IX
Wie sich herausstellte, schlug mir Vater etwa zu dieser Zeit tatsächlich eine Reise vor, allerdings nicht die, die ich so gerne unternommen hätte. Großvater hatte die Absicht, einen Anteil an der Schrotmühle der Merrys zu erwerben, und wie immer erwartete er von Vater, als sein Unterhändler aufzutreten.
»Ich dachte, ich könnte Bethia mitnehmen, wenn sie Freude daran hat mitzukommen«, sagte Vater zu Mutter eher unvermittelt am Frühstückstisch. »Sie ist in letzter Zeit ziemlich blass, und ich denke, der lange Ritt an der frischen Luft wird ihr vielleicht guttun.« Er sprach ganz beiläufig, doch mir entging trotzdem nicht der bedeutungsvolle Blick, den er mit Mutter wechselte, als sie ihm ein heißes Maisküchlein reichte. »Es wird dir gefallen, dir die Farm der Merrys anzuschauen, Bethia; wie ich höre, hat man von dort eine hübsche Aussicht auf den Bach, der mitten hindurchfließt und den man zu einem Mühlteich aufgestaut hat. Und auch das Haus soll bemerkenswert sein, heißt es. Leute, die es gesehen haben, sagen, es habe eine ganze Reihe von Glasfenstern und sogar eine Holzvertäfelung.« Bei dieser letzten Erwähnung blickte Makepeace auf und gab ein missbilligendes Schnauben von sich. »Eitler Tand, der unserem Gebot der Schlichtheit widerspricht«, sagte er. Ich fand, dass es meinen Bruder nichts anging. Wenn ein Mann sich Glasfenster einbauen oder seine Wände verkleiden ließ, dann wollte er vielleicht nur, dass es im Winter, wenn der eisige Wind durch jede Ritze und jeden Spalt drang, in seinem Haus weniger zog. Und was ist schon verwerflich daran, wenn wir unsere Fähigkeit nutzen, etwas schön zu gestalten?
An dem verabredeten Morgen war es kalt, aber sonnig und trocken. Mutter strich mir zärtlich übers Gesicht, bevor wir uns auf den Weg machten, und schaute mich mit liebevollen, aber auch forschenden Augen an. »Ich freue mich für dich, dass du eine Weile hier herauskommst und frische, gesunde Luft atmen kannst«, sagte sie. »Du bist in letzter Zeit nicht mehr so viel unterwegs wie früher. Ich habe mich schon gefragt, woran das liegt.« Ich senkte verlegen den Blick und sagte nichts, spürte jedoch die Hitze in meinem Gesicht. Mutters raue, abgearbeitete Finger strichen mir über die Wange. »Du musst dich für diese Veränderung in deinen Gewohnheiten nicht rechtfertigen. Du hast eine Zeit in deinem Leben erreicht, in der sich unweigerlich viele Dinge ändern werden. Vielleicht stellst du ja fest, dass das, was dir früher wie ein guter Zeitvertreib erschien, von einem Tag auf den anderen seinen Reiz verliert und dir nur noch wie kindliches Getändel vorkommt. Ich bin froh, dass du mir wieder mehr im Haus hilfst; du musst nicht denken, dass es mir nicht gefällt, dich öfter hier bei mir zu haben. Aber ich denke auch, dass diese letzten Wochen dir nicht sehr gutgetan haben. Versuche deinen Besuch bei den Merrys zu genießen. Und was auch immer dich so sehr zu belasten scheint, versuche, es einmal zu vergessen.« Sie gab mir einen Kuss, und ich erwiderte ihre Umarmung mit vollem Herzen.
Ich weiß nicht, ob sie Vater gebeten hatte, mich etwas aufzumuntern, doch schien er mir besonders gut gelaunt, als wir zu unserem Ritt aufbrachen. Im Sommer hatte ich vorgeschlagen unsere Jungschafe würden vielleicht besser gedeihen, wenn man sie auf etwas höhere Weidegründe brachte. Auf meinen Streifzügen hatte ich entdeckt, dass dort das Riedgras besonders saftig und reichlich wuchs, und nachdem sich Vater die Stelle angeschaut hatte, beschloss er, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Die Schafe hatten sich prächtig entwickelt, an Gewicht zugelegt und waren nun gut auf den bevorstehenden Winter vorbereitet, für den wir sie wieder herunter in die Pferche bringen würden. Vater nutzte unseren Ausflug, um einen Abstecher zur Weide zu machen, und lobte mich für meinen gelungenen Vorschlag. »Du wirst einem Bauern eines Tages eine tüchtige Ehefrau sein, Bethia.« Er meinte es freundlich.
