IV

Gestern Abend, als ich von den alltäglichen Dingen jener frühen Sommermonate schrieb, kam auf einmal ein Gefühl des Friedens in mir auf. Nachts träumte ich dann von jener Zeit, und als ich aufwachte, war ich voller Enttäuschung. Es ist wahr, dass ich damals ständig hundemüde war. Oft wachte ich im Morgengrauen auf und wünschte mir nichts sehnlicher als Schlaf, und meine Arme schmerzten so sehr von der Schufterei des vergangenen Tages, dass ich es kaum schaffte, Solace aus ihrem Bettchen zu heben und hinunterzutragen. Oft während des Tages richtete ich mich beim Teigkneten oder Hacken auf dem Feld kurz auf und dachte daran, wie ich noch ein Jahr zuvor ungezügelt und frei mit Caleb in der weichen, warmen Luft umhergestreift war, noch unberührt von der Sünde, die solches Unglück über uns gebracht hatte. Denn damals, in jenem Sommer, war ich so dumm gewesen, mein Leben als traurig zu empfinden, und wusste die Geschenke jener Jahreszeit nicht zu schätzen. Ich konnte nicht vorhersehen, welche Verluste und welche Mühsal erst noch auf mich zukommen sollten.

Mein anstrengendes Tagwerk zu jener Zeit war nichts im Vergleich zu der schweren Arbeit, die ich hier in Cambridge verrichte. Als ich heute Morgen den Eimer in den Brunnen hinabließ, um Waschwasser zu holen, erhaschte ich einen Blick auf mein Gesicht. Zuerst erkannte ich die ausgemergelte, finstere Fratze, die mich von dort unten anschaute, gar nicht. Auf der Insel hatte mich die frische Meeresluft stets mit neuem Leben erfüllt. Nie herrschte Mangel an sauberem Wasser oder an Holz, um das Haus zu heizen. Meine Aufgaben waren zwar zahlreich, aber auch sehr vielseitig. Hier jedoch friere ich und leide Hunger, und mein ganzes Leben ist eine Schufterei. Die verstorbene Herrin des Hauses war schon älter und hatte schlechte Augen. Fromme Sauberkeit war ihre Sache nicht, und so hatte ich eine ganze Weile zu tun, bis ich die Böden geschrubbt, die Ecken und Winkel von Mäusekot gesäubert und das schmuddelige Leinen mit blauer Stärke und kochendem Wasser gereinigt hatte. Es ist meine Aufgabe, die Kleider aller Schüler sowie die fadenscheinige Tischwäsche zu waschen und gegebenenfalls zu stopfen. Tag für Tag wische ich die Böden, schrubbe und bestreue sie einmal in der Woche mit Sand, so wie wir es zu Hause immer getan haben, obwohl diese Aufgabe hier, wo so viele Menschen mit schmutzigen Stiefeln ein und aus gehen, viel schwerer ist. Der Master, mein Herr, beauftragt die Jungen mit dem Holzhacken, sofern wir welches haben, doch es fein zu spalten, ist meine Sache. Da wir auf Schenkungen angewiesen sind, ist Holz die meiste Zeit knapp. Ich bereite das karge Mittagessen zu und richte ein paar Reste als Vesper und Abendbrot her. Ich backe Brot, koche eine dünne Brühe. Mehr kann ich mit so wenigen Lebensmitteln nicht ausrichten – jeweils einem Sack Roggen und Mais, ein wenig Hefe, einigen knorpeligen Stückchen Fleisch und ein paar Rüben. Wenn eine der Familien eines Schülers etwas spendet – einen Hammelhals etwa oder ein Paar Hühner –, dann ist das ein Segen, aus dem ich versuche, das Beste zu machen, indem ich die Knochen so lange auskoche, bis selbst ein verhungernder Hund nichts mehr daran zu knabbern finden würde. Doch die Zeiten sind hart für die Siedler, und derlei Geschenke waren in diesem Semester rar.

Die Schule geht auf die Crooked Street hinaus, rechts und links davon steht jeweils ein Haus. Auf unserem bescheidenen Grundstück ist Platz für einen Garten, dessen Früchte, auch wenn es nur Wurzelgemüse und Kräuter sind, die Jungen vielleicht doch bei ein wenig besserer Gesundheit halten. Ich war sehr erstaunt, als ich feststellte, dass niemand bisher auf die Idee gekommen war. Es gibt genug Platz, um bei der Tür ein paar Hühner zu halten, und ich habe mir vorgenommen, ein paar aufzuziehen, sobald es wärmer wird. Im Herbst hatte ich bei Spaziergängen auf dem Cow Common oft wilden Dill oder Grünzeug für einen Salat gepflückt, war auf Beeren gestoßen, die andere übersehen hatten, und hatte damit eine schnelle Nachspeise zubereitet. Doch mit dem nahenden Winter bestand selbst auf diese kleinen Mengen keine Aussicht mehr, und jetzt ist jeder von uns hohlwangig und hat entweder eine laufende Nase oder einen feuchten Husten.

