II

Ich arbeitete ein ganzes Jahr in der Küche des Harvard College. Durch ihre dünnen Mauern wehte mir jegliche Art von Wissen entgegen. Ich lernte zusammen mit den Erstsemestern und mit den Studenten des letzten Jahres, deren Wissen von vier Studienjahren ich in mich einsog, wenn Chauncy zu einer seiner Morgenvorlesungen vor seinen Studenten stand. Damit will ich nicht sagen, dass ich alles begriff, was ich hörte; wie hätte ich das auch gekonnt? Man kann bei einem Gebäude nicht beim Giebel anfangen, wenn man noch kein Fundament gelegt hat. Vieles von dem, was Chauncy den höheren Semestern vermittelte, blieb für mich im Dunkeln. Doch ich sammelte die Wissensfragmente, derer ich habhaft werden konnte, und während ein Jahr ins Land ging, hatte sich auch in mir ein kleines Gebäude des Wissens gebildet. Zwar kam ich nicht in den Genuss der täglichen Tutorien, bei denen die Studenten das Gesagte hinterfragen konnten, doch wenn ich eine Stunde mit Samuel und seinem Vater erübrigen konnte, bestürmte ich sie mit meinen Fragen. Von ihnen konnte ich mir Bücher ausleihen, die ich auch alle las, bis die Whitbys irgendwann ihre Kerzen löschten. So erschloss ich mir den Zugang zu verschiedenen Themen.

Für Hesiod, jenen antiken Dichter und Bauern, entwickelte ich eine besondere Zuneigung. Wie ich liebte er die Natur und bemühte sich stets ganz besonders, das in Worte zu fassen, was er rings um sich sah. Ich konnte mit Fug und Recht behaupten, dass ich mir Griechisch aneignete, indem ich seine Werke und Tage auswendig lernte, denn diese Verse fügten sich so natürlich in mein Denken ein, dass es mir vorkam, als habe er meine eigenen Gedanken zu Papier gebracht. Es ist sein Nachthimmel, den ich jetzt sehe, durch all die Jahreszeiten hindurch: Arcturus, der sich bei Dämmerung herrlich aus den Ozeanfluten erhebt; die Pleiyaden, wie ein Schwarm Glühwürmchen; Sirius, der in heißen Spätsommernächten die Heuwiesen mit seinem Atem versengt; und Orion, der am Winterhimmel vorüberzieht.

Ich musste für jenes Jahr sehr dankbar sein. Meine Arbeit war im Vergleich zu dem, was ich von früher gewohnt war, wenig anspruchsvoll, und die Whitbys so zuvorkommend und stets gut gelaunt, dass ich mich schon bald bei ihnen so sehr zu Hause fühlte, als gehörte ich zur Familie. Natürlich vermisste ich die Insel, doch ich hatte das Gefühl, alles, was ich hier Tag für Tag lernte, wiege jenen Verlust irgendwie auf. Nur zwei Umstände waren während jener Zeit wie ein kleiner Stachel im Fleische.

Am meisten Sorgen bereiteten mir Caleb und Joel, denn ihre ersten Monate am College waren hart und bitter. Die anderen Studenten mieden sie. Es war nicht gerade so, dass sie sie offen aus ihrer Mitte ausstießen, denn das hätte man ansprechen, bestrafen und schließlich beheben können. Vielmehr taten ihre Mitstudenten nichts, um ihnen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, und heckten allerlei kleine Gemeinheiten aus, indem sie etwa auf den Schulbänken in der Aula keinen Platz für sie freimachten oder beim Essen oder in der kurzen Pause im Hof nie das Wort an sie richteten. Irgendwie – mit welchen Mitteln wurde mir nie ganz klar – gab man ihnen deutlich zu verstehen, dass sie in den geselligen Runden nach dem Abendessen am Kaminfeuer nicht willkommen waren. Man erwartete von ihnen, dass sie sich in ihren freudlosen Raum im Indian College zurückzogen, wo die Aula, die sonst durchaus ein angenehmer Platz gewesen wäre, größtenteils durch die riesige Druckerpresse versperrt war. Später am Abend mussten sie dann hören, wie die englischen Studenten, mit denen sie sich das Gebäude teilten – etwa fünf oder sechs waren in zweien der Gemächer neben ihnen untergebracht –, hereinkamen, immer noch in eine Wolke würzigen Holzrauches gehüllt und in irgendein kluges Gespräch vertieft, von dem sie selber ausgeschlossen waren.