Während wir durch die Wälder ritten, sprach er über Jacob Merry in einer Weise, die ihm ganz unähnlich war, weil er sonst nichts für Klatsch übrighatte. Jetzt jedoch gab er unaufgefordert eine Einschätzung seines Charakters zum Besten und beschrieb, wie der Müller von den anderen in der Siedlung gesehen wurde. »Schon die Ansichten deines Großvaters, die ihn schließlich hierher auf diese Insel brachten, waren im Vergleich zu denen der Kolonisten von Massachusetts Bay gemäßigt, doch die von Merry sind noch deutlich lockerer. Ich will offen zu dir sein, Bethia: Er hat sich mit seinem Verhalten in der Vergangenheit nicht nur Freunde in Great Harbor gemacht. Seine erste Frau starb an der Schwindsucht, als seine jüngsten Kinder erst zwei und drei Jahre alt waren, und die älteren Jungs, wenn ich mich recht erinnere, gerade mal neun und zwölf. Innerhalb von sechs Monaten heiratete er wieder – ein junges Mädchen namens Sofia, die bereits eine ganze Weile als Dienstmagd im Hause arbeitete. Einige haben ihn dafür schief angesehen, aber ich gehörte nicht dazu, denn ich fand, dass diese Kinder eine Mutter nötiger hatten als die Beachtung irgendwelcher Trauerriten. Merry war in England als Sohn eines Müllers aufgewachsen, und so kam es, dass er, als er entdeckte, dass der Fluss, der durch sein Grundstück fließt, reißend genug ist, um ein Mühlrad anzutreiben, diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog und auch keine Skrupel hatte, seine Familie an einen Ort umziehen zu lassen, der so viele Meilen von uns allen entfernt liegt. Ich sage nicht, dass er im landläufigen Sinne ein Rebell oder ein Unangepasster ist. Er ist ein guter und gottesfürchtiger Mensch. Vielleicht aber auch eigenwilliger, als die meisten es für annehmbar halten.«
Wir sahen die Farm bereits aus mehr als einer Meile Entfernung: einen breiten Streifen flachen Landes, das durch sanfte Hügel vom Wind geschützt war und in der Mitte einen flachen, schimmernden Teich hatte. Die Wampanoag, deren Siedlung nicht weit davon entfernt lag – man konnte die Rauchfahnen von ihren Lagerfeuern erkennen –, hatten einen Teil des Landes bereits für den Ackerbau genutzt, bevor Merry ihnen ein Angebot dafür unterbreitete, weshalb es an diesen Stellen bereits gerodet war. Dazwischen stand eine Reihe toter Bäume, die von den Merrys vor über einem Jahr geringelt worden waren, um mehr Licht an die angepflanzten Feldfrüchte zu lassen. Die von ihrer Rinde befreiten Bäume boten einen trostlosen Anblick, doch da Ochsen oder andere Zugtiere, mit denen man Baumstümpfe fortschaffen konnte, bei uns Mangelware sind, gab es keine bessere Möglichkeit, um Ackerland zu schaffen. Merry hatte schon früh geerntet, und zahlreiche Maisbündel standen herum, groß und sorgfältig gebunden. Als wir uns näherten, sahen wir drei Männer – Jacob, Noah und dessen älteren Bruder Josiah –, die sich damit abmühten, aus Granitsteinen, die sie beim Pflügen aus der Erde geholt hatten, eine Mauer zu errichten. Als sie uns sahen, hörten sie sogleich damit auf und kamen fröhlich grüßend auf uns zu.
