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Br­ad­ley Reynolds hielt Lo­ret­ta Mor­gan im Arm, die starr ne­ben ihm lag. Drau­ßen tob­te der Wind um die Schutzein­heit und wir­bel­te rie­si­ge Sand- und Staub­wol­ken auf, die das Ta­ges­licht ver­fins­ter­ten. Reynolds wuß­te, daß der all­jähr­li­che Große Mar­s­staub­sturm von der nord­öst­li­chen No­a­chis-Re­gi­on aus­ging, wo die­se an das Be­cken von Hel­las grenz­te. Die­ser Sturm ent­wi­ckel­te sich zwar lang­sam, um­ring­te aber schließ­lich den gan­zen Glo­bus des Mars. Ge­le­gent­lich reich­te er bis in die nörd­li­che He­mi­sphä­re hin­auf und be­deck­te dann die ge­sam­te Ober­flä­che des Pla­ne­ten. Smit­hs An­ga­ben zu­fol­ge war die­ser Sturm hier in ähn­li­cher Wei­se in No­a­chis als ei­ne wei­ße, et­wa zwei­hun­dert Ki­lo­me­ter lan­ge Wol­ke ent­stan­den. Jetzt war er viel grö­ßer, aber es war noch nicht der Große Sturm. Der wür­de erst im Früh­jahr kom­men. Mor­gan sag­te, sie glau­be, die­ser Sturm sei nur der Mars, der sich nach Flö­hen krat­ze. Wenn man ih­ren selt­sa­men Hu­mor ein­mal bei­sei­te ließ, so hat­te der Sturm sie tat­säch­lich in ih­rem Zelt fest­ge­na­gelt und be­we­gungs­un­fä­hig ge­macht, und das jetzt schon seit Wo­chen. Smith be­rich­te­te, daß der Sturm nach­zu­las­sen schi­en. Mit dem Kriech­fahr­zeug war der Ur­sprungs­punkt des mar­sia­ni­schen Le­bens (falls es einen sol­chen Punkt gab, er­in­ner­te Reynolds sich) noch ei­ne gan­ze Wo­che ent­fernt.

„Ich lie­be dich“, sag­te er zu Mor­gan, aber bei­de wuß­ten, daß das nicht stimm­te.

Sie la­gen im Dun­keln. Ein Gleich­ma­cher. Nicht nur, daß al­le Män­ner und al­le Frau­en sich im Dun­keln nicht mehr un­ter­schie­den, auch al­le Wel­ten schie­nen gleich zu sein. Ab­ge­se­hen von die­sem heu­len­den, to­ben­den Wind, des­sen Laut­stär­ke sei­ne tat­säch­li­che Ge­walt bei wei­tem über­traf, hät­te dies auch die Er­de sein kön­nen. Ein La­ger, hoch in den Si­er­ras. Ein Lie­bes­paar. Nichts Au­ßer­ge­wöhn­li­ches.

„Br­ad­ley, laß mich los. Ich muß mal.“

Aber dies war der Mars.

„Na los“, sag­te Reynolds und zog sei­ne Ar­me zu­rück.

Er hör­te nicht, wie sie das Zelt durch­quer­te. Der Wind über­tön­te auch das. Das Le­ben war kost­bar hier … und un­si­cher: All­zu leicht war es vor­über. McIn­ty­re und Kas­tor … und Mor­gans klei­ne, tap­pen­de Fü­ße. Ich le­be, er­in­ner­te er sich. Und sie auch. Er mein­te die Mar­sia­ner. Die an­dern wei­ger­ten sich, ei­ne sol­che Ter­mi­no­lo­gie zu be­nut­zen, aber die Mar­sia­ner (Spo­ren, Mi­kro­ben, Bak­te­ri­en) wa­ren le­ben­dig.

Reynolds spür­te, daß sei­ne re­la­ti­ve Ju­gend den Un­ter­schied be­wirk­te. Als ihm be­wußt wur­de, daß sich jen­seits der Schran­ken sei­ner ei­ge­nen Hei­mat ein phy­si­ka­li­sches Uni­ver­sum er­streck­te, war die Tat­sa­che der Exis­tenz von Le­ben auf dem Mars be­reits be­kannt ge­we­sen. Au­ßer­ir­di­sches Le­ben war so­mit ein in­te­gra­ler Be­stand­teil sei­nes Be­wußt­seins – ei­ne vor­ge­ge­be­ne Quan­ti­tät. Selbst Mor­gan ließ ge­le­gent­lich ei­ne un­be­grün­de­te Furcht er­ken­nen, einen bit­te­ren Zorn dar­über, daß das Le­ben, das ei­ne der we­ni­gen ver­blei­ben­den Ei­gen­schaf­ten zu sein schi­en, die den Men­schen vom Uni­ver­sum ab­ho­ben, nicht mehr der Er­de al­lein ge­hör­te. Mor­gan be­stritt dies al­ler­dings. Sie sag­te im­mer, daß die meis­ten in­tel­li­gen­ten Men­schen (und vie­le dum­me ge­nau­so) sich schon seit Jahr­zehn­ten mit der Ein­sicht ab­ge­fun­den hät­ten, daß sich das Le­ben nicht auf ei­ne ein­zi­ge Welt wür­de be­schrän­ken las­sen. Aber Reynolds wuß­te, daß Theo­ri­en und Fak­ten nie ganz das glei­che wa­ren. Die Mehr­heit der Erd­be­völ­ke­rung glaub­te, daß ein Gott exis­tier­te, aber wenn mor­gen ei­ner leib­haf­tig er­schie­ne, wür­de die­ser Glau­be in kei­ner Wei­se den Schock der phy­si­schen Tat­sa­che mil­dern. Ge­nau­so war es mit au­ßer­ir­di­schem, mit mar­sia­ni­schem Le­ben.

