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Der letzte Mensch auf dem Mars, Bradley Reynolds, lenkte das verbeulte Kriechfahrzeug vorsichtig durch die Dünen des nordöstlichen Hellas. Die Ausrüstung, die er mitführte, war gerade ausreichend für einen Mann: das Radio, eine Schaufel, zwei Hacken, konzentrierte Lebensmittel, hauptsächlich Getreideflocken, fünf Wasserkanister, Notsauerstoff, einen tragbaren Schutzsack und, was das wichtigste war, die Atmosphäre- und Bodendetektoren. Alles andere – einschließlich seiner Proben und Aufzeichnungen – war im großen Zelt zurückgeblieben. Auf dem Rückweg würde er dort anhalten und mitnehmen, was er brauchte.
Der Staubsturm hatte Gestalt und Gepräge der Landschaft stark verändert. Loser Staub und Sand lagen zu steilen Bergen, Wellen und Wirbeln aufgehäuft. An einigen Stellen standen nackte Blöcke von hartem Felsgestein. Die Farbe der Sonne direkt über ihm wechselte ganz allmählich von staubgrau zu einem schwärzlichen Blau. Der Horizont ragte so dicht vor ihm auf, daß er glaubte, ihn berühren zu können. Der Ursprung – der Brennpunkt, der Garten – lag ganz in der Nähe. Jede Stunde hielt Reynolds das Fahrzeug an und sammelte neue Proben ein. Er entdeckte eine große Anzahl von neuen und komplexen mikrobiotischen Lebensformen. Wenn er seine Fahrt fortsetzte, ließ er die Proben zurück. Es waren jetzt zu viele, als daß er sie hätte tragen können, und es war der Ausgangspunkt des Lebens, nicht das Leben selbst, was ihn interessierte.
Als Morgan tot war, hatte Reynolds nicht mehr gezögert, der Erde seine Theorien mitzuteilen. Die bemannten Raumfahrtprogramme hatte man fast drei Jahrzehnte dahinsiechen lassen. Erst die Existenz von Leben auf dem Mars hatte sie zu neuer Blüte gebracht. Deswegen, und weil Reynolds die Anwesenheit des Menschen im All für notwendig hielt, wußte er, daß er nun etwas finden mußte. Ein Fehlschlag – und die drei Todesfälle würde man kaum anders sehen wollen –, und das Programm würde womöglich wieder zusammenschrumpfen oder sogar für immer verschwinden. Und dabei hatten sie kaum erst angefangen. Der Mars, das war seine feste und glühende Überzeugung, war nichts als eine Warze auf dem Rüssel eines riesigen Elefanten. Das physikalische Universum existierte – in dieser Hinsicht akzeptierte er das, was seine Sinne ihm sagten –, und die Menschheit hatte das Recht und die Pflicht, es in seiner Gesamtheit zu erfahren und zu erleben.
Dieser Glaube war es gewesen, der ihm einen Platz in der Expedition verschafft hatte, aber er hatte ihn auch gezwungen, zumindest bis jetzt ruhig im Hintergrund zu bleiben. Er hatte dem armen Kastor die Führung überlassen – Kastor mit seinem kleinkarierten Verlangen nach Macht und Ruhm – und später dann, während der kurzen Zeit, die sie noch zu leben gehabt hatte, Loretta Morgan. Aber jetzt war Bradley Reynolds allein auf dem Mars. Der Planet war in seiner Hand. Alles, was die Erde erfuhr, würde zunächst durch den Filter seiner Sinne und seines Verstandes gehen. Er konnte sich leicht vorstellen, daß seine Kollegen auf der Erde bei dem Gedanken daran durchdrehten. Aber sie konnten nichts tun. Er war auf dem Mars, sie waren auf der Erde, und er beabsichtigte nicht, diese Tatsache auch nur für einen Augenblick zu vergessen.