Ich hatte Noah schon mehr als zwei Jahre nicht mehr gesehen, seit die Familie aus Great Harbor weggezogen war. Aufgrund dessen, was man in meiner Familie über ihn gesagt hatte, wurde ich verlegen, als er mich begrüßte. Doch ich fühlte mich auch bemüßigt, ihn mehr zu beachten, als ich es sonst getan hätte, und beobachtete ihn verstohlen, als wir zum Haus gingen (das in der Tat sehr schön war – mit Sicherheit das schönste Haus auf der ganzen Insel – und sich über zwei ganze Stockwerke und einen Dachboden erstreckte). Noah, sein Vater und sein Bruder zogen ihre schmutzigen Gehröcke aus und hängten sie an eine Hakenleiste. Wir setzten uns in einem großen, sonnigen Raum mit nicht weniger als vier Bleiglasfenstern und, jawohl, einer Holzvertäfelung zu Tisch.
Ich befand, dass Noahs Name Merry – Fröhlich – gut zu ihm passte. Er lachte gern und hatte einen vollen blonden Lockenschopf, den er etwas zu lang trug und deshalb ständig aus dem Gesicht werfen musste, wenn er sprach. Diese Angewohnheit spiegelte die ruhelose Lebendigkeit wider, die er als Mensch ausstrahlte, und als er sich ein Stück von dem ausgezeichneten Mohnkuchen nahm, den seine junge Stiefmutter gebacken hatte, wurde sein munteres Geplauder dadurch ebenso wenig unterbrochen wie das Plätschern des Baches, der direkt vor den Fenstern schimmernd und gluckernd vorbeifloss.
Wir saßen immer noch bei Tisch, als plötzlich zwei junge Wampanoag vor der Tür standen. Jacob Merry erhob sich, hieß sie willkommen und bot ihnen zu meiner großen Überraschung – denn ich hatte gedacht, wir seien die einzige englische Familie, die dergleichen tat – einen Platz am Tisch an, wo Sofia Merry ihnen sogleich Kuchen auf die Teller häufte und jedem einen Krug mit leichtem Bier einschenkte.
Als Teil der Vereinbarung, die bezüglich des Ackerlandes getroffen worden war, konnten die Indianer ihren Mais kostenlos in der Mühle mahlen und einige junge Leute als Lehrlinge dort ausbilden lassen. Merry erklärte, die beiden Burschen seien von ihrem sonquem dazu auserkoren worden, dieses Handwerk zu lernen, »und sie stellen sich recht gut an«, meinte er. Vater nickte zustimmend, als er das hörte. »Eine kluge Entscheidung. Genau so sollten wir weitermachen, während die Siedlung immer mehr über Great Harbor hinauswächst. Wenn die Indianer einen Nutzen daraus ziehen, dass wir hier sind, dann wird unsere Gemeinschaft mit ihnen blühen und gedeihen.« Dann versuchte er, die beiden Burschen, die ein wenig schüchtern waren, in ihrer eigenen Sprache ins Gespräch zu ziehen. Ich lauschte den Schilderungen ihrer Herkunft und der des Dorfes mit halbem Ohr, tat dabei aber so, als sei ich gänzlich in das Gespräch mit Sofia Merry und ihren beiden Stiefsöhnen vertieft.
Auch ich hatte ein Krüglein vor mir stehen, das von der Kälte des Biers ganz beschlagen war, und hob es gerade an meine Lippen, als einer der jungen Männer, dessen Name Momonequem lautete, Vater fragte, ob er zufällig englische Medizin bei sich habe, denn in ihrer Siedlung sei ein Mann erkrankt.
»Er ist keiner von uns. Er heißt Nahnoso, ist der sonquem von Nobnocket und war zu einem Gespräch mit unserem sonquem hier. Wir fürchten, wenn es ihm schlechter geht, werden seine Leute sagen, unser pawaaw habe ihn verzaubert. Unser pawaaw hat versucht, ihn zu heilen, und als es ihm nicht gelang, hat er nach Nahnosos Medizinmann Tequamuck geschickt, den wir für den Mächtigsten unter allen pawaaws halten. Doch trotz allem Tanzen und Singen ist es ihm nicht gelungen, die Krankheit aus seinem Körper zu vertreiben.« In diesem Moment glitt mir der feuchte Bierkrug aus der Hand, zerbrach klirrend, und sein ganzer Inhalt ergoss sich auf dem Boden.
Aufgeregt sprang ich auf und half mit, das vergossene Bier aufzuwischen. Ich hörte Vater zu Momonequem sagen, er habe keine Medizin dabei, außer ein paar Salben und Bandagen, und dass er nicht glaube, bei einem so ernsten Fall behilflich sein zu können.