Cambridge ist kein hübscher Ort. Diejenigen, die hier in den Dreißigerjahren dieses Jahrhunderts gesiedelt haben, legten per Gesetz fest, dass die ersten sechzig Häuser ganz eng beieinanderstehen sollten, vermutlich aus Angst vor einem Angriff durch europäische Widersacher, denn die einstigen Ureinwohner dieser Gegend sind schon längst alle irgendeiner Seuche zum Opfer gefallen, über die es keine Aufzeichnungen mehr gibt. Die wie ein Schachbrettmuster angeordneten Häusergrundstücke sind schmal, und die flache Anhöhe, auf der die Stadt gebaut wurde, schneidet sie von dem Entwässerungssystem des Hinterlands ab, wodurch sich bei starken Regenfällen alles in einen morastigen Sumpf verwandelt. Es gibt mehrere Manufakturen hier, die zwar jede Menge Lärm verursachen – ein Gerber, ein Ziegelmacher, ein Schmied und ein Schiffsbauer erfüllen bei Tage jede Stunde mit einem Höllenkrach –, jedoch nicht ausreichen, um dem Städtchen Wohlstand zu bringen. Für Kutschen sind die Wege zu holprig. Da sich die Leute hier nicht darum scheren, wo sie ihre Nachttöpfe leeren, stinkt es erbärmlich, und überall erheben sich übelriechende Berge aus Unrat. Der Bach führt nur Brackwasser, doch selbst wenn das nicht der Fall wäre, könnte das Wasser nicht gesund sein, weil es im ganzen Ort als Kloake verwendet wird. Darum muss man auch statt Wasser auf leichtes Bier als Getränk zurückgreifen, wovon ich oft Kopfweh bekomme und das auch den Jungen bestimmt nicht zuträglich ist, vor allem den jüngsten nicht, von denen zwei kaum neun Jahre alt sind. Da man kein Holz für das Erwärmen von Badewasser erübrigen kann, erwartet Master Corlett von den Jungen, dass sie sich draußen an einem Trog waschen, von dem sie jeden Morgen erst einmal das Eis weghacken müssen, was sie natürlich nur mit Mühe schaffen. Ich musste ihm ein wenig Talg und Lauge abschwatzen, die ich mit Asche mischte, um Seife herzustellen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es war, bevor ich hierherkam. Und selbst jetzt, wo die Jungen Seife zur Verfügung haben, riechen sie streng, wenn sie im Klassenzimmer dicht nebeneinander in die Bänke gequetscht sitzen, und wenn ich den überfüllten Dachraum reinigen muss, in dem sie schlafen, atme ich nur durch den Mund, um den fauligen Gestank halbwegs ertragen zu können.

Das alles stellt Makepeace auf eine harte Probe, der ganze zwei Jahre älter als die ältesten Schüler hier ist. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er bei jedem Anlass auf die Insel fährt, um einmal wieder etwas Gutes zu essen, ein paar Nächte an einem warmen Feuer zu schlafen, und einige Tage Einsamkeit und Frieden ohne seine lärmenden Mitschüler zu genießen. Doch sein häufiges Fehlen ist seinen Studien nicht gerade dienlich, und oft genug laufen ihm jüngere Schüler den Rang ab. Wann immer wir einen Spaziergang unternehmen, sehe ich, wie sein Blick die kurze Entfernung zwischen der Schule und dem Harvard College hin und her wandert und den Studenten in ihren Talaren folgt. Seine Augen bekommen dann einen begierigen Ausdruck, doch die kleine Falte zwischen seinen Brauen sagt mir, dass der Zweifel an ihm nagt und er sich fragt, ob er wohl jemals seinen Platz unter ihnen einnehmen wird.