Und so fanden Caleb und Joel Trost beieinander und wurden, ein jeder für den anderen, der Fels in der Brandung. Bei Tage waren sie unzertrennlich, sie sprachen Sätze zu Ende, die der andere begonnen hatte, und des Nachts zogen sie sich in ihr gemeinsames Zimmer zurück, wo sie beim Licht einer Talgkerze noch eine Weile zusammensaßen und sich gegenseitig dabei halfen, die am Tage besprochenen Texte zu verstehen. Wenn ich selbst noch spät wach war, sah ich manchmal das Flackern ihres kleinen Lichts im Fenster ihres Zimmers, bis um Punkt elf nach den Regeln des College die Zeit zum Löschen gekommen war.

Diese Mängel in ihrem gesellschaftlichen Leben gingen über bloß fehlende Kameradschaft oder Freundschaft hinaus. Sie hatten auch eine praktische Konsequenz. Es war üblich, dass die wohlhabenderen Studenten von ihren Familien Essenspakete bekamen – einen Laib Käse, eine Wurst oder Ähnliches. Diese wurden dann meistens des Abends vor dem Kamin gemeinsam verzehrt. Es kam eher selten vor, dass niemand irgendeine Leckerei mitbrachte, mit der man das kärgliche Abendessen etwas aufbessern konnte. Caleb und Joel jedoch, die sowohl von der Kameradschaft als auch vom Genuss dieser Leckereien ausgeschlossen waren, gingen jede Nacht hungrig zu Bett. Und frieren taten sie auch – denn die Holzration, die dem Indian College zugeteilt wurde, war knapp bemessen. Ich fürchtete um ihre Gesundheit ebenso wie um ihren Seelenfrieden. Und so begann ich, ihnen ab und zu etwas zuzustecken, wann immer es mir möglich war: ein Ei hier, etwas Trockenfisch da, oder ich schmierte ein wenig mehr Butter auf das Brot für ihre tägliche Ration. Wenn Maude Whitby etwas merkte, dann war sie freundlich genug, nichts zu sagen.

Zur selben Zeit wurde Caleb für seine hartnäckige Weigerung gemaßregelt, der alten Sitte zu folgen und als Erstsemester einem älteren Studenten als Laufbursche zu dienen. Die höheren Semester straften ihn dafür auf verschiedene Weise, indem sie seine Notizen beschmutzten oder seine Schreibgeräte verschwinden ließen. Einmal versteckten sie sein Barett, weil sie dachten, dann müsse er ohne Kopfbedeckung zum gemeinsamen Essen erscheinen und sich verhöhnen lassen. Doch hier unterschätzten sie ihn. Er sammelte einfach ein paar trockene Grashalme im Garten und wob sie zu einer akzeptablen Mütze. Als klar wurde, dass keiner ihrer Ränke ihn auch nur im Geringsten demütigen konnten, wurden es die höheren Semester irgendwann leid, ihn zu schikanieren, und sie hielten, wie es bei so gesinnten Jünglingen eben ist, Ausschau nach einem leichteren Opfer.

Ich war nicht die Einzige, die sah, dass die Dinge diese Entwicklung genommen hatten. Der junge Dudley, der stolzeste aller Erstsemester, und Benjamin Eliot, der auch eifersüchtig auf seine eigene Position bedacht war, hatten schon bald bemerkt, dass Caleb weder einem höheren Semester zu Diensten war, noch allzu sehr unter dieser Situation zu leiden hatte. Auch sie begannen sich jetzt gegen die Regelung aufzulehnen, und schon bald war eine Art Rebellion im Gange. Irgendwann nahm eine Delegation der Aufmüpfigen, angeführt von Dudley, ihren ganzen Mut zusammen und brachte ihre Bedenken bei Chauncy vor. Er hörte ihnen zu, dachte eine Weile nach und erklärte den alten Brauch schließlich für abgeschafft.