Da konnte ich nicht mehr an mich halten. »Findest du nicht, du könntest dir den Mann wenigstens anschauen, Vater?«, sagte ich. »Ich bin mir sicher, die Merrys haben die Zutaten für einen Wickel da, falls einer benötigt wird. Und wenn alles nichts nützt, könntest du für ihn beten … Wenn ihm das hilft, könnte das doch, da die Medizinmänner versagt haben, unserer Missionsarbeit förderlich sein.«
Vater antwortete: »Vielleicht kann ich …«, unterbrach sich dann und schaute mich befremdet an. »Bethia, wie kommt es, dass du …« Er blickte zu den Merrys auf und beschloss, dass es nicht an der Zeit war, die Angelegenheit weiter zu verfolgen.
An Momonequem gewandt sagte er, er würde mit ihm kommen und tun, was in seiner Macht stünde. Ich verhielt mich so, als wäre es ganz natürlich, dass ich ihn begleitete, und fragte Sofia Merry, was sie in ihrem Kräuterschrank habe und für mich erübrigen könne. Obwohl ich mich bei meinem Vater verraten hatte, hielt ich es für das Beste, vor den Merrys nicht Wampanaontoaonk zu sprechen, und so bat ich Vater, die beiden Burschen nach den Symptomen zu fragen, die der kranke sonquem an den Tag legte. Sie sagten, er habe Fieber, einen roten Hautausschlag und einen quälenden Husten. Ich nahm deshalb Zwiebeln und Senfsamen, Weidenrinde sowie aus dem Garten ein paar breite Blätter Schwarzwurz und Pfefferminze mit.
Momonequem und sein Freund Sacochanimo hatten jeweils ein mishoon dabei, das sie ans Ufer des Teiches hochgezogen hatten. Diese Kanus bestanden aus geflämmten und anschließend ausgehöhlten Baumstümpfen und waren breit genug, um Säcke mit Mais zur Mühle zu transportieren. Die beiden luden aus, trugen den Mais zur Mühle hoch und bedeuteten uns dann, wir sollten in den nun leeren Booten Platz nehmen. Vater setzte sich etwas unbeholfen in Momonequems Kanu und ich in das von Sacochanimo. Dann setzten sich die beiden Burschen hinter uns und begannen mit raschen Stößen über den großen Teich zu paddeln. Das Wasser war so flach, dass man das bunte Laub am Grund sehen konnte. Bronzefarben und purpurrot leuchteten die Blätter und bildeten ein reich verschlungenes Muster, wie der türkische Teppich, der bei meinem Großvater wärmend auf dem Fußboden lag. Die Burschen paddelten schnell, ohne sich besonders anzustrengen, und hatten die kurze Entfernung zwischen der Farm und ihrer Siedlung binnen kurzem zurückgelegt. Von meinem Kanu aus sah ich das Muskelspiel in den Armen von Momonequem, der mit Vater vorauspaddelte. Sein Paddel versank geräuschlos im Wasser und bildete feine Kräuselwellen, die sich wie kleine Pfeile in Richtung Ufer ausdehnten. Die Wasserschildkröten, die dort in der Nachmittagssonne gedöst hatten, ließen sich langsam ins Wasser gleiten, als wir näher kamen. Momonequem bog scharf um die Kurve und direkt in den Fluss, der den kleinen See speiste und dem wir nun durch hohes Gras hindurch in Richtung der Indianersiedlung folgten.
Dort lagen zahlreiche mishoons am Ufer. Kaum waren wir ausgestiegen, hörten wir bereits die ersten Anzeichen des gottlosen Treibens, das im inneren Kreis der wetus vonstatten ging. Es war eine große Wintersiedlung, etwa fünf oder sechs Mal so groß wie unser Betdorf. Wir gingen den lauten Geräuschen nach.