Für Caleb und Joel gibt es solche Ruhepausen, wie sie Makepeace für sich in Anspruch nimmt, nicht, denn ihnen bleibt die Fahrt auf die Insel schon aus Geldmangel verwehrt. Ich kann mir nur vorstellen, dass das Leben hier für sie unerträglich ist, denn das hier ist eine Welt, die ihnen vollkommen fremd und, in vielerlei Hinsicht, auch derjenigen weit unterlegen ist, die sie früher gekannt haben. Besonders für Caleb, der den größten Teil seines Lebens in der Natur verbracht hat, muss es eine gewaltige Umstellung sein, hier eingesperrt zu sein, und ich weiß sehr wohl, wie sehr er kämpft, um sich allem anzupassen. In den ersten Wochen, nachdem wir hierhergekommen waren, riss mich in der dunklen Stunde vor Morgengrauen des Öfteren etwas aus dem Schlaf, und wenn ich mich auf meiner Pritsche umdrehte, sah ich einen Schatten vorbeihuschen. Es war Caleb, der sich auf leisen Sohlen aus der Tür und durch den Küchengarten schlich. Vermutlich suchte er nach einem Platz, von dem aus er Kessakand begrüßen konnte. Mittlerweile tut er das nicht mehr. Ich habe nicht mit ihm darüber gesprochen, weil ich kein Salz in seine Wunden streuen wollte, deshalb kenne ich auch seine Gründe nicht. Doch vermute ich, dass er nach einem Platz suchte, der dem von früher ähnelte, einem Platz frei vom Ruß und Gestank englischer Betriebsamkeit, von dem aus er die Sonne begrüßen konnte. Wenn dem so war, dann musste seine Suche vergeblich bleiben, denn zumindest in der näheren Umgebung hat der Mensch hier auf jedem Zoll Erde deutlich seine Spuren hinterlassen.

Mich ärgert es, wenn ich gelegentlich den Schulmeister oder einen der älteren englischen Schüler sagen höre, ein Indianer müsse sich besonders glücklich schätzen, hier zu sein. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es ein Fehler von uns ist, immer nur das zu sehen, was wir in einem solchen Fall geben, und nie in Betracht zu ziehen, was andere aufgeben müssen, um diese Gabe anzunehmen. Und doch steht es mir nicht zu, dies alles gegeneinander abzuwägen – den Glauben an Jesus Christus und unsere Bildung gegen eine heidnische Götterwelt und ein unbequemes Leben in der Wildnis. Ich muss jedoch davon ausgehen, dass Caleb und Joel beide Welten als gleichwertig empfinden. Denn sie glauben fest an die ehrgeizigen Pläne, die mein Vater mit ihnen hat, und arbeiten fleißig an ihrem Lernpensum. Beide sind fest entschlossen, sich im nächsten Herbst in Harvard zu immatrikulieren. Vaters Glauben, dass sie dazu ausersehen sind, ihr Volk aus der Finsternis zu führen, haben sie sich zu Herzen genommen, und um dies zu tun, müssen sie nicht nur Hunger und Kälte ertragen, sondern auch ihre Auffassungsgabe an ihre Grenzen führen.

Eines muss ich Master Corlett, dem Schulmeister, lassen: Er widmet sich denjenigen, die lernen wollen, in außergewöhnlichem Maße und unterrichtet sie bis spät in die Abendstunden. Ich bete nur, dass Caleb und Joel nicht unter der Last zusammenbrechen und sich ihre Gesundheit der ungesunden Umgebung hier gewachsen erweist. Sie sind stark, aber ich erkenne dennoch eine Veränderung in ihnen.

Joel hat etwas von dem ausgehungerten Äußeren seines Vaters aus jenen Tagen angenommen, als Iacoomis sich zum ersten Mal bis an die Grenzen der englischen Siedlung vorwagte, noch bevor er und Vater Freunde wurden. Manchmal, wenn ich um eine Ecke biege und unerwartet auf Joel stoße, finde ich die Ähnlichkeit verblüffend. Für Iacoomis bedeutete sein neues Leben in Great Harbor einen großen Fortschritt, er hatte sich vom Ausgestoßenen zu einem geschickten Ernährer entwickelt, der gut für seine Nachkommen sorgen konnte. Joel jedoch hat seine wohlgenährte Körperfülle verloren und wirkt nunmehr fast sehnig und hager. Caleb kommt besser mit den Umständen zurecht, denn sein Körper ist an die jährlichen Zyklen eines üppigen Sommers und eines kargen Winters gewöhnt. Wie er allerdings auf lange Sicht mit den andauernden Entbehrungen hier zurechtkommen wird, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls vergeht kein Tag, an dem er nicht eine neue, anmutige Redewendung lernt oder an seinem Gebaren als Gentleman feilt, und seine Größe und natürliche Haltung heben ihn deutlich von anderen ab. Er quillt beinahe über, wie ein Bach, der Hochwasser führt, denn er sammelt alles Wissen, das ihn umspült, was auch immer es sein mag. Ich bemerke, wie er die anderen Schüler beobachtet, selbst die jüngeren, als wollte er überprüfen, ob ihre Herkunft sie vornehmer gemacht hat. Schon von Beginn an hatte er ein ausgezeichnetes Gehör für Englisch, und mittlerweile spricht er fließend und gänzlich ohne Akzent. Dabei bewegt er sich mit so großer Selbstverständlichkeit auch unter Menschen, die ihrem Rang nach weit über ihm stehen, dass über kurz oder lang all diejenigen, die seine Geschichte nicht kennen, ihn schwerlich als den erkennen werden, der er ist, und ihn eher für einen Spanier oder Franzosen, oder den Angehörigen eines anderen, dunkleren Volksstammes halten werden.

