I

Heute Morgen lag das Licht auf dem Meer, als hätte Gott einen ganzen Kelch geschmolzenen Goldes auf dunklem Samt ausgegossen.

Wie immer war ich zum Sonnenaufgang wach und habe es gesehen. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal mein Haupt zur Ruhe gebettet und die Nacht durchgeschlafen habe. Ich döse nur noch, ob nun bei Tage oder bei Nacht, in den kurzen Abständen, wenn der Schmerz abebbt und ich mir ein wenig Ruhe gönnen kann. Das dickste, weichste Federbett könnte ebenso gut nur ein harter Balken sein, so wenig kann ich mich darauf entspannen. Den Gedanken, mich zu Bett zu legen, um zu schlafen, habe ich schon vor Wochen aufgegeben, weil ich mich nicht mehr von alleine umdrehen kann und andere nicht damit belasten will, sich ständig um mich zu kümmern. Ich habe einen Stuhl mit einem Hocker davor, dazu Decken und Kissen, welche ich nach Belieben so hinlegen kann, wie ich es brauche, um das eine Zipperlein zu besänftigen und den anderen brennenden Schmerz zu lindern.

Bald werde ich sterben. Und ich brauche nicht die Trauer in den Blicken der anderen zu sehen, um das zu wissen, denn ich weiß genug über den Tod, um seine Anzeichen zu erkennen, und lese in jedem mühseligen Atemzug, den ich tue, wie hinfällig mein Körper geworden ist. Wenn eines der Kinder hereinkommt, um zu schauen, wie es mir geht, breite ich nicht mehr die Arme aus, um es willkommen zu heißen. Es sind alles liebe Kinder, die auch auf das kleinste Zeichen von mir jederzeit hereinkommen und einen oder zwei höfliche Momente lang den geliebten Kopf auf meine Brust betten würden, doch ich will ihnen den Gestank des Todes, der mich umgibt, nicht zumuten. Abgesehen davon, dass selbst die kleinste wohlmeinende Zärtlichkeit nunmehr tiefblaue Flecken auf meiner Haut hinterlässt.

Gott ruft mich zu sich, jeden Tag ein wenig mehr von mir. Er hat schon viel geholt, doch meine Sehkraft hat er mir gelassen, und dafür bin ich ihm dankbar. Noch immer sehe ich die Herrlichkeit seiner aufgehenden Sonne durch die schlierigen Fenster meines Zimmers. Ich kann den Wind beobachten, wie er das Wasser kräuselt, ich sehe den Fischadler, der sich auf Beutezug urplötzlich vom Himmel stürzt, sehe die Gewitterwolken, die sich zu dunkelroten Kissen aufbauschen. Ich sitze am Fenster, aufgestützt wie eine Puppe auf einem Bett, und schaue hinaus. Ich schaue und erinnere mich. Jetzt, wo alles andere nicht mehr da ist, ist das, was ich sehe, und das, woran ich mich erinnere, alles, was mir geblieben ist.

Gestern Abend bat ich die anderen, mir meine geschnitzte Schachtel hereinzubringen, die ich damals in Padua im Jahre meiner Hochzeit mit Samuel bekam. Es ist Ewigkeiten her, seit ich das letzte Mal hineingeschaut habe. Die Seeluft hat die Scharniere zum Rosten gebracht, und ich musste mir mit meinen steifen Händen eine Weile daran zu schaffen machen, bevor es mir gelang, sie zu öffnen. Doch die Blätter waren immer noch darin. Die ganz frühen, reines Gekritzel, zerknittert und befleckt, manche mit ein paar lateinischen Sätzen in Makepeace’ kindlicher Handschrift, die Fehler mit wütenden Strichen übermalt, bevor er das verdorbene Papier wegwarf. Dann die Blätter aus späteren Jahren, mit wenigen Worten in Elijah Corletts sorgfältiger Schrift, welche vielleicht nur wegen eines kleinen Tintenflecks oder eines nicht ganz gelungenen Federstrichs weggeworfen worden waren. Und auf jedem Blatt meine eigene Handschrift, Zeile für Zeile, vorne wie hinten.