Man hatte den Kranken auf eine Matte gebettet und sein Gesicht komplett mit Kohle oder schwarzem Ton bemalt. Auf der Erde um ihn herum verteilt lagen alle möglichen Talismane aus Knochen oder Fell, Muscheln, Leder und getrockneten Pflanzen. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann, doch während er in flachen, rasselnden Zügen Luft holte, waren deutlich seine Rippen zu sehen, die aus seinem Brustkorb hervorstachen. Der pawaaw, der sich während der Predigt meines Vaters vor den betenden Indianern am Waldrand gezeigt hatte, war mit hektischen Verrichtungen beschäftigt. Er schrie, sprang auf und nieder, schlug mit dem Fuß auf den Boden und schüttelte dann mit wilden Gesten seine Kürbisrasseln in Richtung Himmel. Schaum stand ihm vor den Lippen wie bei einem Pferd, das zu hart geritten wird, und löste sich in kleinen Bläschen, als er sprang und herumwirbelte und sich schließlich auf die liegende Gestalt stürzte und dabei mit verzerrter Miene so tat, als wollte er sie aufspießen.
Es schien unmöglich, dass jemand ein solches Treiben so lange durchhalten konnte, doch der pawaaw war unermüdlich. Nur ab und zu blieb er stehen, um verstohlen etwas bräunliche Galle hochzuwürgen, griff dann nach einer Kalebasse und stürzte eine Flüssigkeit herunter, die so stark roch, dass ich es sogar von meinem Platz aus wahrnehmen konnte. Er war ein sehr großer Mann, selbst im Vergleich mit den anderen, ebenfalls stattlichen Indianern, und obwohl sein Gesicht bunt bemalt war, erkannte ich, dass es ähnlich vorteilhafte Züge trug wie das seines Neffen. Seine Gebete zeugten von einer Inbrunst, die selbst das frömmste Gebet an unseren wahren Gott, das ich jemals gehört hatte, bei weitem übertraf.
Vater war vollkommen versunken in das Spektakel, das sich uns bot, kehrte dann aber plötzlich wieder in die Wirklichkeit zurück. »Wende dein Gesicht ab, Bethia. Lass Satan sich nicht ergötzen an der Aufmerksamkeit, die du seinen Ritualen schenkst.«
Die Disziplin, die man mich zeit meines kurzen Lebens gelehrt hatte, tat ihre Wirkung, und ich wandte das Gesicht ab. Wann hatte ich mich überhaupt jemals in seiner Gegenwart einem seiner Befehle widersetzt? Doch den Blick von diesem Geschehen abzuwenden, war so schwierig, wie ohne Werkzeug einen Nagel aus einem Brett zu ziehen. Vaters Hand lag auf meinem Rücken, während er mich in Richtung einer der Hütten schob und barsch zu Momonequem sagte, wir würden drinnen warten, bis der pawaaw fertig sei. Danach solle man uns holen, damit wir uns des Kranken annehmen und schauen könnten, was, wenn überhaupt, zu tun sei, um ihm zu helfen.
Die Hütte war ein solider Bau aus Ästen und Rinde, darüber lag ein Fell, das zum Schutz gegen die herbstliche Kühle vor den Eingang gezogen war. Vater hob das Fell ein wenig an und bat um Einlass. Die Stimme einer jungen Frau antwortete höflich. Vater bedeutete mir vorauszugehen, und so bückte ich mich und trat ein. Drinnen war es schummrig, und ich brauchte ein paar Augenblicke, um mich an das mangelnde Licht zu gewöhnen. Es war gut, dass ich als Erste eingetreten war, denn erst in diesem Moment zog sich die Frau eher beiläufig ein Hemd aus Rehleder über die nackten Brüste, ohne dabei große Eile an den Tag zu legen. Sie war nicht viel älter als ich und hatte lange, kräftige Beine und glänzendes Haar, das sie zu einem einzigen, dicken Zopf zusammengebunden und mit Truthahnfedern geschmückt hatte. Sie bedeutete uns, Platz zu nehmen, und ich versank fast in einem dicken Berg aus Fellen, die über Holzbänken ausgebreitet waren. Es war warm in der Hütte, und die Rinde verströmte einen schwach süßlichen Duft nach Harz.