Aber Reynolds, ge­bo­ren zu ei­ner Zeit, da man Gott kann­te, ak­zep­tier­te au­ßer­ir­di­sches Le­ben nicht nur, er er­war­te­te es so­gar. Die­se merk­wür­di­gen mar­sia­ni­schen Spo­ren, die dort exis­tier­ten und ge­die­hen, wo sie es ei­gent­lich nicht dürf­ten, wa­ren viel­leicht nur der An­fang. Es gab noch mehr Wel­ten – Ju­pi­ter, Sa­turn, Ti­tan –, und dann ka­men die Ster­ne. Wenn er so re­de­te, be­zich­tig­te Mor­gan ihn des Idea­lis­mus, aber das Le­ben war kein Ide­al mehr. Das Le­ben war re­al.

Er warf die De­cken bei­sei­te, die ihn ein­hüll­ten, und stand auf. Er rief: „Lo­ret­ta?“ – laut, da­mit sie ihn durch den Mars­wind hin­durch hö­ren konn­te. Sie ant­wor­te­te nicht. Ihm wur­de kalt. Selbst in der äu­ßers­ten In­ti­mi­tät des Schutz­zel­tes war ihm sei­ne Nackt­heit un­be­hag­lich. Er tapp­te vor­wärts und stieß mit dem Knie ge­gen einen Was­ser­ka­nis­ter.

„Autsch!“

Er such­te auf dem Bo­den nach ei­ner Ta­schen­lam­pe. „Lo­ret­ta? He, wo bist du?“

Ei­ne plötz­li­che, kal­te Un­ru­he er­faß­te sein Herz. Wahr­schein­lich war sie et­was es­sen ge­gan­gen. Sei­ne Fin­ger schlos­sen sich um den glat­ten Griff der Lam­pe. Mit ei­ner kur­z­en Be­we­gung ließ er den Strahl auf­leuch­ten und schwenk­te das Licht her­um.

An der hin­te­ren Wand sah er nichts.

Sie konn­te nicht hin­aus­ge­gan­gen sein.

Reynolds ließ den Licht­strahl durch das Zelt glei­ten. Er dach­te dar­an, wie Mor­gan vor dem Sturm je­de Nacht al­lein nach drau­ßen ge­gan­gen war, um wie in ei­nem Ri­tu­al auf das grü­ne Leucht­feu­er der Er­de zu star­ren, aber bei­de An­zü­ge und ih­re Hel­me la­gen säu­ber­lich ver­packt in der Kis­te auf dem Bo­den.

Reynolds voll­führ­te ei­ne Dre­hung um drei­hun­dert­sech­zig Grad. „Lo­ret­ta!“ schrie er, sich im­mer wei­ter dre­hend.

Sie war nir­gend­wo im Zelt.

Als er has­tig in den An­zug stieg – zu spät be­merk­te er, daß es ih­rer war; er ent­hielt noch schwa­che Über­res­te ih­res Ge­ru­ches –, muß­te er dar­an den­ken, wie sie ge­we­sen war: vier­zig Jah­re alt, aber im­mer noch an­zie­hend. Ihr Kör­per … breit und zu kräf­tig, mit win­zi­gen Stum­mel­fin­gern und klei­nen, zier­li­chen Fü­ßen, aus­la­den­de Hüf­ten, die Li­ni­en von drei Kin­dern auf ih­rem Bauch, schlaf­fe Brüs­te.

Sorg­fäl­tig stülp­te er sich den Bla­sen­helm über den Kopf.

Er ver­sie­gel­te die in­ne­re Tür der Luft­schleu­se und war­te­te un­ge­dul­dig dar­auf, daß die Au­ßen­tür auf­schwang. Der pfei­fen­de Wind wür­de das Ge­räusch ih­res Zu­schla­gens über­tö­nen. Sie konn­te un­ge­hört hin­aus­ge­gan­gen sein.

In sei­nem An­zug konn­te er den furcht­ba­ren Wind nicht hö­ren. Staub und Sand weh­ten über die Ober­flä­che sei­nes Helms. Er muß­te sei­ne Hän­de ab­schir­mend vor das Ge­sicht hal­ten, um se­hen zu kön­nen. Ihr Kör­per lag halb be­gra­ben kaum einen Me­ter weit vor der Luft­schleu­se. Er nahm die to­te Last oh­ne Schwie­rig­kei­ten auf den Arm und trat ei­lig ins Zelt zu­rück.

Reynolds hoff­te, daß der kur­ze Kon­takt ih­res Leich­nams mit der of­fe­nen Mar­sat­mo­sphä­re nicht ge­nügt hat­te, um das Land zu kon­ta­mi­nie­ren.

Be­vor er die Ge­gend ver­ließ, wür­de er ei­ne sorg­fäl­ti­ge Über­prü­fung durch­füh­ren müs­sen, um si­cher­zu­ge­hen.