II

Ich erwachte in der blauschwarzen Dunkelheit vor dem Morgengrauen und begab mich sofort an meine Pflichten im Haushalt. Seit Mutters Tod hatte sich in meinem Alltag einiges verändert. Ich streifte nicht mehr in der Wildnis umher, um mich den Blicken meiner englischen Landsleute zu entziehen, und ich schlich mich auch nicht davon, um in Büchern zu schmökern. Auch trieb ich mich, wenn mein Bruder Unterricht hatte, nicht mehr im Haus herum, in der Hoffnung, irgendwo Wissen zu ergattern, so wie ein streunender Köter auf einen Bissen aus dem Abfall lauert. Dazu waren meine Pflichten zu beschwerlich geworden. Doch selbst wenn ich während des Tages einmal Zeit und Muße hatte, stand für mich nunmehr fest, dass es, wenn ich Mutter ehren und für meine Sünden büßen wollte, das Beste sei, demütig meinen Pflichten nachzugehen, so wie sie es getan hatte. Ich bemühte mich, jede einzelne Aufgabe im Haus, ob es nun die Zubereitung von Gerstenmalz, das Sammeln von Kräutern oder Pökeln von Fleisch war, so zu sehen, wie sie es getan hatte. Meine Mutter hatte geglaubt, jeder auch noch so bescheidenen Verrichtung würde Gnade innewohnen, wenn man ihr nur mit Würde begegnete. Ich hoffte sehr, dass das stimmte, denn es würde einer großen Menge an Gnade bedürfen, um mich von meinen Sünden zu reinigen.

Und so ließ ich schon vor Sonnenaufgang Solace schlafend auf dem Bett zurück, blieb noch einen Moment stehen, um ihr über das warme Köpfchen zu streicheln und die Decke festzustecken. Während es langsam hell wurde, stand ich an der Feuerstelle, stocherte in den Kohlen und entzündete ein neues Feuer. Vaters Sorge, Caleb könne bei dem Tagesablauf, wie wir ihn gewohnt waren, nicht mithalten, schien unbegründet zu sein. Offensichtlich war er bereits aufgestanden, während es draußen noch stockdunkel war, denn sein Bettzeug lag zu einem ordentlichen Stapel zusammengefaltet in einer Ecke. Einen Moment lang dachte ich, er habe uns vielleicht verlassen und sei in den Wald zurückgekehrt, doch dann sah ich den aus Gras geflochtenen Korb, in dem er seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte, an der Hakenleiste hängen.

Ich ging hinaus, um Wasser zu holen. Als ich mich aufrichtete, um den gefüllten Eimer hochzuheben, sah ich Caleb, der, mit dem Sonnenaufgang im Rücken, von den flachen Dünen am Strand zurückkehrte. Das gefrorene Gras knirschte unter seinen Füßen. Als er sich dem Garten näherte, wünschte ich ihm einen guten Morgen, was er höflich erwiderte. Er legte eine Hand an den Eimer. »Nicht nötig«, sagte ich. »Ich schaffe das schon.« Er lächelte, schien sich jedoch nicht abbringen zu lassen, und weil ich kein Gerangel wollte, ließ ich den Griff los, damit er den Eimer nehmen konnte.

»Du bist früh unterwegs.«

»Immer«, erwiderte er. »Solange ich mich erinnern kann, ist kein Morgen vergangen, an dem ich nicht Keesakand mit einem Lied begrüßt habe, wenn er aufgeht.«

Ich blieb abrupt stehen. Dann war er also wirklich, wie mein Bruder behauptete, immer noch ein Götzenanbeter? Ich war froh, dass ich den Eimer mit dem Wasser nicht mehr in der Hand hielt, denn sonst hätte ich es bestimmt verschüttet.