Sie bot uns einen Brei aus gestampftem Mais an, den wir mit den Händen aus einem gemeinschaftlichen Topf verzehrten. Ihre Herdstelle war klein, und der Rauch zog direkt aus einem Loch in der Rindendecke ab. Draußen hing eine Art verstellbares Segel, durch das man den Rauch ableiten und Regen abhalten konnte. Trotz des schummrigen Lichts sah ich Vaters harten, unnachgiebigen Blick auf mir ruhen, während ich mir eine Handvoll Maisbrei nach der anderen in den Mund schob. Da ich wusste, dass mir ein Tadel sowieso nicht erspart bleiben würde, beschloss ich, die Katze gleich aus dem Sack zu lassen. Ich wandte mich an die junge Frau und dankte ihr höflich auf Wampanaontoaonk, woraufhin sie zusammenzuckte und einen Schrei der Überraschung von sich gab. Mit einem Auge auf Vater gerichtet, erklärte ich ihr, ich hätte ihre Sprache gelernt, während ich dem Unterricht meines Vaters bei Iacoomis lauschte. Auf Englisch fügte ich dann noch hinzu: »Bitte sei mir nicht gram, Vater. All die vielen Wintermonate am Herdfeuer, als ich noch klein war – ich konnte meine Ohren einfach nicht verschließen.«
Ich weiß nicht, was Vater geantwortet hätte, denn in diesem Moment betrat der sonquem zusammen mit einigen älteren Männern seines Stammes die Hütte. Als ich aufschaute, fiel mir fast der Brei von den Fingern. Einer der Männer sah Caleb so ähnlich, dass ich einen glücklichen Moment lang dachte, er sei es, endlich zurückgekehrt von seiner Prüfung in der Wildnis. Doch ein zweiter, genauerer Blick zeigte mir, dass es mit der Ähnlichkeit doch nicht ganz so weit her war. Das hier war das Gesicht eines Mannes, nicht eines jungen Burschen, verwittert und verhärtet durch so manches Jahr, das er älter war. Mir fiel ein, dass er wohl der ältere Bruder sein musste, von dem Caleb gesprochen hatte: Nanaakomin, der pflichtbewusste Sohn und bevorzugte Erbe ihres Vaters Nahnoso. Da seine ganze Aufmerksamkeit auf meinem Vater lag, hatte ich die Möglichkeit, mir seine Gesichtszüge genauestens anzuschauen und sie mit denen zu vergleichen, die mir mit der Zeit so vertraut, ja lieb geworden waren. Nanaakomins Augen waren wachsam und intelligent wie die seines Bruders, doch sie waren auch dunkler und undurchdringlicher und seine Lippen voller und sinnlicher.
Die junge Frau bedeutete mir, sie und ich sollten hinausgehen, damit die Männer sich mit meinem Vater besprechen konnten, und das taten wir auch. In der Siedlung war es ruhiger geworden. Man hatte den Kranken in den Schutz eines Zeltes gebracht. Nur der pawaaw war in dem inneren Kreis der wetus zurückgeblieben. Er lag da, mitten im Staub, erschöpft oder in eine Art verzücktes Gebet versunken, das war nicht genau zu erkennen. Jedenfalls schienen sich die Leute aus der Siedlung bewusst von ihm fernzuhalten, und die Frau neben mir wandte das Gesicht ab, um ihn nicht anzuschauen. Ich spürte, dass sie Angst hatte. Rasch ging sie vorbei und verschwand in irgendeiner anderen Hütte. Niemand war mehr draußen. Der pawaaw lag ganz allein dort draußen, umgeben von seinen Zaubermitteln, die niemand sonst zu berühren wagte. Auf leisen Sohlen, so wie Caleb es mir beigebracht hatte, näherte ich mich ihm. Seine Augen waren weit geöffnet, wirkten jedoch glasig und blicklos. Die kleine Kalebasse, aus der er getrunken hatte, stand aufrecht nur ein paar Zoll von seinem seltsam ausdruckslosen Gesicht entfernt.
Und nun komme ich zu dem Punkt, an dem ich mein Verhalten nicht mehr rechtfertigen kann, es sei denn, ich würde sagen, Satan habe die Macht über mich errungen. Denn ich ging zu jener Kalebasse hinüber und schaute hinein. Sie enthielt die Reste eines grünlichen Gebräus, dessen Dämpfe so stark waren, dass sie einem in der Nase brannten. Ich ahnte, worum es sich handelte. Es war ein Sud aus der Wurzel der weißen Nieswurz, von dem Makepeace gesprochen hatte – der giftige Pfad zu seherischen Fähigkeiten. Ich schaute mich rasch um, ob mich jemand beobachtete, doch außer mir war weit und breit nur noch der pawaaw zu sehen, der besinnungslos und entkräftet an seinem Platz lag.