Jetzt schmerzt meine Hand, während ich diese Zeilen zu Papier bringe, die mehr an Spinnenbeine erinnern als an Geschriebenes. Mit jedem Druck auf die Feder mahlt sich der Schmerz durch die Knochen meines Handgelenks. Doch ich muss schreiben. Jetzt, wo das Ende nahe ist, verspüre ich den Drang, die Geschichte zu beenden, die ich einst begann, vor so vielen Jahren, als diese neue Welt und ich noch jung waren und noch alles möglich schien. Ich muss mein Leben niederschreiben, mein Leben, Calebs Übergang von seiner Welt in die meine und all das, was daraus wurde. Die Zeit ist kurz, doch ich bete darum, dass der, in dessen Händen mein Leben liegt, mir noch genügend Tage schenkt, damit ich diesen Bericht vollenden kann.

Es hat einen Großteil dieses Tages gedauert, bis ich all die verblichenen Schilderungen meiner Mädchenseele gelesen hatte. Oft genug musste ich innehalten, weil mich die Erinnerung bedrängte und mir Tränen in die Augen trieb, bis alles um mich herum verschwamm. Einmal jedoch gelangte ich auch an eine Stelle, an der ich laut auflachen musste – und für meine Fröhlichkeit bitter mit einem stechenden Schmerz bezahlen musste. Es waren die Zeilen, in denen mein siebzehnjähriges Ich das eigene Alter und den Tod heraufbeschworen hatte, die mich so sehr zum Lachen brachten.

Oh, du ichbezogene Gewissheit der Jugend! Gebrechliche Greisin – so schrieb sie. Gut und schön, das hatte sie immerhin vorhergesehen, doch beim Nächsten – eine wunderbare Frucht … Wieder muss ich lächeln, während ich jene Worte niederschreibe. Über reife Früchte könnte ich dem einfältigen Mädchen so manches erzählen. Von Maden und von Schimmel. Von Fäulnis und von sterblichen Überresten. Einem säuerlichen Geschmack, den man nicht mehr aus dem Mund bekommt.

Ist es denn immer so, das Ende der Dinge? Zählt denn eine Frau jemals die Körner, die sie geerntet hat, und sagt: gut genug? Oder denkt man doch immer, man hätte es noch besser machen können, wenn man sich nur mehr angestrengt hätte, wenn der Ehrgeiz größer und die Entscheidungen weiser gewesen wären? Ich lese weiter und muss wieder über dieses vor Leben strotzende junge Mädchen lächeln, über seinen Wagemut und seine Launen, und über all das, wovor es sich fürchtete.

Jetzt, wo ich mich eigentlich am allermeisten fürchten müsste, stelle ich fest, dass es nur noch wenig gibt, was mir Angst macht. Ganz gewiss nicht mein Tod; obwohl mir die Predigten eines ganzen langen Lebens auf Erden sagen, dass ich im Jenseits mit dem harten Schiedsspruch eines zornigen Gottes zu rechnen habe. Ich glaube fest daran, dass Gott nicht nur den Moment meiner Geburt bestimmte, sondern auch den meines Todes und all die Umstände meines Lebens dazwischen. Ich wünschte, ich könnte sagen, so wie die Auserwählten unter uns es gerne tun, dass ich keinen Finger rühren würde, um meine Bestimmung durch Gott zu ändern. Doch das kann ich nicht, denn es gibt vieles, was ich ändern würde, läge es in meiner Macht. Vielleicht ist das der Grund, warum Gott nicht zu mir gesprochen hat. Ich rechne nicht damit, dass mir in der wenigen Zeit, die mir noch bleibt, ein Weg zur Erlösung gewiesen wird. Während ich hier sitze, schlaflos und unter Schmerzen, wird mir bewusst, dass diese Pein vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das ist, was mich in der Ewigkeit erwartet. Und doch bin ich nicht bereit, das, was ich nicht wissen kann, zu fürchten.

Nur eines weiß ich, weil das Übermaß an Verlusten in meinem Leben es mich gelehrt hat: Es wird leichter sein, betrauert zu werden, als selbst um jemanden zu trauern.