Er lächelte. »Schau mich nicht so an, Sturmauge. Hat denn nicht Gott die Sonne erschaffen? Und darf ich mich nicht mit einem Lied daran erfreuen? Dein Vater hat mich nie gelehrt, dass der einzige Platz zum Beten in den düsteren vier Wänden eures Versammlungshauses liegt. Der Geist Gottes scheint uns aus jedem göttlichen Ding entgegen. Wundere dich also nicht, wenn ich meine Hände erhebe und sie nach seiner Gnade ausstrecke.«

Wir waren an der Tür angelangt, und ich hob den Riegel, um ihn einzulassen. Die anderen rührten sich jetzt auch. Makepeace hielt Solace, die aufgewacht war, in den Armen, und ich nahm sie ihm ab, gab ihr etwas Sauermilch und fragte mich, was wohl Vater von unserem Gespräch gehalten hätte. Den ganzen Morgen, während ich meiner Arbeit nachging, dachte ich über dieses Zusammenfließen zweier Glaubensrichtungen nach, die doch auf den ersten Blick unvereinbar schienen, und ich fragte mich, ob man die Vorstellungen der Rothäute wirklich in Einklang mit unseren strengen Grundsätzen bringen konnte. Wie leicht hatte Caleb die Lehren aus seiner Jugend – die vielen Götter, die belebte Geisterwelt – genommen und sie nach unseren Glaubensvorstellungen umgeformt. Und Vater, so schien es, war damit zufrieden.

Später an jenem Tag, als die Männer von ihren morgendlichen Arbeiten zurückkamen, setzte ich ihnen ein Mittagessen vor und räumte anschließend den Tisch ab, an dem, wie Vater verkündet hatte, der Unterricht stattfinden würde. Danach verließ ich das Haus für die Feldarbeit, die begann, sobald der Boden getaut und die Erde ein wenig getrocknet war. Wie allgemein bekannt, muss man Erbsen bei Neumond pflanzen, und so stand ich über das Feld gebeugt und wendete emsig kalte Erdschollen, während Iacoomis Joel brachte, der am Nachmittagsunterricht meines Vaters teilnehmen sollte. Ich hoffte, dass Caleb seine oft bekundete Ablehnung gegenüber Iacoomis und seinem Sohn überwinden und sein Gesinnungswandel ihn dazu bringen würde, die beiden mit anderen Augen zu betrachten. Es war schon seltsam, dass wir, die wir früher so leichthin und so lange über alle möglichen Themen und Angelegenheiten gesprochen hatten, nun nichts mehr miteinander reden konnten, was über einen raschen Gedankenaustausch in einem unbeobachteten Moment oder über ein paar Allgemeinplätze in Gesellschaft anderer hinausging. Obwohl wir unter einem gemeinsamen Dach lebten, war die Distanz zwischen uns so groß, als hätte es die Jahre unserer Freundschaft nicht gegeben.

Während das Licht dahinschwand und die Kälte durch meine Holzpantinen drang und meine Frostbeulen zum Pochen brachte, kehrte ich nach Hause zurück, wo Solace von ihrem Nickerchen erwacht war und sich leise quengelnd die Augen rieb. Als sie mich sah, lächelte sie fröhlich und streckte die Arme aus. Ich hob ihren kleinen, vom Schlaf noch ganz trägen und warmen Körper aus dem Bettchen, drückte mein Gesicht in ihre weiche Halskuhle und pustete ganz sanft, bis sie laut lachte. Ich nahm einen Becher mit warmer Milch, den ich bereits zubereitet hatte, und trug sie in den angrenzenden Raum, den wir Speisekammer nannten, obwohl auch »Werkzeugkammer« oder »Hühnerstall« passende Namen gewesen wären, denn wir hatten hier ein paar Stangen eingezogen, auf denen das Geflügel sitzen konnte, wenn es im Stall draußen zu kalt wurde. Ich legte einen alten Mehlsack auf den Lehmboden und setzte Solace darauf ab, gab ihr eine Holzpuppe zum Spielen, die Makepeace für sie geschnitzt hatte, und machte mich ans Abseihen der Molke.