Ich hob die Kalebasse. Meine Hand zitterte. Ich stellte sie wieder ab und wollte weggehen, doch ich konnte nicht. Stattdessen nahm ich das Gefäß und zog mich damit rasch in den Schutz eines Dickichts zurück. Hier stellte ich es erneut ab, überlegte. Es war nicht mehr viel Flüssigkeit vorhanden. Makepeace hatte gesagt, die Leute verstünden sich sehr genau darauf, eine Dosis herzustellen, die nicht giftig sei. Was machte es schon, wenn ich einmal probierte, wie es schmeckte? Was konnte es schaden? Vielleicht würde ich ja einen Gewinn daraus ziehen. Ich sehnte mich danach, noch einmal die fromme Verzückung zu erleben, die sich damals bei den Klippen meiner bemächtigt hatte.
Ich hob das Gefäß an meine Lippen und nahm einen Schluck. Zuerst war der Geschmack auf meiner Zunge ganz süß, weshalb ich die Kalebasse kippte und alles trank, was noch darin war, bis zum letzten Tropfen. Einen Moment später brannten mein Mund und meine Kehle wie Feuer. Und schließlich kam ein bitterer Nachgeschmack. Mir wurde übel, am liebsten hätte ich mich übergeben. Ich stellte das Gefäß auf den Boden und rannte zum See zurück, wo ich auf die Knie fiel und mir mehrere Hände voll Wasser in den Mund schaufelte, doch jene klare, süße Flüssigkeit hätte ebenso gut Gallustinte sein können, so wenig Erleichterung brachte sie mir. Bald darauf konnte ich meine Zunge nicht mehr spüren, denn sie war taub geworden. Ich merkte, wie meine Knie nachgaben, als hätte mir jemand von hinten einen kräftigen Schlag versetzt. Ich sank am See zusammen.
Die Zeit verlangsamte sich. Ich spürte das Blut in meinem Kopf pulsieren. Jeder Atemzug war anstrengend und wurde immer langsamer, immer keuchender. Auch mein Blut schien träger zu fließen, bis ich das Gefühl hatte, zwischen einem Herzschlag und dem nächsten vergingen Welten. Ich versuchte, die Hand zu heben, doch Gedanke und Tat waren zweierlei. Meine Hand wog so schwer wie ein Amboss. Während sie sich bewegte, schien sie Spuren von sich im Raum zu hinterlassen, viele einzelne Hände, die in die Luft emporstiegen. Ich hob die Hand an meine brennenden, geschwollenen Lippen, doch in meinen Fingern war kein Gefühl, und so spürte ich mein Gesicht nicht.
Die Sonne stand tief am Himmel, sie setzte die Baumwipfel in Brand und spiegelte sich in zahllosen roten Blitzen auf dem See wie lodernde kleine Fackeln. Und dann, ganz plötzlich, stand der See in Flammen. Die Feuerzungen waren keine Spiegelungen mehr, sondern richtige kleine Flammen, die sich blitzschnell auf der Wasseroberfläche ausbreiteten. Dann verschmolzen sie zu einer breiten Feuerwand, die aufloderte und brüllend die Gestalt von Riesen annahm, deren verbrannte Haut schimmerte wie glühende Kohle. Ich barg den Kopf in meinen Armen, aber die Visionen bahnten sich dennoch einen Weg durch meine geschlossenen Lider. Es gab einen schrecklichen Lärm: Donnerrollen und ein gewaltiges Krachen, als würde sich gleich die Erde unter mir auftun. Ich begann zu beten, doch die frommen Worte wollten mir nicht über die geschwollene Zunge kommen; nur grobe, kehlige Laute, deren Bedeutung ich nicht kannte. Jetzt war der Geschmack in meinem Mund metallisch, warm und klebrig wie geronnenes Blut. Das Blut Christi. Nein, das nicht. Kein heiliger Wein aus Satans Kelch. Das war das Blut von irgendeinem dämonischen Opfer; von irgendeinem armen Unschuldigen, der, aufgespießt auf des Teufels Dreispitz, verblutet war. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Schädel gespalten, so grässlich war der Schmerz, der mir durch den Körper fuhr.