Vor nicht allzu langer Zeit, als ich durch den Flur neben dem Klassenzimmer ging, hörte ich, wie der Master ihn bat, laut eine Passage aus der Bibel in Hebräisch vorzulesen. Da die Schüler erst kürzlich mit dem Studium dieser Sprache begonnen hatten und noch nicht recht wussten, welche Klänge zu diesen sonderbaren, flammenden Buchstaben gehörten, blieb ich stehen, den Arm voller Leintücher, um ein wenig zu lauschen. Master Corlett hatte Caleb dazu aufgefordert, sich selbst eine Stelle auszusuchen, und er hatte einige Verse aus dem Buche Jeremia gewählt. Ich hörte seine Stimme, kräftig und selbstbewusst, wie sie diese kehligen Laute formte, die so sehr denen seiner Muttersprache ähnelten. Seit ich hierher kam, habe ich gehört, manche Gelehrten hielten die Indianer wegen der Ähnlichkeit der Sprache für einen der verlorenen Stämme Israels. Caleb ging sehr bedachtsam vor und schien sich die Aussprache eines jeden Wortes vorher genau zu überlegen. Als ich hörte, wie wacker er sich in einem so schwierigen Unterfangen schlug, freute ich mich zuerst, bis ich merkte, dass an seiner Stimme etwas Fremdes war, das nichts mit der Aussprache der hebräischen Wörter zu tun hatte. In der alten Sprache nahm seine Stimme einen ganz anderen Klang und Ton an. Auf einmal hatte ich das Gefühl, er singe die Worte mit der Stimme eines pawaaw … und bei diesem Gedanken war ich sogleich wieder bei jenen bunt gefärbten Klippen am Meer und hörte die wilden, heftigen Gebete, die in einen Himmel voll züngelnder Flammen emporstiegen.

Meine Arme erschlafften, und einige der Leintücher fielen zu Boden. Als ich mich bückte, um sie aufzuheben, begann der Master, das Hebräische ins Englische zu übersetzen, und die Bedeutung der Passage traf mich mitten ins Herz: Lasst uns in die festen Städte ziehen, dass wir daselbst umkommen. Denn der Herr, unser Gott, wird uns umkommen lassen und tränken mit einem bitteren Trunk, dass wir so gesündigt haben wider den Herrn. Wir hofften, es sollte Friede werden, doch so kommt nichts Gutes. Wir hofften, wir sollten heil werden, aber siehe, so ist mehr Schaden da.«

Und auch diese letzten Worte erinnerten mich an etwas – an Tequamuck und seine schrecklichen Prophezeiungen. Wenn es wirklich so ist, dass die hiesigen Indianer verlorene Juden sind, dann ist vielleicht einer wie Tequamuck der Jeremias seines Volkes. Nicht zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, was Caleb wohl in jenen Monaten in der Wildnis erlebt hatte. War er, wie Makepeace behauptete, wirklich ein Gefäß, durch das noch immer Dunkelheit sickerte, ein Kanal, durch den das Böse selbst in Gottes eigene Kirche gespült werden konnte …?

Natürlich war dem nicht so. Diese krankhaften Vorstellungen waren allein meiner Erschöpfung geschuldet. Und doch traten mir Tränen in die Augen. Ich bin so nah am Wasser gebaut. Und auch jetzt, während ich dies schreibe, kommen mir die Tränen. Es scheint, als könnte ich bis in alle Ewigkeit weinen, und doch wäre das Brünnlein meines Kummer noch nicht versiegt.