Er war Astronom. Ein brillianter Astronom war die am häufigsten benutzte Formulierung, aber sie traf nicht zu. Erst vor fünf Jahren hatte sich ein jugendliches Interesse an der Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten in Besessenheit verwandelt. Reynolds war jung, gutaussehend, redegewandt und intelligent. Er war zu einer Art von Ein-Mann-Bekehrungsbewegung für die lange vernachlässigte Religion „Der Mensch im All“ geworden. Er trat im Fernsehen auf. Er schrieb Bücher. Er hielt häufig öffentliche Vorträge, zumeist in Hochschulen, wo das Publikum jung, intelligent und beeindruckbar war. Er war mit dem Präsidenten zusammengetroffen und hatte vor verschiedenen Kongreßausschüssen ausgesagt. Seine Botschaft war immer dieselbe: Es gab Leben dort draußen. Es war die natürliche Pflicht der Menschheit, dieses Leben zu finden und kennenzulernen. Der Mars war ein perfekter Ausgangspunkt dafür, aber danach würden unausweichlich Jupiter, Saturn und die Sterne selbst folgen. Er hatte gut gesprochen. Er hatte intelligent agitiert. Das Endergebnis war diese Expedition gewesen. Das Endergebnis dieser Expedition jedoch, das war seine glühende Überzeugung, mußte der Erfolg sein. Ein Fehlschlag würde alles zerstören, und er wußte, daß er zu fast allem bereit war, um den Erfolg sicherzustellen. Die Zukunft der Menschheit hing in der Schwebe. Was jetzt auf dem Mars geschah, war entscheidend für das, was später, wenn überhaupt, auf den anderen Planeten und Sternen geschehen würde.
Kastor, McIntyre und Morgan waren tot. Er vermißte keinen von ihnen. Eine hatte er gemocht. Alle drei betrauerte er gleichermaßen. Es war besser so – besser allein. Keiner von ihnen – nicht einmal Morgan – hatte die ganze Wahrheit auch nur geahnt. Aber er kannte sie. Er kannte sie ganz.
Und deshalb war es jetzt an ihm, den wartenden Augen und Ohren der Welt diese Wahrheit zu enthüllen.
Smith übermittelte die Daten über den Lebensquell zur Erde und kam knapp einen Tag später mit der Antwort. „Die Einsatzleitung läßt Ihnen sagen, diese Idee von einem Quell des marsianischen Lebens sei Unsinn.“
Reynolds beherrschte sich. Der Sturm draußen stöhnte wütend. „Aber sie können doch meine Untersuchungsbefunde nicht bestreiten.“
„Sie sagen, das sei wahrscheinlich ein Zufall.“
„Aber das ist absurd. Ein Zufall kann nicht …“
Sogar über das Radio konnte man hören, daß Smiths Stimme schriller wurde. „Ich erzähle Ihnen nur das, was sie gesagt haben, Brad.“
Reynolds blieb ruhig. Es war wieder das gleiche: menschliche Unzulänglichkeit stellte sich der Wahrheit des Universums entgegen. Aber er hatte sie schon öfter geschlagen. „Was wollen sie denn dann von mir?“
„Sie meinen, Sie sollten zurückkommen. Drei Todesfälle bei vier Leuten ist ein furchtbarer Preis. Ich kann die Fresno nicht allein zur Erde zurückfliegen. Sie sollen am besten sofort zum Modul zurückfahren.“
„Das würde ich gern tun“, sagte Reynolds, „aber wir sind hierhergekommen, um das Leben zu studieren. Daran können auch drei Todesfälle nichts ändern, Paul.“
„Es war ein Befehl, Reynolds.“
Reynolds beschloß, seinen Verdacht nicht länger zu verbergen. „Von wem?“
„Was?“ fragte Smith.
„Ich frage mich, ob Sie es ihnen überhaupt erzählt haben. Das mit dem Ursprungsort. Haben Sie es nicht vielleicht verschwiegen, um mich auf diese Weise zurückzuholen?“
„Das wäre aber doch ziemlich dumm, oder nicht?“
„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Nur … belügen Sie mich nicht, Paul.“
„Um Gottes willen, glauben Sie mir doch, ich lüge nicht. Houston hat den Befehl gegeben.“
„Dann werde ich leider den Gehorsam verweigern müssen.“
„Reynolds, das können Sie nicht.“
„Paul, ich werde es tun.“
Und er tat es. Reynolds machte weiter. Bei jeder vierten Umkreisung sprach er mit Smith. Er fand, daß er die Isolation leicht ertragen konnte.
Smith sagte ihm: „Brad, was Sie da machen, ist Wahnsinn. Die andern sind tot. Wollen Sie auch sterben?“
Dies war eine Frage, über die nachzudenken er sich nie gestattet hatte. „Ich werde nicht sterben.“
„Aber es ist doch sinnlos. Wir wissen, daß es dort unten Leben gibt. Was wollen Sie noch?“
„Wir wissen nicht, warum.“
„Wen kümmert das denn?“ schrie Smith.
„Mich, glaube ich“, antwortete Reynolds leise.