wort glau­ben. Wäh­rend er sprach, zwin­ker­te der Ali­en nicht ein ein­zi­ges Mal, nicht ein­mal kurz – und Reynolds sah ge­nau hin.

Schließ­lich war er fer­tig. Er schloß: „Aber dies ist nur ein An­fang. Wir kön­nen ein­an­der so viel ge­ben, Br­ad­ley Reynolds. Wenn ich nur erst mit Ih­rem tech­ni­schen Vo­ka­bu­lar ver­traut bin. Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen ge­trenn­ten We­sen­hei­ten – die großen Bar­rie­ren der Spra­che …“

„Ich ver­ste­he“, sag­te Reynolds.

„Das wuß­ten wir. Aber nun sind Sie an der Rei­he. Er­zäh­len Sie mir von Ih­rem Stern.“

„Wir nen­nen ihn ‚Son­ne’“, sag­te Reynolds. Da­bei kam er sich mehr als nur ein biß­chen al­bern vor – aber was soll­te er sonst sa­gen? Wie konn­te er Jo­na­thon sa­gen, was er wis­sen woll­te, wenn er es selbst nicht wuß­te? Al­les, was er über die Son­ne wuß­te, wa­ren Tat­sa­chen. Er wuß­te, wie heiß sie war, wie alt sie war, er kann­te ih­re Mas­se, ih­re Grö­ße und Ab­mes­sun­gen. Er kann­te Son­nen­fle­cken, So­lar­win­de und So­la­rat­mo­sphä­re. Aber das war al­les. War die Son­ne ein wohl­wol­len­der Stern? War sie stän­dig zor­nig? Ver­ehr­te die Mensch­heit sie mit der an­ge­mes­se­nen Lie­be und Hin­ga­be? „Das ist sein volks­tüm­li­cher Na­me. In der al­ten Spra­che, wel­che die Wis­sen­schaft ver­wen­det, nennt man ihn ‚Sol’. Er liegt et­wa acht …“

„Oh“, sag­te Jo­na­thon, „al­les das wis­sen wir be­reits. Aber sein Ver­hal­ten. Sei­ne Lau­nen, die nor­ma­len und die ab­nor­ma­len. Sie spie­len mit uns, Br­ad­ley Reynolds. Sie scher­zen. Wir ver­ste­hen, daß es Sie amü­siert, aber bit­te – wir sind ein­fa­che See­len, und wir ha­ben ei­ne wei­te Rei­se hin­ter uns. Die­se an­de­ren Din­ge müs­sen wir wis­sen, be­vor wir es wa­gen, uns dem Stern per­sön­lich zu na­hem. Kön­nen Sie uns sa­gen, in wel­cher Wei­se er ihr per­sön­li­ches Le­ben am häu­figs­ten be­ein­flußt hat? Das wür­de uns schon sehr viel wei­ter hel­fen.“