Auch wenn ich leise ein Lied für Solace sang, war es doch unmöglich, das zu überhören, was auf der anderen Seite der dünnen Wand vor sich ging. Makepeace quälte sich durch eine Übersetzung von Quintus Mucius Scaevola und verhunzte gerade die vierte Konjugation. Vater war mit seinen Korrekturen sogar noch nachsichtiger als gewöhnlich, weil er Makepeace vor Joel und Caleb offenbar nicht bloßstellen wollte. Als Makepeace zum Ende der kurzen Passage gelangt war, forderte Vater die Jungen auf, die ersten Deklination von vita und mensa aufzusagen, die sie hatten lernen sollen, und beide kamen gut damit zurecht. Ich hörte, wie Vater den Unterschied zwischen den lateinischen und den englischen Formen hervorhob: »Wir sagen, ›ich schlage ihn‹ und nicht ›ich schlage er‹, weil wir die Person, die schlägt, in den Nominativ setzen. Doch nur sehr wenige Wörter in dem heute gesprochenen und geschriebenen Englisch besitzen einen Akkusativ, der sich vom Nominativ unterscheidet. Im Lateinischen hingegen …«, und dachte mir, dass er den Jungen ziemlich viel abverlangte. Zumindest Caleb hatte ja keine formellen Kenntnisse der englischen Grammatik, und dennoch sollte er die Besonderheiten des Lateinischen (auf das später Griechisch und Hebräisch folgen würden) beherrschen.

Da ich nicht stören wollte, ging ich hinaus, um noch einmal Wasser zu holen. Wie gewöhnlich hob ich den Deckel des Brunnens in die Höhe und ließ den Eimer nach unten. Als ich ihn wieder hochholte, sah ich selbst im Zwielicht, dass darin etwas Dunkles und Unerquickliches schwamm. Ich steckte die Hand in das eisige Wasser und zog sie sofort wieder zurück, denn sie hatte das Fell einer toten Ratte berührt, die es offenbar geschafft hatte, in den Brunnen zu fallen und zu ertrinken, obwohl ich mir angesichts des immer geschlossenen Deckels nicht recht vorstellen konnte, wie das passiert war. Dann wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich selber, abgelenkt durch Caleb, an diesem Morgen den Deckel offen gelassen hatte. Jemand musste ihn im Laufe des Tages wieder darübergeschoben haben. In der zunehmenden Dunkelheit war nicht viel zu erkennen, weshalb ich den Deckel schloss, das verseuchte Wasser auskippte und die Untersuchung des kleinen, nassen Kadavers auf den nächsten Morgen verschob. Glücklicherweise hatte ich noch etwas Wasser im Kessel übrig, mit dem wir uns vor dem Abendessen waschen konnten.

Der Unterricht war beendet, doch Caleb saß immer noch über sein Buch gebeugt am Tisch, als ich hereinkam und ihm von dem unangenehmen Vorfall am Brunnen berichtete. Vater zuckte mit den Schultern. »Wir können uns glücklich schätzen, dass wir hier in Great Harbor nicht tief graben müssen, wenn wir eine frische Quelle suchen. Gleich morgen früh schauen wir nach, ob die Gefahr besteht, dass das Wasser verdorben ist. Einen neuen Brunnen zu graben, dürfte ohne großen Aufwand machbar sein, und in der Zwischenzeit können wir unser Wasser bei den Nachbarn holen.«

Ich stellte fürs Abendessen den Käsebruch und etwas Brot hin. Vater und Makepeace gingen in die Speisekammer, wo ich die Schüssel mit angewärmtem Wasser bereitgestellt hatte, während Caleb über seiner lateinischen Formenlehre brütete und sich leise die neuen Wörter zuflüsterte, die er gerade gelernt hatte. Als ich den Tisch deckte, schaute er auf und folgte mit dem Blick meinen Händen. Er blätterte noch einmal kurz in dem Lehrbuch und schloss es dann, auf den Lippen ein zufriedenes Lächeln. »Puella …« Hier zeigte er auf mich. »Mensam …« Dann auf den Tisch. »Ornat …deckt«, sagte er leise. Ich hielt inne, wieder einmal verblüfft über die Flinkheit seines Verstandes. Er blickte auf, und als wir uns anlächelten, war die Vertrautheit früherer Zeiten wieder da. »Ich habe deine Unterrichtsstunden vermisst, Sturmauge«, flüsterte er. Dann ging auch er hinaus, um sich an der Wasserschüssel zu waschen.