Dieses Ergebnis führte dazu, dass Caleb bei einigen der Erstsemester deutlich im Ansehen stieg, besonders als Dudley ihm für seine Vorreiterrolle öffentlich dankte. Ganz langsam begann ein Student nach dem anderen, Calebs Hautfarbe außer Acht zu lassen und stattdessen den Menschen darunter zu sehen. Und indem sie Caleb akzeptierten, wurde auch Joel allmählich angenommen, denn die beiden standen sich damals bereits so nahe, dass einer ohne den anderen undenkbar war. Freundschaft entstand nicht von heute auf morgen, doch irgendwann kam sie doch.

Indes hatten die beiden in jenen ersten Monaten noch einen anderen, härteren Kampf auszufechten. Dieser betraf den Tutor, den Chauncy für ihre Betreuung bestimmt hatte, einen erst kürzlich eingetroffenen Absolventen des Trinity College namens Seward Milford. Der Mann war ein trunksüchtiger Tunichtgut, der Indianer nicht mochte und diese Position nur übernommen hatte, weil sie besser bezahlt war als die anderen Tutorenstellen. Caleb und Joel setzten alles daran, so viel wie möglich zu lernen, während er all den Vergnügungen und Zerstreuungen nachging, die die Stadt zu bieten hatte. Wenn sie am Morgen nach der Vorlesung zu ihm ins Zimmer kamen, lag er oft noch im Bett und beschimpfte sie wild, weil sie ihn in seiner Nachtruhe gestört hatten. Statt sie auszubilden, wie es seine Aufgabe war, versuchte er, sie zu allen möglichen Ausschweifungen anzustiften. Er schmuggelte Schnaps in das Indian College und nannte sie abfällig Memmen und Feiglinge, wenn sie sich weigerten, an seinen Zechereien teilzunehmen.

Ich war entsetzt und bekümmert, als ich eines Nachts meine Notdurft verrichtet hatte und auf dem Rückweg ins Haus eine wankende Gestalt im Dunkeln sah, in der ich Caleb erkannte. Er torkelte von Baum zu Baum, blieb schließlich stehen und hielt sich schwankend an einer jungen Eiche fest, um sich lautstark zu übergeben. Ich lief zu ihm, um ihm zu helfen, weil ich hoffte, ihn rechtzeitig auf sein Zimmer zurückbringen zu können, bevor ihn jemand dabei erwischte, wie er ein halbes Dutzend Collegeregeln brach, auf die allesamt als Strafe eine Tracht Prügel stand.

»Psst!«, sagte ich. »Keinen Mucks.« Er schwankte, und ich dachte, gleich würden wir alle beide hinfallen. Dann hörte ich hinter mir einen Zweig knacken und drehte mich ängstlich um, doch zum Glück war es nur Joel, der seinem Freund ebenfalls zu Hilfe eilen wollte. Irgendwie gelang es ihm, Caleb die Treppe hochzubugsieren, ihm das Gesicht von Speichel und Auswurf zu säubern und ihn zu Bett zu bringen, bevor ein anderer Student wach wurde, der das Vergehen wahrscheinlich nur allzu gern den College-Oberen hinterbracht hätte. Am nächsten Tag schleppte sich ein bleicher Caleb mit blutunterlaufenen Augen in die Klasse und zuckte jedes Mal zusammen, wenn jemand quietschend seinen Stuhl über den Boden zog oder allzu geräuschvoll ein Buch auf den Tisch fallen ließ.

Einige Tage später entschuldigte er sich bei mir.