Wenn es hier eine Macht gab, dann nicht für mich. Das hier war die verbotene Frucht, nichts anderes. Aufzustehen schien mir unmöglich, und doch stand ich plötzlich auf beiden Beinen und lief so schnell wie ein Waldgeist, umrundete Büsche und Baumstümpfe mit einer Behändigkeit, die ich kaum für möglich gehalten hätte. Ich rannte und sprang, bis ein Krampf meinen Leib erfasste und ich auf die Knie fiel, mir den Bauch hielt. In diesem Moment hoffte ich, den Trank hochwürgen und damit loswerden zu können. Dort, in meinem Inneren bewegte sich etwas Hartes, Rundes, das gegen meinen Leib drückte. Ich fasste hinab. Nass, schleimig. Ein gehörnter Kopf, ein gespaltener Huf. Des Teufels Brut, die sich aus meinem zerfetzten Fleisch erhob. Ganz langsam drückte sie sich aus mir heraus, eine blutige Kralle, die meine zerfleischten Muskeln packte, sich durch feucht glänzende, pochende Eingeweide emporwand. Ledrige kotbesudelte Fänge. Sie beugten und streckten sich, strichen mir übers Gesicht. Ich schlug mit beiden Armen nach dem Tier. Die gottlose Kreatur breitete die Flügel aus und gab den Gestank der Verdammnis und der Fäulnis von sich – den Duft des Todes, nicht der Geburt. Sie erhob sich in den zerrissenen Himmel, aus dem leuchtend weiße Pfeile auf mich herabfielen und mich in Brand setzten. Ich sah dabei zu, wie mein brennendes Fleisch Blasen warf und zerrann, wie es von meinen verkohlten Gebeinen fiel, bis mir die Augäpfel, in der Hitze geschrumpft wie getrocknete Erbsen, aus den Höhlen rollten. Dann sah ich nichts mehr.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich am See im Gras. Nur wenige Minuten waren vergangen, denn die Sonne war gerade erst hinter den Hügeln westlich des Sees versunken. Das Abendrot, rosa und lila, tauchte alles in ein gütiges Licht. Ich schaute meine Arme an, die wohlbehalten und gesund aussahen, und meinen Leib, der zart, aber gewiss nicht aufgerissen war. Es stank, wozu mein Auswurf, der leicht dampfend im Gras lag, ein Übriges tat. Ich nahm mir eine Handvoll Sassafras-Blätter, um mir den Mund abzuwischen. Während ich aufstand, bemerkte ich etwas Feuchtes und musste voller Entsetzen feststellen, dass ich meine Kniehose beschmutzt hatte. Angewidert zog ich sie aus, wickelte sie um einen Stein und warf sie weit weg in die Bäume. Meine Hände zitterten. Ich kniete nieder, holte tief bebend und schluchzend Luft, und dann bat ich Gott um Vergebung. Doch ich rechnete nicht mit seiner Barmherzigkeit.
Eines Tages, als mein Großvater dachte, ich hörte nicht zu, hatte er meinem Vater von einem schrecklichen Fall erzählt, der auf dem Festland vor Gericht gekommen war. Eine Frau hatte ihr eigenes Kind in einen Brunnen geworfen. Als man sie nach den Gründen für den Mord fragte, hatte sie gesagt, ihre böse Tat habe ihr Gutes, denn nun sei sie endlich frei von einer Ungewissheit, die sie lange Zeit und jede wache Minute hindurch gequält habe: Gehörte sie nun zu den Verdammten oder zu den Geretteten? Ihr ganzes Leben hatte sich um diese Frage gedreht. Und nun habe sie endlich die Antwort.
Als ich zu den wetus zurücktaumelte, um auf Vater zu warten, dachte ich an diese Frau. Nun hatte auch ich auf meiner Suche nach fremden Göttern meine Antwort erhalten. Doch statt mich zu bedrücken, verschaffte mir dieser Gedanke bemerkenswerterweise eher ein seltsames Gefühl der Leichtigkeit, so wie es vermutlich jedem ergeht, der zu einer Gewissheit gelangt, ganz gleich, wie bitter sie ist. Damals wusste ich nicht, dass Gott nicht bis zum Leben nach dem Tode warten würde, sondern wie ein rächender Blitz in meine Welt hinabfahren würde, um mich für meine Sünde zu bestrafen.