»Aber warum hast du das getan?«, wollte ich wissen. »Du siehst doch oft genug deinen Tutor, wenn er sich vom Schnaps seiner Kräfte berauben lässt.«

»Ich wollte es unbedingt wissen«, sagte er. »Ich wollte wissen, wie es ist und ob es irgendwelche Visionen mit sich bringt. Ich dachte, vielleicht verhüllen die äußeren Anzeichen irgendeine Wirkung im Inneren, die jedoch nur dem Trinker vorbehalten bleibt. Ich dachte, es muss einfach sein Gutes haben, da doch so viele hier der Trunksucht verfallen sind.«

»Und, hat es dir etwas gebracht?«

»Nein.« Er lächelte. »Nichts außer den Verlust meiner Würde und einen dicken Kopf.« Meines Wissens rührten weder er noch Joel jemals wieder starke Getränke an.

Durch den Mangel an geistiger Anleitung waren sie in ihren Fortschritten gebremst, ganz gleich, wie lange sie des Nachts über ihren Büchern saßen. Ich wusste, was eine fehlende Anleitung bedeutete und wie sie dem Verständnis des Erlernten entgegenstand. Ich sprach auch Samuel darauf an, weil ich wissen wollte, ob er einen Einfluss auf die Situation habe, doch er winkte ab und meinte, Chauncy sei mit Milfords Familie weitläufig verwandt und auf dem Ohr schon seit langem taub. Indessen sahen sich diejenigen am College, ob nun Studenten oder Lehrpersonal, die von vorneherein gegen das Projekt mit den Indianern gewesen waren, durch die scheinbar mangelnden Fortschritte der Jungen in ihrem Studium bestätigt.

Das alles wäre immer so weitergegangen, hätte Milford nicht eines Tages den Bogen überspannt und ein Fässchen Süßwein aus Goodman Whitbys wohlgehütetem Lager gestohlen. Whitby befasste sich normalerweise nicht mit Regelverstößen am College. Wenn ihm etwas zu Ohren kam, stellte er sich taub, denn er war der Ansicht, das Verhalten eines Mannes oder Jungen gehe nur seinen Erzeuger, seinen Pfarrer und das beorderte Lehrpersonal am College etwas an. Doch die Vorräte des College waren eine ganz andere Sache. Er war stolz darauf, dass es ihm stets gelang, Engpässe in der Versorgung der Studenten zu vermeiden und mit den kümmerlichen Rationen länger auszukommen als jeder andere. Dadurch wurde ein solcher Diebstahl für ihn zu einem besonderen Affront. Er meldete Chauncy seinen Verdacht, und der Präsident, der große Stücke auf seinen Küchenmeister hielt, ging schnurstracks auf Milfords Zimmer, um ihn mit dem Vorwurf zu konfrontieren. Wie der Zufall es wollte, erwischte er ihn nicht nur beim Süffeln, sondern auch bei einem Schäferstündchen mit einer Hure aus dem Blauen Anker.

Ich schätze, Chauncy hörte in jenen Tagen schon das Knirschen im Gebälk des College, falls ein solcher Skandal der »Gesellschaft für die Verbreitung des Evangeliums« zu Ohren gekommen wäre und diese ihre Unterstützung zurückgezogen hätte. Und so beschloss er, mit seinen so lange ersehnten indianischen Studenten kein weiteres Risiko einzugehen, sondern Milford von ihnen abzuziehen und Joel und Caleb fortan persönlich zu unterrichten. Dies brachte eine bemerkenswerte Veränderung in ihrem Status mit sich. Von Studenten, die zuvor kaum mehr gewesen waren als tolerierte Pflichtteilnehmer, entwickelten sich die beiden jungen Männer rasch zu Chauncys Vorzeigeobjekten. Er unterrichtete sie so sorgfältig, wie er es bei seinen eigenen Söhnen getan hätte. Als das Jahr sich dem Ende zuneigte, hatte er die Defizite in ihrer Ausbildung längst ausgeglichen, und als die Ergebnisse der Prüfungen bekannt wurden, stellte sich heraus, dass sie nicht wenige ihrer Klassenkameraden übertrumpft hatten.